9punkt - Die Debattenrundschau
Heute hoffnungsmatt und bedrückt
Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Europa
In der taz stellt Romy Strassenburg, frühere Chefredakteurin der deutschen Ausgabe von Charlie Hebdo, jedoch klar, dass eigentlich nicht Paris brennt, sondern La France péripherique, das Frankreich der Provinz. Aber politisch oder soziologisch greifbar findet sie die Bewegung auch nicht wirklich. Jedoch emotional: "Von dem Sommermärchen, der nationalen Euphorie über den Weltmeistertitel der Équipe Tricolore, der im Juli Zehntausende Menschen an gleicher Stelle versammelt hatte, ist nichts mehr zu spüren. Auch ihre Fußballhelden gehören letztlich zu jenen Superreichen, die Macron für die Abschaffung der Vermögensteuer dankbar sein können. Von wegen Gleichheit und Brüderlichkeit. Betrachtet man Einkommensunterschiede, die Arbeitslosenzahlen und die prekären Anstellungsverhältnisse vor allem junger Franzosen, dann ähneln die herrschenden Verhältnisse eher einem Klassenkampf von oben."
Regisseur und Schaubühnen-Chef Thomas Ostermeier ist gerade in Paris und, wie er im Interview mit dem DLF Kultur offenbart, voll dabei, auch wenn die Performance der Gelbwesten etwas roh rüberkomme: "Wir als Linke haben uns selber zuzuschreiben, wenn wir dann erschrocken sind über die rassistischen Töne in diesen Bewegungen und über die, ja doch, in Teilen sehr rechten Ideologien, die dann auf einmal da aufpoppen. Wir haben uns das selber zuzuschreiben, weil wir uns als eine Elite, eine Kulturelite oder auch eine politische Elite nicht mehr für die Anliegen dieser Unterprivilegierten, dieser Ausgebeuteten, nicht mehr zu einem Sprachrohr gemacht haben. Und dann wundert man sich oder dann darf man sich eigentlich nicht wundern, wenn das auf einmal völlig ungefiltert und mit roher Gewalt ausbricht."
FAZ-Autorin Gina Thomas begibt sich nach Cambridge, um am St. John's College den Historiker Robert Tombs zu treffen, der die "Briefings for Brexit" organisiert und von der Times zum einem der wenigen "Brainy Brits for Brexit" erklärt wurde.
Politik
Cinzia Sciuto, Redakteurin von MicroMega, findet in der taz, dass Europa sich nicht immer nur um Italiens Finanzen sorgen sollte, sondern auch um die familienpolitische Rolle rückwärts, die Salvini und Co gerade vollführen: "Dieser kulturelle Ansatz schlägt sich auch im vieldiskutierten Haushaltsgesetz nieder; anstelle einer seriösen Politik zur Förderung weiblicher Erwerbstätigkeit und der Sozialsysteme sieht es unter anderem vor, dass Familien, die in den drei Jahren von 2019 bis 2021 ein drittes Kind bekommen, sich um ein öffentliches oder brachliegendes Grundstück bewerben können, mit Förderkredit für den Kauf einer nahegelegenen Immobilie. Schenkt dem Vaterland ein Kind, das Vaterland wird euch mit Land bezahlen!"
Kulturmarkt
Gesellschaft
Ideen
Der Wallstein Verlag bringt Hannah Arendts Werke in einer Kritischen Gesamausgabe heraus, den Anfang macht "The Modern Challenge to Tradition. Fragmente eines Buches". Nicht die leichteste Aufgabe, doch in der NZZ spürt Helmut König, wie sich Arendts Denken in jenen Texten in andere Sphären katapultierte. Sie entspringen ihrer intensiven Auseinandersetzung mit Karl Marx, bei dem sie alles über Arbeit, Gewalt und Philosophie findet, aber nichts über Politik: "Das fehlende Interesse für die Frage,wie die öffentlichen Angelegenheiten geregelt werden können und worin das Wesen des Politischen überhaupt besteht, ist nicht auf Marx beschränkt, sondern charakterisiert die ganze Geschichte des abendländischen philosophischen Denkens seit Platon und Aristoteles. Mit dieser Erkenntnis eröffnet sich Arendt einen Denkhorizont, der so weitreichend ist, dass er den ursprünglich vorgesehenen Rahmen des Buchvorhabens sprengt. Man kann an den Texten des vorliegenden Bandes förmlich mit Händen greifen, wie unter ihren Augen der Stoff explodiert. Denn nun geht es nicht mehr nur um Marx, sondern darum, die gesamte abendländische Geistesgeschichte in ihren vorherrschenden Entwicklungslinien neu zu lesen."
