Efeu - Die Kulturrundschau

Im Schaumbad mit der Kunst

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.06.2023. Navid Kermani trifft für die Zeit in Äthiopien den Jazzmusiker Mulatu Astatke und lernt: Jazz ist afrikanisch. Die Zeitungen bedanken sich bei Regisseur Christoph Hochhäusler für die Umarmung von Noir und Genre in seinem Thriller "Bis ans Ende der Nacht". Die FR erkundet in der Schirn die Freiheiten, die Plastik einst versprach. Die Zeit lauscht dem neuen It-Boy der Kunstwelt, dem Isländer Ragnar Kjartansson, der nackt in der Badewanne gefühlvolle Lieder singt, bis er heult.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.06.2023 finden Sie hier

Film

Undurchsichtiges Spiel: Timocin Ziegler und Thea Ehre schmusen "bis ans Ende der Nacht"

Die Feuilletons besprechen Christoph Hochhäuslers Noir-Thriller "Bis ans Ende der Nacht", in dem der schwule Cop Robert (Timocin Ziegler) als verdeckter Ermittler seinen Ex-Lover Lennart als Lockvogel einzuschleusen versucht, aber damit klarkommen muss, dass Lennart seit einer Haftstrafe Leni heißt und eine Frau ist (Thea Ehre). Perlentaucherin Stefanie Diekmann hat hier und da zwar Probleme mit dem Film und dessen Anhäufung von "generischem Material". Doch "das Geschenk, das Christoph Hochhäusler den Zuschauer:innen seines Films macht, ist neben der Kameraarbeit von Reinhold Vorschneider (choreografisch, eigenständig, der Erzählung immer nur zum Teil verpflichtet) die Besetzung. Die Anmut und Gelassenheit von Thea Ehre, die auf der Berlinale einen Silbernen Bären erhielt. (Warum den für die beste Nebenrolle, bleibt das Geheimnis der Jury). Die Erschöpfung der Figuren von Timocin Ziegler (Robert) und Michael Sideris (Victor). Die harsche, wache Intelligenz von Ioana Iacob (Nic), die im deutschsprachigen Kino der letzten Jahre häufiger gecastet wurde, aber immer noch nicht angemessen sichtbar ist."

Katja Nicodemus ist in der Zeit von diesem Noir sehr begeistert: Hochhäusler "holt dieses Genre der Nachtschwärmer, verlorenen Existenzen und urbanen Irrlichter ins deutsche Kino" und dreht es "weiter, erweitert ihn zur nachtdunklen condition humaine. Hier ist das ganze Leben ein Undercover-Einsatz in eigener Sache." In der FAS (aber heute online) dankt Peter Körte, trotz kleinerer Einwände, dem Filmemacher für dieses in Deutschland gewagte Unternehmen, den Sonntagabendkrimi-Standard hinter sich zu lassen und "nicht nur ein weiteres graues Beamtenfernsehspiel" vorzulegen, sondern Noir und Genre zu umarmen: "Neben Dominik Graf scheint er im deutschen Kino fast der Einzige zu sein, der die Tradition von Polizeifilm, Noir oder Gangsterepos nicht für museal hält. ... 'Bis ans Ende der Nacht' ist ein Film mit einem weiten Möglichkeitshorizont."

Als einer der wenigen Kritiker spricht Daniel Kothenschulte von der FR die eigenwillige Musikauswahl des Films an: "Unterlegt ist das fast nur bei Kunstlicht spielende Drama von Schlagerplatten aus den 40ern (von Zarah Leander und Evelyn Künnecke), 60ern und 70ern (Esther Ofarim, Howard Carpendale, Hildegard Knef), von denen man oft nicht weiß, ob sie nun in der Szene laufen oder eine kommentierende Ebene repräsentieren." Auf Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche wirkt der Film "konzeptuell oft schlüssiger als in der Umsetzung", tazlerin Barbara Schweizerhof schätzt den Reiz des Undurchsichtigen in den Figurenkonstellationen, doch dieser verliere sich "leider, weil der Film seiner so schön mit melodramatischen Unmöglichkeiten angefütterten Liebesgeschichte zu wenig Zeit widmet, um sie wirklich widerhallen zu lassen".

