Vom Nachttisch geräumt

In der Gegenwart des ganzen Volkes

Von Arno Widmann
20.11.2018. Lehrt uns die Dynamiken und Ungleichzeitigkeiten der Geschichte: Chris Wickhams Band über das Mittelalter.
Fünfhundert Seiten für die tausend Jahre zwischen 500 und 1500. Fürs Mittelalter also. Das ist ja seit langem, allerspätestens seit Umberto Ecos 1980 erschienenem Roman "Der Name der Rose", ein das Publikum besonders interessierender Aufenthaltsort für Krimis, Fantasy usw. Ich bezweifle, dass Sachbücher da auch nur von ferne mithalten können. Der 1950 geborene Chris Wickham lehrte bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2016 am All Souls College in Oxford Geschichte des Mittelalters. Vor ein paar Monaten erschien das jüngste Werk des marxistischen Historikers "Das Mittelalter - Europa von 500 bis 1500" - als erstes seiner Werke - auf Deutsch. Das Buch verbindet fortschreitende Geschichtserzählung mit einem klaren Blick für Strukturen und die Momente ihrer Veränderung. Wer Wickham liest, der begreift, dass man eine Gesellschaft nur versteht, wenn man weiß, worin in einer Gesellschaft der Reichtum besteht und wie er produziert und verteilt wird.

Damit ist natürlich die Frage verbunden, wer die Macht wie ausübt. Der von Wickham beschriebene Zeitraum ist darum besonders interessant, weil in ihm sich alles mehrfach verschob. Man erfährt etwas von den Dynamiken der Geschichte. Auf diesem Weg stößt man auf gewaltige Ungleichzeitigkeiten, die jede summierende Betrachtung unmöglich machen. Auf dem Boden zum Beispiel des weströmischen Reiches entstehen seit dem 5. Jahrhundert Nachfolgestaaten, die "stärker aufgesplittert, strukturell schwächer und wirtschaftlich weniger Komplex" waren. Im oströmischen Reich dagegen änderte sich erst einmal nur wenig. 500 ist dort keine Scheidelinie. Als dann 1453 die osmanischen Türken Konstantinopel eroberten, war das "nichts Weltbewegendes, weil das einst so mächtige Reich bereits in kleine Provinzen innerhalb des heutigen Griechenland und der Türkei zerfallen war." Es war aber auch darum kein so klarer Schnitt mit der Vergangenheit, weil die Osmanen, sich der byzantinischen Verwaltungsstrukturen weiter bedienten. Ähnlich waren in der Völkerwanderungszeit viele "Barbarenkönige" vorgegangen.

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Markantestes Zeichen für das Ende des Römischen Reiches war, als in dessen Raum keine Steuern mehr erhoben wurden. Im frühen Mittelalter vergab der Souverän Land und erhielt dafür militärische und politische Loyalität. Das war eine sehr prekäre Herrschaft. Wesentlich weniger stabil als Steuergesellschaften, die allerdings, bevor sie Stabilität verschufen, erst einmal auch auf Stabilität angewiesen waren. Wickhams Buch führt uns hinein in die Probleme der Provinzialverwaltungen und dann wieder kommen Sätze, die schaffen plötzlich so viel Übersicht: "Die gesamte ökonomische Basis politischen Handelns verschob sich weg von der Besteuerung hin zum Landbesitz… Es handelte sich um eine Verschiebung, die sich im Westen erst in der vollständig veränderten Wirtschaftswelt die Industriellen Revolution zurückverwandelte."

Das Zurückverwandeln spielt eine große Rolle in der Wickhamschen Darstellung dieser 1000 Jahre. Geschichte ist keine Fortschrittserzählung. Sie sagt uns nicht, wie wir's "zuletzt so herrlich weit gebracht". Sie geht in Sackgassen, scheint lange dazustehen wie eine Kuh auf der Weide, dann springt sie und fegt alle Hindernisse, die ihr bisher im Wege standen, weg. Wickham zeigt auch, welche Rolle Ideen und Fantasien dabei spielten. Vorbild der karolingischen Eliten war nicht das römische Reich, sondern auch das biblische Israel. Man bediente sich bei der Legitimierung der eigenen Praktiken aus beiden Erfahrungsschätzen. Man blickt auf das Theorem vom Strukturwandel der Öffentlichkeit ganz anders, wenn man liest, dass neue Gesetze - zumindest nominell - wie der langobardische König Liutprand im Jahre 713 erklärte, "in der Gegenwart des ganzen Volkes, im gemeinsamen Ratschluss mit uns" verabschiedet werden mussten. Die merowingische und karolingische Versammlungspolitik war zentral für die damalige Machtausübung. Im karolingischen Reich gab es öffentliche Gerichtshöfe, vor denen Bauern ihre Prozesse gegen ihre Herren sogar gewannen. Dennoch gilt natürlich: Reichtum und Macht kamen von den Bauern. Man musste sie ihnen nehmen, um sie zu haben. Das sind keine neuen Einsichten. Aber die Plastizität, mit der Wickham sowohl die allgemeinen Strukturen als auch ihre regionalen Unterschiedlichkeiten und ihre Entwicklungen zeigt, lässt einen sein Buch mit Lust lesen.

Wickham weist auch darauf hin, dass es in dem von ihm beschriebenen Zeitabschnitt kein Europa gab. "Sämtliche Behauptungen, es existiere so etwas wie eine europäische und ausschließlich europäische Einheit, sind sogar heute noch reine Fiktion - und für das Mittelalter wären sie völlig aus der Luft gegriffen." Wickham arbeitet die Wendepunkte heraus, dazu gehört die Dramatisierung der Geschichte und ein Hang zur drastischen Darstellung. Wer bei ihm liest, dass Wilhelm der Eroberer nach seinem Sieg im Jahre 1066 nahezu die gesamte englische Aristokratie enteignete und sie durch französische (normannische) Familien ersetzte, der glaubt, nichts Neues zu erfahren. Aber wenn Wickham hinzufügt, es handele sich dabei "wahrscheinlich um die radikalste Zerschlagung einer herrschenden Klasse in Europas vor dem Jahr 1917", dann wacht auch der gelassenste Leser auf und er begreift etwas von der Rolle der Gewalt in der Geschichte. Auch Wilhelm übernahm das von ihm vorgefundene System. Er besetzte die alten Stellen "einfach" neu.

Wickhams Buch ist eine Geschichte des Mittelalters. Man tut aber gut daran, es auch als eine Einführung in die Politik zu lesen. Wickham zeigt, wie Herrschaft funktioniert, was getan wurde, um an die Macht zu kommen und sie zu bewahren. Immer wieder spürt man, wie sehr sich alles verändert und doch das Gleiche bleibt.

Chris Wickham, Das Mittelalter - Europa von 500 bis 1500, aus dem Englischen von Susanne Held, Klett-Cotta, Stuttgart 2018, 501 Seiten, Abbildungen und Karten, 35 Euro.