Vom Nachttisch geräumt

Sie wandern zum Wort

Von Arno Widmann
29.10.2018. Macht die ganze Welt zum magischen Ort: Cees Nootebooms Gedichtband "Mönchsauge".
Als ich ein Kind war, träumte ich, nachts über den Menschen, oben auf der Höhe der Straßenlaternen, durch die Arndtstraße in Frankfurt am Main zu schweben. Sie konnten mich nicht sehen. Ich aber sah sie. Ich erzählte niemandem von meinen Träumen. Denn ich wusste, sie waren wahr. Als vor ein paar Jahren meine Mutter im Sterben lag, erzählte sie mir, in der vergangenen Nacht habe sie durchs Fenster gesehen und draußen im Garten hätten drei Frauen gesessen, miteinander geredet und gesponnen an Spinnrädern, "wie die Ahn dir eines geschenkt hat". Sie hatte geträumt, und sie wusste nicht mehr Gesehenes vom Geträumten zu unterscheiden. So wie ich als Kind damals noch nicht zwischen beidem zu unterscheiden gelernt hatte.

Mir fällt das ein, während ich Cees Nootebooms neuen Gedichtband "Mönchsauge" lese. Da heißt es gleich zu Anfang, im dritten Gedicht: "Nachts durfte ich beim Turmwärter sitzen, der so tat, als gäbe es ihn noch." Gedichte treten hinaus aus dem wirklichen Leben. Das machte man ihnen immer wieder zum Vorwurf. Keine Nebenwirkung erst der Entzauberung der Welt. Schon Platon tat das. Der Wirklichkeit versuchen wir auf tausend Arten zu entkommen. Gedichte sind nur eine Methode. Wenn sie glücken, verschmelzen sie Eindrücke, Klänge, Gerüche so eng mit den Wörtern, dass wir das Gefühl haben, es gebe doch so etwas wie Magie. Nein, nein, nein! Wenn sie gut sind, wissen wir, es gibt Magie. Aber es gibt sie nur hier: in diesem Gedicht. Oder vielleicht noch in Bachs "Ich habe genug" oder im Innenraum von Vierzehnheiligen. Oder… Doch, es ließen sich viele oder aufzählen. So viele, dass man am Ende glaubt verstanden zu haben, die ganze Welt sei ein magischer Ort und nur man selbst sei unfähig, das zu erkennen. Bis jemand kommt, der einem Augen und Ohren öffnet dafür.

Cees Nooteboom ist so einer. Er ist es mit jedem seiner Bücher. Er entführte uns nicht nur auf christliche und buddhistische Pilgerwege. Er zeigte uns die Schönheit einer Teekanne und die von Friedhöfen. Er enthüllte den Zauber des Berliner Savignyplatzes selbst denen, die ihn jeden Tag gesehen hatten und sich in den Kneipen um ihn herum seit Jahren langweilten. Nooteboom ist ein Verführer, der uns lehrt, endlich zu erkennen, was wir nicht beachtet hatten, weil wir uns gar zu vertraut mit ihm wähnten.

Das zwanzigste Gedicht in "Mönchsauge":

Von allen Rhythmen liebte er Tag und Nacht
am meisten. Eins, zwei, und Gott sei Dank
keine Drei. Die kam erst später, als
alles vorbei war, eine dunkle Zahl
als Null verkleidet. Wie kommt ein Kunstwerk
zustande? Wann beginnt ein Choral,
ein Gedicht, ein Licht, das ohne Ursprung scheint?
Wer denkt den ersten Vers, bevor er denkt?
Oder, wie aus einem Sumpf von Spiegelungen, einer
Schlammschlacht zwischen Dereinst und erfundenem Jetzt,
ein seltener sichtbarer Augenblick entsteht,
worin die Zeit nicht misst,
was vergeht.

Ard Posthuma - was für ein Name für einen, der 1942 im niederländischen Haarlem geboren wurde! - übersetzt seit vielen Jahren die Gedichte Nootebooms ins Deutsche. Kein Wunder also, dass ich ihn zu meinen Lieblingsautoren zähle, obwohl ich niemals etwas, das nur von ihm war, gelesen habe. "Mönchsauge" ist eine zweisprachige Ausgabe und also gerate ich unwillkürlich ins Vergleichen. Bald stoße ich auf ein großes Hindernis: die Nähe. Ich verstehe vieles, aber ich missverstehe es sofort gerade darum. "Godzijdank" klingt wie eine Parodie auf unser prachtvolles "Gott sei Dank". Überall stoße ich auf verhohnepiepelnde Vokalverschiebungen wie zum Beispiel auch "Slijkgevecht" statt "Schlammschlacht". Das hat nichts mit der Übersetzung zu tun. Das liegt ausschließlich an meinem Deutschsein. Ich nehme es als gegeben wahr und das Holländische als eine Reaktion darauf. Das ist historisch falsch und es geht am Holländischen völlig vorbei. Die Folgen von hellen Vokalen signalisieren nicht wie im Deutschen: Achtung "zierlich"! Sie sind nicht so signifikant wie sie es im Deutschen sind.

Wo Land aus Wasser wird...
Schiermonnikoog. Foto: Donar Reiskoffer, CC BY-SA 3.0, Wikipedia


Ich sollte jetzt aufhören mit dem Gestammel und etwas Intelligentes sagen über die 33 Gedichte, die, so Nooteboom in seinem kurzen Nachwort, im Dezember 2015 auf der westfriesischen Insel Schiermonnikoog begannen, sich zu Wort zu melden. Im April 2016 hatte er den Zyklus, der von einem Ich handelt, das ein Er ist, "ein Er, das ich bin", abgeschlossen, vielleicht auf jener anderen Insel, auf der er seit vielen Jahren einige Monate im Jahr verbringt, auf Menorca. Man vermutet das, denn am Meer spielen diese Gedichte über Alter und Tod, von Wörtern und vom Traum des Steins. Aber besser ist, Sie hören noch einmal Nooteboom und seinen Übersetzer Ard Posthuma:

Zurück auf die Insel, wo die Worte als Erste
Erschienen aus dem Koffer mit Buchstaben,
den ich lebenslang mitschleppe. Wind, das erste Licht,
der Morgen voller Gespräche von Vögeln Rohrsänger, Knutt,
Blässhuhn, eine Sprache, die ich nicht spreche, nur höre.
Dem Sichtbaren fehlt die Substanz, Eikapseln am Strand,
lackierte Panzer verschwundener Tiere, Sternrochen,
Mondschnecke, und dazwischen die Geister,
die Toten in meiner Gesellschaft, unsichtbar
neben mir auf dem Weg nach Balg, wo Land
aus Wasser wird, eine glänzende Fläche,
auf der sie wandern zum Wort,
das verschwimmt.

Cees Nooteboom: Mönchsauge, zweisprachige Ausgabe mit Bildern von Matthias Weischer, Suhrkamp, Berlin 2018, 116 Seiten, 24 Euro.