Vom Nachttisch geräumt

Es geht de Mensche wie de Leut

Von Arno Widmann
20.11.2018. Kommt ohne Sex und Tod aus: Rosamund Young erzählt vom geheimen Leben ihrer Kühe.
Rosamund Young ist Biobäuerin. 2003 erschien ihr Buch "The Secret Life of Cows" das erste Mal bei "Farming Books & Videos". Sofort mit großem Erfolg. Jetzt, nachdem es vergangenes Jahr bei einem großen Publikumsverlag, bei Faber & Faber, wieder herauskam, wurde es zum Sunday-Times-Bestseller und zum "Times Book of the Year". Jetzt liegt es auf Deutsch vor und ich wünsche ihm viele, viele Leser. Die Autorin erzählt von ihren Kühen. Sie hat sie nicht erforscht, hat keine Protokolle geführt. Sie hat sie beobachtet. Nicht distanziert, sondern neugierig und aufmerksam, voller Zuwendung. Dabei interessiert sie sich nicht für Kühe. Sie interessiert sich für jede einzelne Kuh. Als vor mehr als 50 Jahren Jane Goodall den von ihr beobachteten Schimpansen Namen gab, da war das in den Augen der meisten Naturforscher der Zeit ein Verstoß gegen die wissenschaftliche Objektivität. Man dürfe, hieß es, keine persönlichen Beziehungen zu den Beobachtungsobjekten aufbauen. Es stellte sich heraus, dass gerade erst ausgehend vom Individuum die Gruppe untersucht werden konnte.

Rosamund Young zeigt, wie wichtig Familienbeziehungen in der Kuhherde sind. Großmütter springen ein. Nicht nur, wenn die Mutter mal anderweitig unterwegs ist, sondern sogar, wenn die Mutter noch keine Mutter sein möchte. Rosamund Young erzählt Familiengeschichten. Sie erzählt, wie sie spricht mit den Kühen, sie erzählt, wie die Kühe ihr etwas mitteilen und wie sie nebeneinander stehen und muhen, bevor sie Abschied nehmen. Rosamund Young untersucht nicht die Sprache der Kühe. Sie erzählt nur davon. Meine Mutter pflegte zu sagen "es geht de Mensche wie de Leut". Rosamund Young lehrt uns, dass auch Kühe zu den Leuten gehören. Manche Menschen fühlen sich nicht wohl in dieser Gesellschaft. Sie suchen nach dem, das sie unterscheidet, das sie zu etwas Besonderem macht. Wir anderen lieben es, wenn wir uns eingebettet sehen in eine große Gemeinschaft, in der jeder anders ist, aber alle einander doch sehr ähnlich. Kühe können sich bei einem Wiedersehen Küsschen geben, wie meine Tanten es taten oder sie können so tun, als hätten sie noch kein Futter bekommen, um zweimal Futter zu bekommen.

Ein großartiges Buch. Das freilich einen Großteil seines Charmes daher bezieht, dass Sex keine Rolle spielt in ihm und auch der Tod, also die Schlachtung, ausgespart wird. Eine Rosamunde-Pilcher-Geschichte unter Kühen.

Rosamund Young: Das geheime Leben der Kühe, aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence, btb, München 2018, 176 Seiten, Illustrationen von Anna Koska, 15 Euro.
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