Bücherbrief

Frei sein, freundlich sein

06.01.2009. Filip Florian findet ein Massengrab. Paul Auster erfindet einen amerikanischen Bürgerkrieg. Peer Hultberg porträtiert die Erfolgreichen und Versager in Viborg. Jean-Yves Tadie schreibt eine kurze Geschichte über Proust. Natalie Zemon Davis führt durch die Welt des Leo Africanus. Axel Meyer schwimmt mit dem Buntbarsch. Die besten Bücher im Monat Januar.
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Weitere Anregungen finden Sie in den älteren Bücherbriefen und in den Büchern der Saison vom Herbst 2008.



Filip Florian
Kleine Finger
Roman
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008, 22,80 Euro



In einem Karpatenstädtchen wird in den Ruinen einer römischen Festung ein Massengrab entdeckt. Da die Bewohner es für eine Hinterlassenschaft des mörderischen Ceausescu-Regimes halten und der Regierung in Bukarest nicht trauen, werden zur Aufklärung Anthropologen aus Argentinien eingeflogen. Ausgehend von diesem Ereignis entwickelt Filip Florian in seinem Debütroman "Kleine Finger" ein zwischen Grauen und Groteske, Realismus und Fiktion changierendes Spiel um verdrängte Schuld und Misstrauen in einer diktaturgeschundenen Gesellschaft. Bizarr wie die Gebirgswelt der rumänischen Karpaten findet die FR diesen Roman mit seiner funklenden Prosa. Die SZ sieht in dem Buch zugleich einen politischen Roman, einen archäologischen Krimi und einen klugen Versuch über die historische Beweispflicht der Literatur.


Paul Auster
Mann im Dunkel
Roman
Rowohlt Verlag 2008, 17,90 Euro



Paul Auster war von den Rezensenten schon fast abgeschrieben worden. Aber der Roman "Mann im Dunkel" zeigt ihn "auf der Höhe seines Schaffens", wie die begeisterte NZZ schrieb. Die Geschichte ist verwickelt. Owen Brick erwacht in einem Erdloch und glaubt, er befinde sich im Irak. Doch ein amerikanischer Soldat klärt ihn auf: Es ist Bürgerkrieg in Amerika und Brick hat die Aufgabe, den Urheber dieses Krieges umzubringen. Der wiederum ist ein alter Mann, ein Literaturkritiker, der sich unter anderem diese Geschichte Bürgerkrieg ausgedacht hat, um von seinem privaten Unglück abzulenken. Die SZ verfolgt gefesselt dieser geschickten Verknüpfung von "Literatur, Tod und Trost". Die FR erkennt einen ganz neuen Auster. Und die Zeit feiert den Roman als "kleines, turbulentes kafkaesk-komisches, im Grunde todtrauriges Meisterwerk".


Peer Hultberg
Die Stadt und die Welt
Roman in 100 Texten
Jung und Jung Verlag 2008, 32 Euro



Peer Hultberg erzählt in seinem Roman die Geschichten von etwa 300 Menschen aller gesellschaftlichen Schichten, die nur eines gemeinsam haben: sie leben in Viborg, einer Stadt auf der dänischen Halbinsel Jütland. Alle werden in kurzen, ein- bis zwölfseitigen Episoden vorgestellt. Karl-Markus Gauß hat sich hervorragend unterhalten und feiert den Roman in der NZZ als "Meisterwerk europäischer Erzählkunst". Die Viborger in diesem Roman, das sind "Erfolgreiche und Versager, Honoratioren und Verfemte, bigotte Bürger und Provinzgenies, Gerichtsräte und Kartoffelgroßhändler, Arbeiter und Waschfrauen", schreibt die FAZ. Sie verfängt sich in den vielen Geschichten, blättert dann aber doch immer wieder neugierig zurück um zu sehen, was es noch mal vor 250 Seiten mit Herrn Nielsen auf sich hatte. Schwer beeindruckt von der Erzähltechnik Hultbergs empfiehlt sie, das Buch wie eine Sammlung von Kalendergeschichten zu lesen, jeden Tag eine.


