Außer Atem: Das Berlinale Blog

Geben die Kamera aus der Hand: Die Forumsfilme 'And-ek Ghes' und 'Les Sauteurs'

Von Thekla Dannenberg
15.02.2016. Ein Film über Roma, ein Film über afrikanische Flüchtlinge, die auf den Sprung nach Spanien warten - beide Male übergeben die Regisseure die Kamera ihren Protagonisten, die das Bild mitgestalten, das sich die Welt von ihnen machen soll.


"And-ek Ghes" heißt auf Romanes so viel wie "Eines schönen Tages". Der Film erzählt die Geschichte einer Großfamilie, die sich aus dem rumänischen Fata Luncii nach Deutschland aufmacht, um hier ihr Glück zu versuchen. Im Mittelpunkt steht der Handwerker und Musiker Colorado Velcu, alleinerziehender Vater von sieben Kindern. Philipp Scheffer, der auch mit der Collage "Havarie" im Forum vertreten ist, hat diesen Film jedoch nicht über Colorado Velcu gemacht, sondern mit ihm. "And-ek Ghes" ist ein durch und durch demokratischer Film.

Alle dürfen an der Geschichte ihres Lebens mitschreiben. Wie die Familie Velcu durch Europa wandert auch die Kamera: Aus Essen nach Berlin und durch ein Brandenburg voller pittoresker Rapsfelder, bei deren Anblick alle ausrufen: "Seht nur, hier ist es so schön wie in Bollywood!" Im Berliner Wedding ist es dann nicht mehr ganz so schön, es gibt keine Jobs, das Kindergeld kommt nicht, das Sammeln der Pfandflaschen bringt viel zu wenig. Sehr berührend sind die Szenen, in denen sich die Scham bemerkbar macht, die Kinder und Erwachsene gleichermaßen verspüren, als Fremde und wegen ihrer Armut. Die Tochter Izadora mag nicht in die Schule gehen, weil sie sich wegen ihres Namens geniert, und dabei sagt sie den traurig-schönen Satz: "Seit drei Tagen hab ich ein sensibles Herz."

Nach kurzer Zeit ziehen zwei der Familien weiter nach Spanien, ein Cousin erzählt ihnen, wie großartig es ihm dort unten geht. Bald stellt sich allerdings heraus, dass er seine Lage arg beschönigt hatte. Zum großen Bauchtanzfest in Barcelona kommen noch einmal alle zu Besuch, dann werden wieder die Koffer gepackt, die einen kehren zurück nach Berlin, die anderen versuchen ihr Glück in der Emilia-Romagna, wo noch ein Cousin lebt. Die Ökonomie, das zeigt der Film, ist hier nicht immer eine Angelegenheit der Vernunft, sondern eine des Familienverbunds. Als in Berlin endlich das Kindergeld gezahlt wird, fährt die Familie sofort zurück nach Rumänien, wahrscheinlich um Schulden zu bezahlen. Auf dem Rückweg treffen sie zufällig auf ihre Leute und feiern - irgendwo auf einem Rastplatz im Osten Europas - ein großes, ausgelassenes Fest. "Habt Ihr die Kamera? Das wird Philipp gefallen!", ruft Izadora treu.

Nach und nach wandelt sich der Charakter des Filmemachens. Zum Dokumentarischen kommt ein kreatives Moment hinzu, der Wille zum gemeinsamen Kunstschaffen. Es ist ein geradezu bewegender Moment, wenn Colorado aus seinen Tagebüchern vorliest, in denen er darum ringt, die Schönheit einer Kathedrale in Worte zu fassen. "Da brauchst Du mehr Gefühl", rät ein Vertrauter. Die Einstellungen werden immer sorgsamer arrangiert, und mit dem Neffen Parica fängt Colorado an die Filmmusik zu komponieren, ein Liebeslied mit dem Titel "And-ek Ghes". Es handelt von einem jungen Mann, der seiner Liebsten verspricht, eines schönen Tages mit ihr in Berlin glücklich zu sein.

Und gerade wenn man sich zu fragen beginnt, ob die karge Form Berliner Dokumentarfilme wirklich zusammengehen kann mit rumänischen Popsongs und den Filmstar-Flausen junger Mädchen, da lassen es Colorado und Parica vor dem Brandenburger Tor und am Gesundbrunnen-Center krachen wie die indische Filmindustrie. Das ist beglückend, großzügig und fair: Manchmal ist eben nicht nur das Leben ein Bollywood-Film, sondern auch das deutsche Kino.

