Redaktionsblog - Im Ententeich

Figur der Opfermediokrität

Von Thierry Chervel
27.01.2015. Was man politisch ablehnt, sollte man nicht versuchen, mit ästhetischen Argumenten zu erledigen. Antwort auf Ulf Erdmann Ziegler.
Ach, Ulf! Ein bisschen schal ist nicht Luz" Zeichnung des weinenden Mohammed, sondern dein ästhetizistisches Gemäkel daran, solange die Dahingemetzelten noch nicht kalt sind. Es handelt sich hier nicht um eine ästhetische Frage, sondern um eine existenzielle. Das Pathos dieser Frage müssen wir aushalten wie das tödliche Starren der Islamisten. Keiner zwingt Dich aus "politischer Raison", diese Zeichnungen gut zu finden, denn darum geht es gar nicht.

Nicht in einem Wort zittert der Schock über die Ereignisse in Deinem Text nach, aber Deine Lehrmeinung über den Plattkopfhumor von Charlie Hebdo ist schon fertig ausformuliert. Obsolet sind die Zeichnungen mit ihren puerilen Witzen und grobem Strich und nichts im Vergleich zum deutschen Qualitätshumor, der überdies die Subtilität besitzt, nicht anstößig zu sein.

Ich kenne diese ästhetizistische Reaktion auf die Wucht des Terrors seit den Diskussionen um Salman Rushdies "Satanische Verse" - immer dieselbe Diskussion seit über 25 Jahren! Man muss nur den Eingangssatz von Willi Winklers Kritik des Romans in der Zeit von 1989 lesen - "Sicher, es ist reichlich unfair, Einwände gegen ein Buch zu erheben, das seinen Autor das Leben zu kosten droht" - und versteht schon, wie befreiend diese Worte in ihrem kultivierten Säuselton auf viele gewirkt haben müssen, die sich zuvor nur zu Solidarität aufgerufen sahen: Es gibt also Einwände gegen dieses Buch. Es ist nicht absolut, nicht absolut verteidigenswert.

Es ist doch immer wieder die gleiche Situation der Schulhofschlägerei, in der wir nach Gründen suchen, dem Kleinen nicht zu helfen!

Und dann erst Winklers Schluss in seiner exquisiten Bosheit: Rushdie "bleibt immer die unverbindliche Scheherazade, die zuviel Garcia Márquez gelesen hat. Ungerührt hört man den Singsang des Märchenonkels: "Um aber wiedergeboren zu werden, musst du erst sterben.""

Ist das nicht subtil? Ungerührt, damals schon! Den ganzen Mut mussten wir zusammennehmen, um unseren Postheroismus zu verteidigen.

Das Opfer sei schlecht geschminkt gewesen, bevor der Hammer auf es niedersauste: das ist seitdem zum Topos geworden, den Du in bestürzender Naivität wiederholst. Schon wegen ästhetischen Ungenügens hätte keine deutsche Zeitung die Mohammed-Karikatur von Kurt Westergaard gebracht, sagst du, nicht aus Mangel an Mut - nein! -, sondern weil die Zeichnung jeder Pointe entbehrt, und bringst dagegen die sympathischen Vignetten von Greser und Lenz ins Spiel, die Jung und Alt zum Schmunzeln einladen.

Um mittelmäßiger Zeichnungen willen müssen wir nun unsere Köpfe hinhalten! Müssen verteidigen, was wir nicht mögen. Schon Thomas Steinfeld, seinerzeit Feuilletonchef der SZ, hatte 2009 Schwierigkeiten damit: "Nein, man soll auch gläubigen Muslimen nicht die Begegnung mit der westlichen Kultur ersparen, alberne Karikaturen eingeschlossen", schrieb er, und hier habe ich mich zum ersten Mal mit dieser Figur der Opfermediokrität auseinandergesetzt, mit der die Redakteure der Feuilletons vielleicht auch ihr schlechtes Gewissen besänftigen wollten: Denn sie alle hatten sich so gut wie nicht getraut, den Lesern die Zeichnungen ihrer bedrohten Kollegen zu zeigen. Die SZ war es jedenfalls nicht, die für diese Begegnung mit der westlichen Kultur sorgte.

Als später ein Attentäter mit der Axt auf Westergaard losging, setzte SZ-Kollege Andrian Kreye nach: "Wer beleidigt, muss auch zugestehen, dass der Beleidigte beleidigt ist." (Mehr hier.) Da sind wir nicht mehr weit von der Forderung nach einem "verantwortungsvollen Umgang mit der Meinungsfreiheit", die von der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC), der eigentlichen Erfinderin des Begriffs der Islamophobie, gestellt wurde.

Du entsprichst dieser Forderung, unbewusst, wenn Du Dich im nachhinein auf die Konferenz der dezimierten Charlie-Hebdo-Redaktion begibst und ihr vorschlägst, statt des "ein bisschen schalen" Mohammed die Attentäter zu karikieren. Diese Wichte, die ihre fünfzehn Minuten Ruhm schon hatten und nun noch nicht mal wissen, dass keine 72 Jungfrauen auf sie warteten! Es wäre witziger gewesen, schreibst du. Und es hätte nebenbei den Vorteil gehabt, sich innerhalb der nun glücklich neu definierten Grenzen "verantwortungsvoller Meinungsfreiheit" zu bewegen.

Aber nein, die Überlebenden griffen doch wieder zum "politischen Symbol", pueril wie sie sind und wie du missbilligend konstatieren musst. Hier wird deutlich, dass Du die Zeichnungen nicht ästhetisch ablehnst, sondern politisch. Du scheinst es nur nicht aussprechen zu wollen. Aber was hätte Luz anderes zeichnen sollen als das "politische Symbol"? Du scheinst ähnlich wie Andreas Zielcke am Freitag in der SZ zu denken und die Karikaturen Charlie Hebdos als "Verhöhnung" zu sehen. Du verzeichnest eine "extrem lange, gebogene Nase", also ein Requisit antisemitischer Karikatur, und findest, dass Luz mit seinem weinenden Mohammed "das Bild des Fremden aufruft und ihn hässlich aussehen lässt".

Das denke ich nicht. Ich denke, er ist die bekannte Witzfigur, als die ihn die Leser von Charlie Hebdo längst schon kannten, und er weint zurecht. Er ist nicht kriegerisch und böse wie Westergaards Mohammed. Charlie Hebdo hat ihn in seiner Menschlichkeit getroffen, und die Islamisten haben ihn nicht totgekriegt.

Thierry Chervel