Bücherbrief

Pralle Stempel

03.06.2009. Walter Kappacher schickt Hugo von Hofmannsthal nach Bad Fusch. Miljenko Jergovic schickt Geschichten aus dem belagerten Sarajewo. John Wray schickt einen Irren in die U-Bahn. Cioran versprüht auf 2000 Seiten Witz und Finsternis. Edvard Koinberg fotografiert das Liebesleben der Pflanzen. Dies alles und mehr in den Büchern des Juni.
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Weitere Anregungen finden Sie in den älteren Bücherbriefen, unseren Notizen zu den Literaturbeilagen vom Frühjahr 2009, Ekkehard Knörers Krimikolumne Mord und Ratschlag, den Leseproben in Vorgeblättert und in den Büchern der Saison vom Herbst 2008.


Literatur

Walter Kappacher
Der Fliegenpalast
Roman
Residenz Verlag, St. Pölten 2009, 17,90 Euro



In den Feuilletons war die Freude über den Büchnerpreis für Walter Kappacher einhellig. Die FR lobte den österreichischen Autor als "präzisen Spracharbeiter", die FAZ schwärmte von "Stil, Würde und Eleganz". Auch sein letzter Roman "Fliegenpalast" ist mit großer Bewunderung aufgenommen worden: Er erzählt vom unglücklichen Hugo von Hofmannsthal, der sich während einer schweren Schaffenskrise in den österreichischen Kurort Bad Fusch zurückzieht und dort um Inspiration für ein Drama ringt. In der SZ fand Michael Maar diese Künstlernovelle sogar noch besser als Thomas Manns Goethe-Buch "Lotte in Weimar" und jubelte: "Stil ist Charakter". Die Zeit ist ebenfalls hingerissen, die NZZ preist die "unauffällige Schönheit" des Romans. Und sogar FAZ und FR sind sind fast einig: "Behutsamer, dezenter und doch todtrauriger" kann ein Buch gar nicht sein, meint die FAZ. Die FR findet: "So witzig wie in diesem historisierenden Porträt war Kappacher noch nie."


Miljenko Jergovic
Sarajevo Marlboro
Erzählungen
Schöffling und Co. Verlag, Frankfurt am Main 2009, 18,90 Euro



Im vorigen Jahr hat der kroatische Schriftsteller Miljenko Jergovic mit seinem prallen Historienroman "Das Walnusshaus" die Kritiker für sich eingenommen, nun erscheinen die Erzählungen "Sarajevo Marlboro" in neuer Übersetzung von Brigitte Döbert. Sie stammen aus dem Jahr 1994 und erzählen direkt aus dem belagerten Sarajevo. Die FAZ freut sich sehr über die Neuausgabe dieses "frühen Meisterwerks", hob die Sprache "von schlichter und rauher Schönheit" hervor und bestaunte "die Anfänge eines großen europäischen Autors". Im Deutschlandradio lobte Jörg Plath die Konstruktion der Geschichten, die nie direkt vom Krieg erzählten, sondern von der Beschädigung menschlicher Beziehungen: "Diese Auslassung lässt die besten Erzählungen wie Druckkessel kurz vor der Explosion wirken."


Nicolas Dickner
Nikolski
Roman
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2009, 19,90 Euro



Ihre helle Freude hatten Kritikerinnen und Kritiker mit diesem anarchistischen Schatzsucheroman des Frankokanadiers Nicolas Dickner. Worum es genau geht, ist nicht so leicht festzumachen, denn wie alle versichern, spinnt Dickner in seiner Geschichte um drei seelenverwandte Outlaws auf Sinn- und Identitätssuche jede Menge Seemansgarn. Die FR ist von diesen schrulligen Figuren ebenso hingerissen wie von dem "leicht irren" Plot. Die FAZ folgt selbst den losen Enden der Geschichte fasziniert. Die taz ist von der überbordenden Themenfülle begeistert, die genealogisch, anthropologisch und ethnologisch alles umfasst, was von der Aleuten-Insel Nikolski bis nach Ontario reicht. Und die SZ lobt schließlich noch das hierbei ebenfalls gezeichnete Porträt der ganz eigenen Stadt Montreal. Hier eine