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"Les Sauteurs" ist ein Film über Grenzen. Die Grenze Europas, die Grenze des Blicks, die Grenze des Verstehens. Der Film verschiebt Grenzen, und er überschreitet sie. Die beiden Dokumentarfilmer Moritz Siebert und Estephan Wagner haben ebenfalls ihre Kamera aus der Hand gegeben und den jungen Malier Abou Bakar Sidibé filmen lassen, wie er in Marokko auf die Möglichkeit wartet, nach Europa zu kommen.

Höflich stellt er sich vor: Amadou, der Europäer von morgen, dann geht es mit der Kamera bestückt los auf den Berg Gurugu, wacklig-rumpelig zuerst, doch mit zunehmenden Geschick und vor allem mit einer Ernsthaftigkeit, die jeden Journalisten vor Neid erblassen lassen muss. Der Gurugu ist ein kleiner Hügel, von dem aus man auf das Mittelmeer blickt, vor allem jedoch auf die Enklave Melilla, Europas Vorposten auf dem afrikanischen Kontinent. Der Gurugu ist der Heilige Berg, der Berg der Angst und der Hoffnung. Hier kampieren die Flüchtlinge in ärmlichsten Zeltlagern, bis für sie die Zeit gekommen ist, zu Hunderten den Sprung über den hochgerüsteten Grenzzaun nach Europa zu wagen. Oder bis die marokkanische Polizei anrückt und wieder einmal alles niederbrennt.

Amadou hält dieses Leben in diesem Camps in einer Direktheit fest, die einem den Atem raubt. Seine Kumpanen treten ihm als Vertrauten ohne jede Scheu entgegen: Er filmt sie, wenn sie in Mülltonnen nach Brauchbarem suchen, sich Steigwerkzeug für den Zaun zurechtfeilen, von einer Freundin in Europa träumen oder von ihren lange Wegen erzählen, auf die sie sich mit gerade einmal vierzig Euro in der Tasche gemacht haben. In einer Szene malen sie ein Herz in den dunklen Sand, es steht für Amadou und Melilla. Sie füllen es erst mit Maismehl aus, dann schlitzen sie, um die große Liebe zu Europa zu besiegeln, einem lebenden Hahn den Hals auf und beträufeln das Herz mit dem auslaufenden Blut.

Das Leben in den Camps ist genau geregelt, es gibt einzelne Gemeinschaften, die sich nach ihren Herkunftsländern und streng hierarchisch organisieren, der Anführer - der mal Chief, mal Präsident genannt wird - organisiert die Sprünge. Die Gesetze sind erbarmungslos: Wer mit der Polizei redet, lebt nicht mehr lange. In einer absolut verstörenden Szene wird ein Mann zur Rede gestellt, der sich offenbar nicht daran gehalten hat. Er gesteht und muss - halb Ritual, halb Schauprozess - allen einen glückenden Sprung wünschen. Dann wird er fortgejagt. Einige rufen: "Tut ihm nichts, wir haben es versprochen!" Doch andere jagen ihn mit Stöcken durch den Wald. Amadou hält mit unbestechlichem Reporter-Ethos, so lange er kann, die Kamera auf diese grausame Szenerie.

Und dann natürlich die Sprünge: Für einen Run auf die Grenze warten sie solange, bis sich mehrere hundert Männer zusammengefunden haben. Sie müssen der Grenzpolizei zahlenmäßig überlegen sein, wenn sie den Zaun stürmen und über die drei Reihen Stahl auf die spanische Seiten gelangen wollen. Immer wieder enden Versuche glücklos. Mitunter gibt es Verletzte, wenn Grenzpolizei die Männer mit Wasserwerfern vom Zaun treibt (und selbstverständlich nicht mit Schusswaffen).

Die spanischen Überwachungskameras orten die afrikanischen Migranten immer schon von Weitem, jede kleinste Bewegung wird erfasst. In diesen Wärmebildern der Grenzpolizei sind sie herannahende Objekte. Die Flüchtlinge selbst sehen sich als Männer, die "für ihre Träume kämpfen". Im Film von Moritz Siebert und Estephan Wager und vor Amadous Kamera, werden sie zu Menschen, die das Bild mitgestalten, das sich die Welt von ihnen machen soll.

And-Ek Ghes... . Regie: Colorado Velcu, Philip Scheffner. Deutschland 2016, 93 Minuten (Vorführtermine)

Les Sauteurs: Those Who Jump. Regie: Abou Bakar Sidibé, Estephan Wagner, Moritz Siebert. Dänemark 2016, 80 Minuten (Vorführtermine)