Vom Nachttisch geräumt

Die hohe Kunst des Gekritzels

Von Arno Widmann
01.08.2018. Am Anfang aller Kunst steht das Gekritzel - das lernt man in der Ausstellung "Lektüre - Bilder vom Lesen und vom Lesen der Bilder" von Cy Twombly und Rilke.
"Lektüre. Bilder vom Lesen - Vom Lesen der Bilder" ist der Titel einer Ausstellung im Franz Marc Museum in Kochel am See. Sie ist noch geöffnet bis zum 23. September. Ich habe sie nicht gesehen. Aber es ist auch der Titel eines Buches. Das habe ich betrachtet und gelesen. Texte von u.a. Ingeborg Bachmann, Walter Benjamin, Wladimir Nabokov, Marcel Proust,  Rainer Maria Rilke, Jean Paul Sartre, Kurt Tucholsky. Bilder u.a. von Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Paul Klee, August Macke, Franz Marc. Aber auch Henri Cartier-Bresson, Pierre Klossowski, Jean-Etienne Liotard, Pablo Picasso und Cy Twombly.

Von letzterem "Orpheus" von 1979: Öl, Kreide, Bleistift auf Karton, 100 x 149 Zentimeter. Wer Cy Twomblys Arbeiten nicht kennt, der überblättert die Doppelseite womöglich. In der Ausstellung wird niemand daran vorbeigehen. Aber im Buch ist das Bild unscheinbar. Ein paar Buchstaben verteilt über eine weiße Fläche. Unten ein Text: "O du verlorener Gott! Du unendliche Spur!..." Man blickt noch einmal nach oben und zieht jetzt die Buchstaben zusammen und liest endlich: Orpheus. Man beginnt, die Farben zu sehen. Die blaue Zeile lässt sich nicht entziffern. O und R - in griechischen Buchstaben - wie aus Rost. Das Bild steigt auf aus der Leere. Dann - auch im Buch nicht zu übersehen - ebenfalls von Cy Twombly titelloses Kreidegekritzel, entstanden 1969 in Rom. "Gekritzel" - wer das negativ versteht, hat es nicht verstanden. Ihm sei der Beitrag von Ulrich Raulff empfohlen, des ehemaligen Direktors des Deutschen Literatur Archivs in Marbach, der im März zum neuen Präsidenten des Instituts für Auslandsbeziehungen ernannt wurde.

Cy Twombly, Ohne Titel (Roma), 1969. © Sammlung Speck, Köln

Raulff schreibt übers "Gekritzel". Es sind zwei betörende Seiten. Wie er jeden seiner präzisen Sätze überschreibt mit einem anderen präzisen Satz, wie er den einen oder anderen von ihnen durchstreicht und so ein Gekritzel entstehen lässt, in dem alles klar und unklar zugleich ist. Es ist auch eine Reflexion über das Gekritzel als Anfang, als Ursprung von Malerei und Schrift, zu dem wir alle zurückkehren, wenn wir den Stift nicht mehr halten können.

Viele Maler, manche Autoren müssen sich, bevor sie anfangen, erst einmal einkritzeln. Wie, so sagt Raulff, sich ein Orchester einstimmt, bevor es mit der Musik beginnt. Wer jemals auf einem Sitar-Konzert war, der weiß, dass dort niemand sagen kann, wann die Musik beginnt. Es gibt dort keine klare Grenze zwischen Gekritzel und Text. Eine Welt der Übergänge. Die Schönheit des Raulffschen Textes besteht in der Kunst, auch das, was er "clare et distincte" vorträgt, als Übergang sichtbar zu machen. Er zitiert Rilkes Verse aus der 8. Duineser Elegie: "Wir ordnens. Es zerfällt./ Wir ordnens wieder und zerfallen selbst."

Raulff lässt das einleitende "Uns überfüllts" weg. Das ist schade, denn bei dieser Art von Ordnungschaffen geht es nicht um die Herrschaft des Ichs über die äußere Welt, sondern es geht darum, dass das Ich schon zu viel ist und dass man, wenn man glaubt, es in Ordnung zu bringen, man seine Ordnung zerstört.

Der Wunsch des Künstlers, vom Gekritzel überzugehen zum Werk, ist stark. Aber Twombly ist stärker. Er bleibt beim Gekritzel. Immer wieder, und es wird immer schöner, immer klarer, und am Ende liest der Betrachter noch einmal das 26. Rilke-Sonette an Orpheus. Und dann wird das Gekritzel so klar, so überscharf deutlich, dass der Betrachter des Bildes von Twombly sich schämt für seine Dummheit. Rilkes Sonett entstand wohl mitten in den Bürgerkriegen nach dem ersten Weltkrieg. Es geht im Gedicht wie im Bild um Ordnung und Zerstörung, um Zerfall und Aufbau. Die Schönheit von Twomblys Bild wächst aus den auseinander gerissenen Buchstaben. Sie ist erst möglich nach der Vernichtung. Twombly führt vor, wovon Rilke spricht. Er stupst den Betrachter mit der Nase darauf: die Buchstaben, die der Betrachter sich zusammensetzt, wiederholen, bilden ab, was Rilke in den letzten Zeilen des Gedichts schrieb.

Du aber, Göttlicher, du, bis zuletzt noch Ertöner,
da ihn der Schwarm der verschmähten Mänaden befiel,
hast ihr Geschrei übertönt mit Ordnung, du Schöner,
aus den Zerstörenden stieg dein erbauendes Spiel.

Keine war da, dass sie Haupt dir und Leier zerstör.
Wie sie auch rangen und rasten, und alle die scharfen
Steine, die sie nach deinem Herzen warfen,
wurden zu Sanftem an dir und begabt mit Gehör.

Schließlich zerschlugen sie dich, von der Rache gehetzt,
während dein Klang noch in Löwen und Felsen verweilte
und in den Bäumen und Vögeln. Dort singst du noch jetzt.

O du verlorener Gott! Du unendliche Spur!
Nur weil dich reißend zuletzt die Feindschaft
verteilte, sind wir die Hörenden jetzt und ein Mund der Natur.

Lektüre - Bilder vom Lesen und vom Lesen der Bilder, hrsg. Von der Franz Marc Museumsgesellschaft, Schirmer/Mosel, München 2018, 172 Seiten, 81 Farbtafeln, 39,80 Euro