Vom Nachttisch geräumt

In sich selbst abbilden

Von Arno Widmann
02.07.2018. Anselm Kiefers mimetische Impulse, zu betrachten in einem Band mit 110 Arbeiten von 1970 bis heute.
Bei Schirmer/Mosel ist ein neuer Band über Anselm Kiefer erschienen. Autor ist Heiner Bastian. Gleich zu Beginn wird erinnert an Anselm Kiefers frühe Hitler-Gruß-Aktion. Bastian schreibt: "1969 wendet sich Anselm Kiefer gegen die praktizierte konsensuelle Kunst der Gegenwart, die Flucht in die Abstraktion. Er ist 24 Jahre alt, als er sich im Sommer auf eine denkwürdige Fahrt durch europäische Länder begibt, eine Reise zurück in die jüngste deutsche Geschichte. Der Künstler nennt den Aufbruch am Rhein, die Aufenthalte in Bellinzona, in Sète und Arles, in den Ruinen des Kolosseums und am Rande des Vesuvkraters symbolisch 'Besetzungen'. Anselm Kiefer lässt sich in pseudomilitärischen Kleidern und nationalsozialistischem Hitlergruß fotografieren."

Eine etwas schnell erzählte Geschichte. Warum führt Kiefer die Flucht aus der Flucht in die Abstraktion zum Führer? Wäre es ganz verkehrt, die Geschichte eher umgekehrt zu erzählen: Die "Besetzungen", der Nationalsozialismus faszinierten den jungen Mann so sehr, dass er raus musste aus der Abstraktion? Es ging Kiefer ja nicht darum, sich mit dem NS auseinanderzusetzen. Es ging ihm darum, sich in ihn zu versetzen, ihn sich einzuverleiben, ihn zu verkörpern.

Anselm Kiefer, Für Velimir Chlebnikow: Seeschlachten, 2016. Foto: © Charles Duprat, Paris / courtesy Schirmer Mosel


Kunst, so haben wir bei den Klassikern gelernt, ist Nachahmung. Adorno sprach vom "mimetischen Impuls". Kiefers Aktion gibt diesem Impuls nach, gestaltet ihn theatralisch. Wenn ich richtig sehe, handelt es sich nicht um "pseudomilitärische Kleider", in denen er seine "Besetzungen" theatralisch inszeniert, sondern um einen Gehrock, also geradezu das Symbol bürgerlicher, ziviler Zucht. Bastian zitiert Anselm Kiefer, der 2008 so über seine "Besetzungen" sprach: "Ich wollte für mich selbst herausfinden, ob Kunst nach dem Faschismus überhaupt noch möglich ist. Ich wollte hinter dem Erscheinungsbild Faschismus, hinter seiner Oberfläche, erkennen, was der Abgrund Faschismus für mich selbst bedeutet, denn die Geschichte ist ja Teil jeder Wirklichkeit, auch meiner Selbstfindung... ich wollte das Unvorstellbare in mir selbst abbilden…"

Das ist das Problem mit dem Unvorstellbaren - es lässt sich nicht abbilden. Die europäische Kunst war immer zu einem Gutteil damit beschäftigt abzubilden, was sich nicht abbilden ließ: Gott, das Heilige. Der Hitlergruß war so wenig unvorstellbar wie eine junge Mutter mit einem Baby auf dem Arm. Wie diese für das Geheimnis der Menschwerdung Gottes stand, so sollte der Hitlergruß für - ja, für was stehen? Für den Anspruch der Herrenrasse, zu der Anselm Kiefer ja gehörte? Für die Ermordung von Abermillionen Menschen? Zum mimetischen Impuls gehört, dass er nicht weiß, was er tut. Er ist keine Antwort, sondern ein Verfahren, auf Antworten zu kommen. Manchmal, wenn mir ein Wort nicht einfällt, mache ich eine Bewegung, die beschreibt, was ich meine, und dann stellt sich das Wort ein. So ähnlich, stelle ich mir vor, inszenierte Kiefer seine "Besetzungen".

Nachahmungen haben stets auch etwas Parodistisches. Wer den Ernst der Sache des Menschentums Gottes vor Augen hat, findet es anstößig, dass Caravaggio Prostituierte als Maria hat posen lassen. Radikalen Theologen dagegen kommt das gerade entgegen. So betrachtet man Anselm Kiefers "Heroische Sinnbilder", so nannte er die "Besetzungen" 1970, etwas ratlos. Man spürt den Ernst, und man sieht zugleich das Lächerliche an dem kleinen Menschen, der sich da mit ausgestrecktem Arm in große Landschaften stellt. Da steht einer ganz allein und spielt "Besetzungen". Der Führer war Führer. Er hatte ein Volk hinter sich. Kiefers "Besetzung" ist die Tat eines einsamen Künstlers, eines traurigen Clowns. Aber man kann sich die Bilder nicht ansehen, ohne an die Machträusche der Kunst zu denken, an dieses "hast Du nicht alles selbst vollendet" und gleichzeitig an die Komik, die darin liegt.

"Ich wollte das Unvorstellbare in mir selbst abbilden", sagt Kiefer. Als ich das las, erinnerte ich mich an einen jungen Mann - wir waren 16 Jahre alt -, der damals auch gerne den Hitlergruß zeigte. Er tat das ganz ernst, dann lachte er. Er wollte etwas ausprobieren. Was das war, wusste er nicht. Wir wussten es auch nicht. Er war dann, soweit ich weiß, Jahrzehnte ein überzeugter Gegner des Nationalsozialismus, er war Mitglied der SPD. Vergangenes Jahr ist er Mitglied der AfD geworden. Ich weiß nicht, wie er heute, wenn er in sich hinein blickt, zum Nationalsozialismus steht, aber mir kommt der Gedanke, dass Bildung weniger das ist, womit wir gefüttert werden, sondern viel mehr aus dem besteht, was wir wie in uns selbst abbilden. Das gilt für Künstler, aber eben auch für uns alle.

Anselm Kiefer: Bilder/Paintings - Die maßgeblichen Gemälde von 1970 bis heute, edited bei Heiner Bastian, Schirmer/Mosel, München 2018, Deutsch/Englisch, 248 Seiten, 110 Abbildungen in Farbe, 128 Euro
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