John Wray
Retter der Welt
Roman
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2009, 19,90 Euro



Mit seinem Roman "Retter der Welt" hat John Wray die Kritikerinnen in helle Begeisterung versetzt. Der Roman erzählt von einem "Tag der Freiheit" im Leben des paranoid-schizophrenen William Heller, der seine Medikamente nicht genommen hat. Er entwischt aus der Klinik und rast mit der U-Bahn durch New York. Dabei hat er eine Mission: Die Rettung der Welt! Ihm hinterher rasen seine Mutter und ein Privatdetektiv. Die FAZ ist hin- und mitgerissen von der Wucht, der Spannung und der surrealen Komik dieses Romans. Die NZZ staunt über sich selbst, wie tief ihr das Schicksal dieses "irrlichternden Geistes" unter die Haut gegangen ist.


Hector Abad
Brief an einen Schatten
Eine Geschichte aus Kolumbien
Berenberg Verlag, Berenberg 2009, 24 Euro



Sehr bewegt reagierten die Kritiker auf dieses Buch des kolumbianischen Autors Hector Abad, der in seinem "Brief an einen Schatten" von der großen Liebe eines Sohnes zu seinem Vater erzählt. Abads Vater war ein ebenso bewunderter wie verhasster Sozialmediziner, der sich dem Kampf gegen Epidemien, Armut und verseuchtem Wasser verschrieben hatte und 1987 in Medellin von Paramilitärs erschossen wurde. Die Zeit ist von der Trauer um den ermordeten Vater ebenso berührt wie von den Momenten des geteilten Glücks. Ergriffen hat die FR hier auch noch einmal gelesen, mit wieviel Mut und Vernunft Abad gegen Großgrundbesitzer, Rauschgiftkartelle und Kirchenfürsten gekämpft hat, die sich Kolumbien zur Beute machen. Der Tagesspiegel lernt Abad als "unverbesserlichen Idealisten", der im Buch eher durch Episoden aus dem Alltag Kontur bekommt als durch die Schilderung seines politischen Engagements.


Sachbuch

Volker Reinhardt
Die Tyrannei der Tugend
Calvin und die Reformation in Genf
C. H. Beck Verlag, München 2009, 24,90 Euro



Selbstdisziplinierung war die Botschaft Calvins laut Volker Reinhardt (zumindest, wenn man dem Klappentext glauben darf). Das klingt zwar nicht gut, hat die menschliche Gesellschaft aber ein bisschen vorangebracht. Bisher haben die FR und die FAZ Reinhardts Buch über Calvins Menschheitsexperiment vor bald 500 Jahren besprochen, beide sehr positiv. Christoph Fleischmann kritisiert in der FR allenfalls, dass die sozialen Schilderungen der Städte zur Zeit Calvins blass bleiben. Dem antiaristokratischen Stachel in Calvins Denken kann Fleischmann bis heute einiges abgewinnen. Jürg Altwegg scheint die Figur des Reformators in der FAZ weniger freundlich zu sehen und diagnostiziert auf Vorzeichen des Totalitarismus.


Marta Kijowska
Die Tinte ist ein Zündstoff
Stanislaw Jerzy Lec - der Meister des unfrisierten Denkens
Hanser Verlag, München 2009, 17,90 Euro



Der Lyriker und Aphoristiker Stanislaw Jerzy Lec wurde noch im k.u.k.-Polen geboren, war im KZ und hat die Wirren im Polen der Nachkriegszeit bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1966 ausgekostet - inklusive einer Emigration nach Israel und Rückkehr nach Polen. Thomas Urban hat für die SZ ein anschauliches Epochenbild aus dem Polen der Nachkriegszeit gerwonnen. Für die NZZ hat Martin Pollack das Buch besprochen, der selbst ein bekannter Schriftsteller ist. Er rät nach der Lektüre von Marta Kijowskas biografischer Skizze zu einer Neubesichtigung von Lecs auch in Deutschland einst sehr populärem Werk.


