Vom Nachttisch geräumt

Text, Hypertext und die Bilder

Von Arno Widmann
23.10.2017. Ein Bildband mit Bücherwürmer - gesammelt von Günter Karl Bose.
Der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner lehrt uns: "Nichts ist von der Vorstellung zu halten, dass das gedruckte Wort eine Art Rettungswall gegen die Liquidität und Flüssigkeit des Netzes darstellen könnte. Grundsätzlich kann ein Medium nicht die Defizite eines anderen ausgleichen… Wer ein Buch in der Hand hält, hat nicht sogleich Zugang zum Text, der in der Fußnote erwähnt wird. Das ist auch richtig so, denn der proximale Anteil der Lektüre liegt auf dem Haupttext, und nur der distale gilt dem Zitierten oder Angespielten. In diesem Spannungsverhältnis liegt die Produktivität der konzentrierten Lektüre. Wer einen Hypertext im Netz liest, macht die umgekehrte Erfahrung - zerstreute Lektüre, bei der der ursprüngliche Text entgleitet und andere Assoziationsketten entstehen. Beides gut, aber das eine kann nicht durch das andere ersetzt werden. Jedes Medium muss für sich selbst sorgen. In jedem Medium müssen wir für uns selbst sorgen."

Diese Sätze sind einem Vorwort in 26 (!) Kapitelchen von "Achtung Falschfahrer" bis "Zuklappen des Buches" entnommen. Es steht, 10 Seiten kurz, vor mehr als zweihundert Bild-Seiten, die Bücher in Bibliotheken, Menschen mit Büchern, Bücher in Filmen, zerstörte Bücher und auch ein paar frühe Computer zeigen. Auf den letzten liefert der Herausgeber Günter Karl Bose, Professor für Typografie und Leiter des Instituts für Buchkunst an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig (???). Fünfzehn Jahre lang (1980-1995) zeigte er als einer der Chefs des Verlages Brinkmann & Bose, wie schön Bücher sein können. Alle Fotos dieses Buches sind aus seiner Sammlung.


Claudette Colbert mit Buch. Foto: Paramount Pictures, Still aus dem Lubitsch-Film "Bluebeards Eigths Wife", 1936

Wer sich für Bücher interessiert, wird ihn amüsiert durchblättern. Er wird sich freuen über die dazwischen gestreuten kleinen Texte von u.a. Melville, Tucholsky, Flaubert. Aber wirklich genau lesen wird diesen Band kaum jemand. Jayne Mansfield streckt sich aus einer Badewanne mit einem Buch in der rechten Hand dem Betrachter entgegen, aber nicht so sehr, dass man ihre Brüste sehen könnte. Das ist das Titelfoto. Es stammt aus einem Film. Es gibt auch nackte Frauen mit Buch in dieser Kollektion. Nackte Männer fehlen. Keine Ahnung, ob die schwule Erotik noch leichter aufs Buch verzichtet als die der Heteros, oder ob diese Lücke sich den Interessen, respektive der Interessenlosigkeit, des Sammlers verdankt.

So interessiert ich den Text las, so interessiert blätterte ich den Bildteil durch. Aber einmal las, ein andermal blätterte ich. Natürlich, sagen Sie? Nein, man könnte die Aufnahmen auch lesen. Man könnte sie genau betrachten, vergleichen und sich Gedanken machen. Aber das tun wir nur ausnahmsweise. Entweder als professionelle Bildanalysten oder aber bei bestimmten Aufnahmen, die unser Interesse so sehr auf sich ziehen, dass wir an ihnen hängen bleiben. Zum Beispiel das um 1890 entstandene Foto aus dem Atelier des Berliner Fotografen Otto Lindner. Eine junge Frau steht hinter einem Stuhl. Sie hält in den hinuntergesunkenen Händen ein Buch, dessen Titel nicht zu erkennen ist. Es ist nichts Auffälliges an ihr. Nein, nein, nein! Die Taille! Die berühmte von der Mode damals vorgeschriebene "Wespentaille", gegen die die Frauenbewegung jener Tage das Reformkleid propagierte.


Fidel Castro vor Buch. Foto: Alberto Korda, Cuba 1960er Jahre

Ich habe mir diese Taille ein paar lange Minuten angeschaut. Ich will sie nicht vergessen. Im Bücherschrank meiner Eltern gab es ein Buch, das zeigte, wie diese Art von Schnürung die Frauen verkrüppelte. In China wurden den Frauen die Füße, in Europa die Taillen zerstört. Viele finden es hysterisch, vom "Geschlechterkrieg" zu sprechen. Aber der Blick auf diese junge Berlinerin, die sich im Atelier von Otto Lindner fotografieren ließ, erinnert uns daran, dass es Phasen gibt, in denen aus einer Auseinandersetzung ein Krieg wird, bei dem es um die Zerstörung des Gegners geht. Allerdings war es mehr ein Überfall der Männer auf den Körper der Frau. Vergleichbare Attacken der Frauen auf die Männer hat es wohl nie gegeben.

Ich bin weit abgekommen vom Thema des Buches. Ein Bild hat eine Assoziationskette in Gang gesetzt und so ist ein Hypertext entstanden, der statt ins Buch einzudringen sich von ihm wegbewegte und den Leser verschleppte. So kann es gehen. Auch bei der Lektüre eines Nachttisches.

Günter Karl Bose: bookish! - Ein Blick zurück, Wallstein Verlag, Göttingen 2017, 238 Seiten, 275 s/w Abbildungen, 29,90 Euro.