Kate Atkinson
Lebenslügen
Roman
Droemer Knaur Verlag 2008, 18,95 Euro



Kate Atkinson ist eine ungewöhnlich experimentierfreudige Autorin und wird genau dafür von der englischsprachigen Presse geliebt. Ihr erster Roman "Behind the Scenes at the Museum" wurde mit dem renommierten Literaturpreis Whitbread Book of the Year ausgezeichnet. Komplexe Erzählstrukturen, literarische Anspielungen, Humor und eine Vorliebe für höchst unwahrscheinliche Ereignisse zeichneten ihre Romane aus. Nach dem dritten begann sie plötzlich Krimis zu schreiben, ohne jedoch ihre Erzählkunst zu opfern. "Lebenslügen" ist ihr dritter Krimi um den pensionierten Inspector Brodie, eine höchst sympathische Figur, wie Tobias Gohlis in der Zeit meinte, der in die Auflösung seiner Fälle quasi hineinstolpert. In diesem Roman geht es um eine Familie, auf der ein Trauma lastet. Die Mutter musste als Kind mitansehen, wie ihre Eltern und ihr kleiner Bruder ermordet wurden. Jetzt ist sie erwachsen und hat selbst ein Kind. Doch beide verschwinden plötzlich. Das 16-jährige Hausmädchen Reggie setzt Himmel und Hölle in Bewegung, um ihre Ersatzfamilie wiederzufinden. Die New York Times liebte die komplizierten Verwechslungen, literarischen und filmischen Anspielungen ("Ms. Atkinson happily updates the 'crisscross' plot device from Hitchcock's 'Strangers on a Train'"). Der Guardian fand den Roman "funny, bracingly intelligent and delightfully prickly". Und die FR hatte ihre Freude an dem mal feinen, mal derben Humor der Autorin.


Sachbuch

Jean-Yves Tadie
Marcel Proust
Biografie
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 68 Euro



Die meist besprochene literarische Biografie der letzten Wochen, in Frankreich ist schon vor einigen Jahren erschienen. Tadie gilt als die Proust-Koryphäe. 68 Euro für 1298 Seiten. Eine Kurzgeschichte also für alle, die Proust selbst hinter sich haben! Die Besprechungen waren sehr positiv, mit Einschränkungen. Ina Hartwig fühlte sich nach der Lektüre in der FR, "mündig" für die Recherche (obwohl man echten Lesern nicht erst die Biografie zur Lektüre empfehlen sollte) Joseph Hanimann störte sich in der SZ am etwas professoral-papiernen Ton des Autors. Aber wenn man ein Buch zu Proust lesen will, so Andreas Platthaus in der FAZ, dann dies.


Terry Eagleton
Der Sinn des Lebens
Ullstein Verlag, Berlin 2008, 18 Euro




Manchmal sind die einfachsten Ideen die originellsten. Philosophie fragt nach dem Sinn des Lebens. Eagleton geht mit seinem Büchlein, das als ein Geschenk für intelligente Melancholiker gelten darf, direkt auf die Sache zu: und zwar witzig, stellt Oliver Pfohlmann in der FR fest. Sinn hat demnach nur ein Leben, das auch als "soziale Praxis" Bestand hat, so gefällt's der FR. Robert Misik (der selbst wahrscheinlich permanent auf Barrikaden kämpft) scheut sich in der taz nicht, Eagleton einen "Salonmarxisten" zu nennen. Misik hat sich aber auch amüsiert und resümiert: "Frei sein, freundlich sein" als Sinn des Lebens.