Über das mangelnde Interesse der Philosophie für die Politik spricht Arendt sehr klar und entschieden und unübertroffen mondän im legendären Interview mit Günter Gaus:
In der NZZ denkt der Tübinger Komparatist Jürgen Wertheimer darüber nach, was Europa auszeichnet. Die Werte sind es jedenfalls nicht, meint er, die können auch andere Nationen oder Kulturräume für sich beanspruchen. Vielmehr zeichne sich Europa gerade dadurch aus, Wertesysteme unterschiedlicher Provenienz in ein Verhältnis zu setzen. Weitere Merkmale: "Skepsis gegenüber vereinnahmenden Mythen und Zugehörigkeitszuschreibungen jedweder Couleur. Diese Skepsis ist teuer und schmerzhaft erkauft und in jedem Moment gefährdet - dennoch, als Grundgefühl ist sie vorhanden und möglicherweise aktivierbar. Ein hoch entwickeltes Dialogmodell, innerhalb dessen Vielstimmigkeit, Widerspruch und Widersprüchlichkeit systematisch praktiziert und eingeübt werden. Dialoge wie jene von Denis Diderot, in denen ein Aufklärer seine Antipoden in Szene setzt, wird man vergeblich anderswo suchen, und es ist kein Zufall, dass Goethe und Hegel Diderot liebten. Und nicht zuletzt eine gut 2000-jährige Schulung in der Kunst kritischen Denkens. Europa war in seinen besten Zeiten ein offener Verhandlungsraum, eine argumentative Freihandelszone, innerhalb deren alles kontrovers verhandelt wurde und verhandelt werden musste. Eine These ohne eine zumindest gleich starke Gegenthese ist schlicht unglaubwürdig."
Der Linguist und Überlinke Noam Chomsky wird neunzig. In der FR bekennt sich Arno Widmann zu seiner Verehrung für den Mann, der darauf pochte, dass auch eine komplexe Welt zu begreifen und Wahrheit und Lüge zu unterscheiden seien: "Wer Mitte der sechziger Jahre in der Bundesrepublik aufwuchs und sich zur undogmatischen Linken zählte, der war begeistert von Noam Chomsky. Es gab kaum einen Wissenschaftler, der mit ähnlicher Energie sich gegen den Vietnamkrieg aussprach. Ich kannte keinen, der sich als sozialistischen Anarchisten bezeichnete und Mitglied bei der legendären 1905 gegründeten Organisation der 'Industrial Workers of the Earth' war. Gleichzeitig aber fanden einige von uns Chomskys Vorstellung von einer dem Menschen eingeborenen Fähigkeit zur Sprache reaktionär. Er suchte nach Tiefenstrukturen. Wir predigten das 'weiße Blatt'. Freiheit konnte es, so dachten damals manche, nicht geben, wenn wir in vielem schon vor aller Erziehung festgelegt waren."
Zur Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vor siebzig Jahren stimmt Heribert Prantl in der SZ einen leicht verzweifelten Ton an: "'Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.' So beginnt das meistübersetzte Dokument der Welt. Man liest die Worte heute hoffnungsmatt und bedrückt. Der Geist der Brüderlichkeit, Schwesterlichkeit, Solidarität - wo ist er geblieben? Hat Trump ihn eingemauert? Hat Erdoğan ihn in die Zelle geworfen, Putin ihn stranguliert? Hat der philippinische Präsident Duterte ihn erschossen? Haben Matteo Salvini, Heinz-Christian Strache, Viktor Orbán ihn im Mistbeet des Nationalismus vergraben?" Oder die Identitätsfetischisten haben ihn in eine Schublade gesteckt!
Weiteres: In der taz findet Jan Feddersen in einem provokanten Text die Menschenrechte "überstrapaziert". In einem konfrontativen Streitgespräch in der SZ verteidigt Justizministerin Katharina Barley den Migrationspakt gegen den Rechtsphilosophen Reinhard Merkel.