Vom Nachttisch geräumt

Schon wieder nichts als Abendland

Von Arno Widmann
20.11.2018. Die schönsten Bibliotheken der Welt, verspricht uns der Taschen Verlag mit einem opulenten Bildband von Massimo Listri. Aber die Welt ist so viel größer als hier gezeigt.
Ein über die Maßen prächtiger Band. Wie wir das von Taschen gewöhnt sind. Aufnahmen aus 55 der angeblich "Schönsten Bibliotheken der Welt" auf 560 großformatigen Seiten. Eine untragbare Opulenz. Ich las den Wälzer im Büro. Der Band lag aufgeschlagen auf dem Stuhl eines abwesenden Kollegen, und ich beugte meinen krummen Rücken über ihn, als wollte ich ein "bucklicht Männlein" werden.

Ich las den Band erst nicht, sondern blätterte ihn durch. Notierte mir, wie langweilig all diese unbenutzten prächtigen Barocksäle aussahen und wie abstoßend die Gitter vor den Büchern wirkten. Präsenzbibliotheken, die nur noch zum Anschauen da zu sein schienen. Eine schöne Bibliothek ist in meinen Augen, dachte ich, eine Bibliothek, in der Menschen nicht nur sitzen und lesen und schreiben, sondern in der sie nach Büchern suchen. Ohne Leben gibt es, schoss mir durch den Kopf, keine Schönheit. Was auf dem schweren Glanzpapier dieses Buches festgehalten wird, sind die geschminkten Leichname von Bibliotheken.

Real Gabinete Português de Leitura, Rio de Janeiro, Brasilien. Foto: © Massimo Listri/Taschen


Es gibt ein paar Ausnahmen. Zum Beispiel die Biblioteca Nazionale Marciana in Venedig. Aber dort wirkt das in den alten Raum hineingezwängte Mobiliar nicht belebend, sondern es macht alles hässlich. Früher waren die Räume wahrscheinlich auch vollgestellt und die darin sich tummelnden Menschen werden auch winzig gewirkt haben. Einen der Räume mochte ich. Ein riesiger, gewaltig hoher Saal mit Buchregalen an den Wänden. Aber vorne stand ein großer Tisch, an den ich mich gerne gesetzt hätte. Es gibt Bilder, in die man hinein gehen möchte. So ging es mir mit diesem Raum. Es ist einer der Säle der Biblioteca Statale Oratoriana di Girolamini in Neapel. Seit ihrer Gründung 1586, heißt es in einem der Texte - denen ich mich jetzt doch zuwandte - sei es eine der Öffentlichkeit zugängliche Bibliothek. Zu ihren Schätzen gehören Manuskripte von Boccaccio und Giambattista Vico. Es gibt sehr viele Originalpartituren dort. Auch von Alessandro Scarlatti.

Aber als ich las, dass Giambattista Vico in dieser Bibliothek seine "Scienza Nuova" schrieb, da sah ich den Tisch, an den ich mich hatte setzen wollen, mit ganz anderen Augen. Aber der Tisch stammt nicht aus dem 18. Jahrhundert. Er ist jüngeren Datums. An ihm ist nicht die "Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker" entstanden, einem Buch, das man als die Gründungsurkunde der Soziologie betrachten könnte. Aber irgendwo hier saß der Mann, der seiner Zeit so weit voraus war, dass sie ihn übersah.

Superlative sind außerhalb des Sports fast immer unsinnig. "Die schönsten Bibliotheken der Welt" ist dagegen einfach gelogen. 17 der 55 stehen in Italien, acht in Deutschland und sieben in Österreich, fünf in Frankreich. England ist gerade mal mit zwei Bibliotheken vertreten, die USA mit einer. Es handelt sich ausschließlich um Bibliotheken der westlichen Welt. Die Bibliotheken der islamischen Welt, die Indiens und Chinas, Japans und Koreas kommen nicht vor. Die Welt - das ist mal wieder das christliche Abendland. Viele der im Buch gezeigten Bibliotheken waren sogenannte Universalbibliotheken. Das Buch bietet, trotz der prachtvollen Aufnahmen Massimo Listris, nicht, was der Titel verspricht, sondern eine gerade mal eine Provinzposse des Themas.

Massimo Listri: Die schönsten Bibliotheken der Welt, Taschen Verlag, Texte in Englisch, Deutsch und Französisch von Georg Ruppel und Elisabeth Sladek, 29 x 39,5 cm, 560 Seiten, mit zahlreichen vierfarbigen Aufnahmen, 150 Euro.