Natalie Zemon Davis
Leo Africanus
Ein Reisender zwischen Orient und Okzident
Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2008, 36 Euro



Die gerade 80 Jahre alt gewordene Natalie Zemon Davis, Autorin der "Rückkehr des Martin Guerre", darf als eine der berühmtesten lebenden Historikerinnen gelten. Mit Leo Africanus hat sich wiederum eine faszinierende Figur der frühen Neuzeit gefunden, die es ihr erlaubt anhand eines Exempels die großen Tendenzen der Epoche aufzufalten. Africanus war ein Muslim, der vom Papst getauft wurde, ein Vermittler. Die Autorin beschreibt Leo Africanus zudem überzeugend als "Trickster", der - wie es der Islam in schwierigen Situationen ausdrücklich erlaubt - trotz Taufe heimlich Moslem blieb, so Stefanie Peter in der taz, die ebenso wie Judith von Sternburg in der FR eine fesselnde Führung durch die "fremden Welten" des 16. Jahrhunderts verspricht.


Misha Glenny
McMafia
Die grenzenlose Welt des organisierten Verbrechens.
Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), München 2008, 24,95 Euro



Erschreckend, mehr als erschreckend! Bücher über die Mafia haben Saison - Roberto Savianos "Gomorrha" und Petra Reskis "Mafia" sind noch gut in Erinnerung (hier eine Liste mit allen Büchern zur Mafia in der Perlentaucher-Datenbank). Glenny sieht die Mafia als ein ultramodernes Netzwerk, das eher mit ebay als mit den Clans a la Corleone vergleichbar sei - und er hat die Maschen dieses Netzes nicht nur in Italien, sondern in der ganzen Welt aufgenommen. In der SZ hat Hans Leyendecker höchstselbst, der Doyen des investigativen Journalismus in Deutschland, das Buch besprochen - und er scheint die Thesen Glennys zu teilen: Mafia nicht mehr als ein Bund von Verschwörern, sondern im Grunde schon als konstitutiver Bestandteil der Weltwirtschaft, der zum großen Teil aus den Mafia- (und also Geheimdienst-)strukturen Osteuropas hervorging.


Hörbuch

Axel Meyer
Algenraspler, Schneckenknacker, Schuppenfresser
Über den evolutionären Erfolg der Buntbarsche.
1 CD. Suppose Verlag, Berlin 2008 18 Euro



Begeisterung hat der Konstanzer Zoologe Axel Meyer mit diesem Hörbuch bei den Rezensenten ausgelöst, in dem sich er hingebungsvoll seinem liebsten Forschungsobjekt widmet: dem Buntbarsch und seinen mehr als 3000 ausgebildeten Unterarten - einige fressen ihren Artgenossen bei lebendigem Leib die Schuppen ab. Und ganz nebenbei erklärt Meyer dabei auch noch Theorien und Geschichte des Darwinismus. Die SZ fühlt sich dabei nicht nur bestens informiert, sondern ebenso gut unterhalten. Der FAZ gefiel besonders gut das Spontane und leicht Improvisierte dieses absolut nicht formvollendeten Hörbuchs.


Bildband

Lothar Schirmer, Marianne Schneider (Hrsg.)
Visconti
Schriften, Filme, Stars und Stills
Schirmer und Mosel Verlag 2008, 78,00 Euro



Dieser opulente Bild- und Textband über den italienischen Regisseur Luchino Visconti hat die Rezensenten zum Träumen gebracht. Visconti, Sproß einer uralten Adelsfamilie und Mitbegründer des Neorealismus, "war besessen von den Möglichkeiten des Films - ein Perfektionist. Noftalls setzte er für atemberaubende Kamerafahrten den Kran auf den Jeep und das Set unter Nebel, bis alle außer ihm nach Luft rangen. Er dirigierte die Szene wie ein Maestro sein Orchester", beschreibt ihn 3sat. Der Band enthält Texte von Visconti, eine Biografie, Filmgeschichten, Kommentare und Setfotografien. Eine Art Gesamtausgabe zu Viscontis Werk, die der beeindruckten FR den Detail- und Formwillen des Regisseurs vor Augen führte. Die SZ lobt die diskrete und vorsätzlich fragmentarische Herangehensweise der Autoren.