Vom Nachttisch geräumt
So viel Hoffnung
Von Arno Widmann
16.07.2019. Elias Canettis Briefe zeigen ihn als Meister des vergifteten Lobs und Freund der 68er.
Man wird davon ausgehen können, dass Adorno das vorgebliche Lob der Offenheit - ausgerechnet von Canetti - richtig zu nehmen verstand. Ähnlich bizarr ist das Loblied auf Adornos Ehefrau, das Canetti ihr singt: "Ich war auf das tiefste beeindruckt von der Atmosphäre, die Sie um Adorno geschaffen haben. Dass man so wirksam für einen anderen Menschen leben kann, ohne selbst unglücklich zu werden, d.h. ohne dabei im geringsten etwas von der eigenen Persönlichkeit aufzugeben, das habe ich noch nicht erlebt. Ich hatte es sogar nach den Erfahrungen mit den geistigen Menschen meiner Umgebung, für unmöglich gehalten." Es ist der gleiche Dreh wie in dem Brief an Adorno: dem Adressaten wird ein Verhalten zugeschrieben, dessen Unmöglichkeit Canetti im selben Satz bekräftigt. Man kann sich entweder für weltweit einmalig oder für vergackeiert halten. So sehr jeder von uns zu ersterem - mit guten Gründen - neigt, so wenig wird er Canetti diese Einsicht zutrauen.

Das war knapp zwei Jahre zuvor wieder einmal ordentlich durchgeschüttelt worden. Canetti war im Mai 1968 in Paris stecken geblieben, hatte sich zu den Demonstranten begeben, mit ihnen gesprochen und sich von ihnen begeistern lassen. Er schrieb am 25. Juni 1968, inzwischen wieder in London, an Rudolf Hartung, den Redakteur der Neuen Rundschau: "Ganz sicher bin ich, dass die Dinge sie ebenso ergriffen hätten wie mich. Das Gefühl, das man schon seit einiger Zeit hatte: dass es wieder eine Jugend gibt, die nicht bloß auf Promiskuität und Rauschgifte aus ist, die von den wirklich wichtigen Dingen erfüllt ist, hat sich einem überwältigend bestätigt. Der Stolz und das Misstrauen dieser Jugend, ihr Trotz, ihr unerbittlicher Hass gegen diese Gesellschaft, ihre Verachtung für die enorme Überzahl der Bürger, Bürokraten, Streber, Technokraten, Auto-Anbeter, Pop-Idioten, Russo-Amerikaner, Großmächtigen, Polizei-Sadisten, unter denen sie doch schließlich tagtäglich existieren, sind derart, dass es einem jetzt noch die Tränen in die Augen treibt, wenn man nur daran denkt. Ihnen gegenüber schäme ich mich nicht zu sagen, was jedem anderen lächerlich erscheinen müsste: wenn ich heute sterben müsste, würde ich nicht mehr in dieser absoluten Verzweiflung über den Zustand der Welt sterben, von der man seit weiß Gott wie vielen Jahrzehnten erfüllt war, sondern in Hoffnung. Was immer geschieht, ich weiß jetzt, dass diese Menschen sich nicht ersticken lassen werden. Ich habe sie gesehen, mit ihnen gesprochen, sie angehört. Sie haben zumindest eines: einen Instinkt für das, was Befehle sind, und eine Einsicht in die Gefahr starrer Pläne und Ziele."
Elias Canetti: Ich erwarte von Ihnen viel - Briefe, herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Sven Hanuschek und Kristian Wachinger, Carl Hanser Verlag, München 2018, 864 Seiten, s/w-Fotografien,42 Euro.
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