Vom Nachttisch geräumt

Der Lauf der Welt

Von Arno Widmann
28.10.2019. Ob der Mensch schlechthin von unten her sei? Darüber stritt man im Materialismus-, im Darwinismus- und im Ignorabimus-Streit.
Über den Ignorabimus-Streit informiert der gleichnamige 2012 im Verlag Felix Meiner erschienene Band. Er bringt nichts von Haeckel, sondern u.a. Beiträge von Emil du Bois-Reymond, Eduard von Hartmann, Friedrich Albert Lange, Wilhelm Dilthey, Wilhelm Ostwald und Walther Rathenau. Dessen glänzend geschriebener Beitrag nimmt du Bois-Reymonds Resignation als Eingeständnis, dass die Naturwissenschaft an ihre Grenzen gekommen sei, dass jetzt wieder andere Fragestellungen auf die Tagesordnung zu stellen seien. Nichts falscher als seine Bemerkung: "Kommt es einstmals dahin, dass die atomistische Zergliederung der Naturvorgänge widerspruchsfrei und lückenlos vollendet ist, so wird sich im Laufe der Welt nichts ändern." (Die Zukunft, 19.3.1898) Tatsächlich befand sich die Naturwissenschaft damals nicht am Ende ihrer Entwicklung, sondern vor einer völligen Neuorientierung durch Relativitätstheorie und Quantenphysik, die unser Leben und den Lauf der Welt tatsächlich gewaltig verändert haben.

Kurt Bayertz, Myriam Gerhard und Walter Jaeschke gaben nicht nur den "Ignorabimus-Streit" bei Meiner heraus, sondern auch den "Darwinismus-Streit und den "Materialismus-Streit". Auch diese Auseinandersetzungen prägten das 19. Jahrhundert und sie haben im 21. Jahrhundert noch lange nicht aufgehört, ihre Rollen zu spielen. Der in diesem Band vorgestellte Materialismus-Streit, eher ein Kampf "gegen die Seuche des Materialismus", spielt in den 1850er Jahren, danach kommt die Auseinandersetzung um Darwin und zuletzt der Ignorabimus-Streit. Es geht dabei um unterschiedliche Aspekte derselben Geschichte. Man lese in Ludwig Feuerbachs Aufsatz "Die Naturwissenschaft und die Revolution" vom 9. November (noch ein 9. November!) 1850: "Der selige Minister Eichhorn gab einmal der Königsberger Universität die gnädige Versicherung: dass die königliche Regierung zwar keine mit ihren Grundsätzen in Widerspruch stehenden Religions- und Staatslehren dulden könne, dass sie aber nicht im entferntesten daran denke, mit dieser Beschränkung der philosophischen Wissenschaften auch die Naturwissenschaften beschränken zu wollen."

Das ist der Kampfplatz, das sind die Kontrahenten. Die Vorstellung, man könne an den biblischen Texten ("Gottes Wort") festhalten und gleichzeitig an den neuen Einsichten der Naturwissenschaften, ist zwar irre, aber offenbar nicht totzukriegen. Allerdings trifft dann jeder auch für sich die Entscheidung, welches der Gottesworte wirklich Gottes Wort ist. Oder wie es zu verstehen sei. Nur wenige bekennen sich heute noch zur Deduktionslogik: Wenn Gott allmächtig ist, dann kann er als Jesus auch übers Wasser gehen. Ist die Natur erst einmal geschaffen, dann gelten ihre Gesetze auch für ihren Schöpfer. Da ist kein Wurmloch, durch das er aus der Raumzeit austreten könnte. Nein, das sind alles Wörter, die im Materialismus-Buch nicht vorkommen. Davon wusste das 19. Jahrhundert noch nichts.

Friedrich Fabri (1824-1891), evangelischer Theologe und lange Leiter der Rheinischen Mission in Barmen, erklärte in einer seiner Vorlesungen, die 1864 in seinen Briefen gegen den Materialismus erschien, über den Darwinismus: "Könnte es bewiesen werden, dass der Mensch schlechthin von unten her sei, das zufällige Produkt eines willkürlichen Spieles materieller Kräfte, so wäre dem Christentum die Axt an die Wurzel gelegt. Aber nicht nur das, auch die Grundlage aller Sittlichkeit, der gesamte soziale Bestand der Menschheit, aller Fortschritt in Wissenschaft, Kunst und allgemeiner Kultur wäre erschüttert und für immer gehemmt."

Es war genau umgekehrt. Die Fabris standen dem Fortschritt im Wege. Man kann daraus lernen, dass die jeweils erreichte Balance der verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte nicht die einzig mögliche ist. So sehr auch alles mit einander zusammenhängt, es ist doch auch sehr flexibel und das Ganze bricht noch lange nicht zusammen, weil Teilstücke ausgebrochen werden. Die enge Verbindung von Thron und Altar, von Protestantismus und Staat hatte die beiden doch nicht in ein nur miteinander blühendes oder miteinander untergehendes Ganzes verbacken. Staat und Gesellschaft waren nicht auf die Lehre angewiesen, dass ein Schöpfer die Welt und sie geschaffen hatte. Wikipedia schreibt zu Fabri: "Vor dem Hintergrund der Revolution von 1848 vertrat er die These, dass durch die Deportation von deutschen Arbeitern, die an revolutionärem Gedankengut festhielten, in deutsche Siedlungskolonien die soziale Frage, d. h. die Verelendung und Übervölkerung im Deutschen Reich, gelöst würde."

Der Materialismus-Streit, Der Darwinismus-Streit, Der Ignorabimus-Streit, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2012, hrsg. von Kurt Bayertz, Myriam Gerhard, Walter Jaeschke, pro Band 19,80 Euro.