E.M. Cioran:
Werke
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008, 30 Euro



Ein Trumm. 2000 Seiten Cioran in Broschur. Diese Art "Quarto"-Ausgaben hat in Frankreich der Verlag Gallimard erfunden, Suhrkamp folgt dem Modell. Wie soll man die sechzehn hier zusammengebundenen Werke würdigen? Ludger Lütkehaus zeigt sich in seiner NZZ-Kritik verführt durch Ciorans einzigartige Mischung aus Witz und Finsternis. Besonders lobt er auch das Glossar zu Ciorans Werk. Zu Ciorans frühen faschistischen Neigungen findet man in dieser Ausgabe allerdings nichts, merkt der Rezensent an, und empfiehlt hierzu Bernd Mattheus' vor zwei Jahren erschienene Cioran-Biografie.


Philip Gourevitch, Errol Morris
Die Geschichte von Abu Ghraib
Carl Hanser Verlag, München 2009, 19,90 Euro



Philip Gourevitch ist durch eine große Reportage über den Völkermord in Ruanda bekannt geworden und schrieb häufig für den New Yorker. Heute leitet er die hauchfeine (meist aber stinklangweilige) Paris Review. Nebenbei hatte er genug Zeit um zusammen mit dem Dokumentarfilmer Errol Morris "Die Geschichte von Abu Ghraib" zu recherchieren. Geradezu dankbar äußert sich Thomas Leuchtenmüller in der NZZ über den nüchternen, aber keinesfalls farblosen Stil des Buchs und den Verzicht auf Fotos, die sich ohnehin fest genug ins Gedächtnis gebrannt haben. Durch ihre stichhaltige und dichte Darstellung schaffen es die Autoren, auch die Dimension persönlichen Versagens auf vielen Ebenen zu ergreifen. Ähnlich sah es der bekannte Politologe Herfried Münkler in der Zeit.


Philipp Blom
Der taumelnde Kontinent
Europa 1900-1914
Carl Hanser Verlag, München 2009, 25,90 Euro



Philip Blom gehört wie Rüdiger Safranski oder Brigitte Hamann zu den "freien" Historikern, und oft haben gerade diese den Mut zu wahren Synthesen - an den Unis gelten derartige Ambitionen nicht selten als unhöflich. Bloms Blick auf die kurze Zeitspanne von 1900 bis 1914 hat die Rezensenten überzeugt, wenn auch nicht ganz ohne Reserven. Zunächst wird die Idee gewürdigt: Kaum eine Zeit war kulturell und wissenschaftlich reicher als diese paar Jahre, in denen die Physik mit Newton, die Malerei mit der Gegenständlichkeit und die Musik mit der Tonalität brachen. Allerdings führt Bloms kunstvolle Konstruktion des Bandes nach Meinung einiger Rezensenten zu Redundanzen. Die Parallelisierung der Vorkriegsjahre des Ersten Weltkriegs mit ihrer Tendenz zu Terror und Extremismus mit unserer heutigen Zeit, hat den einen unheimlich, den anderen peinlich berührt. Insgesamt sind sich die Rezensenten in taz, SZ und FR einig: höchst anregend.


Bildband

Edvard Koinberg
Herbarium Amoris
Das Liebesleben der Pflanzen
Taschen Verlag, Köln 2009, 29,99 Euro



Haben Pflanzen Sex? Absolut, meinte der schwedische Naturforscher Carl von Linne. 1729/30 beschrieb er - damals noch Student - in seinem Manuskript "Praeludia Sponsaliorum Plantarum" die Sexualorgane der Pflanzen und ihre Fortpflanzung. Davon inspiriert fotografierte der Schwede Edvard Koinberg die Pflanzen in seinem Garten als erotische Objekte. Das Ergebnis versetzte die Journalisten in Erregung: 3sat fand die Fotos "zweideutig, verführerisch, lustvoll". Und die SZ dachte angesichts der prallen Stempel und Staubgefäße vor schwarzem Hintergrund an die Schönen der Nacht, an Models und an de Sade. Hier einige Bilder auf der Webseite zu Buch und Ausstellung.