Weitere Artikel: Der Streik der amerikanischen Drehbuchautoren und die Sorge vor K.I. erschüttern Hollywood, schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel. Joachim Huber wirft für den Tagesspiegel einen Blick auf die neue Zählmethode von Netflix zur Ermittlung der eigenen Quote: Nicht mehr die gesehenen Stunden, sondern die Abrufe sind nun maßgeblich.

Besprochen werden Gene Stupnitskys Sommer-Teenagersexkomödie "No Hard Feelings" mit Jennifer Lawrence (Perlentaucher, Filmdienst, taz), Franck Duboscs "Die Rumba-Therapie" (Freitag), der Pixar-Animationsfilm "Elemental" (taz) und die auf Disney+ gezeigte Serie "Marie Antoinette" (FAZ). Außerdem informiert die SZ, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht.
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Literatur

Der Friedenspreis für Salman Rushdie (unser Resümee) ist auch eine gute Gelegenheit, den Schriftsteller mal nicht als Politikum (eine "obszöne Folge der Fatwa"), sondern als Künstler zu würdigen, kommentiert Adam Soboczynski in der Zeit: "Lesen Sie 'Mitternachtskinder' (1981), seinen Roman über das multikulturelle Bombay seiner Kindheit, über den Kolonialismus, aber auch über die Schattenseiten der indischen Unabhängigkeitsbewegung. Lesen Sie 'Die satanischen Verse' - jetzt aber wegen seiner barocken Sprachmacht und dem Hauptthema des Romans: der weltweiten Migration. Die geht bei Rushdie mit der Hoffnung einher, dass wir als Weltbürger unter Weltbürgern in Frieden leben könnten." Davon handle auch Rushdies aktueller Roman "Victory City". Bei unserem Online-Buchhandel Eichendorff21 finden Sie einen extra für diesen Zweck eingerichteten Büchertisch.

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Dirk Knipphals (taz), Andreas Platthaus (FAZ) und Peter Richter (SZ) berichten von der Gedenklesung bei Suhrkamp für Hans Magnus Enzensberger. Christine Raabe schreibt in der SZ zum Tod des Jugendbuchforschers Klaus Doderer.

Besprochen werden unter anderem Blake Baileys Biografie über Philip Roth (taz), James Kestrels Thriller "Fünf Winter" (FR), Djaimilia Pereira de Almeidas "Seebeben" (NZZ) und Anja Utlers Gedichtband "Es beginnt" (FAZ).
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Musik

Navid Kermani erzählt in der Zeit von seiner Reise nach Äthiopien, wo er den weltweit gefeierten Jazzmusiker Mulatu Astatke traf, in dessen Musik ihm bei dieser Reise erstmals die afrikanischen Elemente hörbar vors Ohr treten: "Jazz ist afrikanisch", ruft Astatke ihm daher auch prompt entgegen. Auf einen Essenzialismus will der Musiker dennoch nicht hinaus: "Jazz lasse sich nicht aufteilen in weiß oder schwarz. Wenn Charlie Parker oder John Coltrane improvisierten - was passiere da? Sie kombinierten die zwölf Töne des Westens mit afrikanischen Tonleitern, etwa aus der traditionellen Musik der Deraschi, eines Volks aus dem Süden Äthiopiens. ... 'Die äthiopische Tradition kennt nur vier Tonleitern, und ebendiese vier Tonleitern sind die Grundlage auch meiner Musik, daher klingt das so nah. Auf diese vier Tonleitern lege ich, vereinfacht gesagt, meine ganze Welt, alles, was mich geprägt hat, da ist der gesamte afrikanische Kontinent, da ist Charlie Parker, Beethoven, da ist sogar japanische Musik.'" Gehört hat Kermani übrigens diese Zusammenstellung:



Außerdem: J.R. Patterson spricht für VAN mit der Pianistin Angela Hewitt, die ihre Probleme mit der Popularität von Rachmaninow hat. Andreas Hartmann porträtiert in der taz die Berliner Jazz- und Klezmer-Band Der Singende Tresen. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen schreibt Arno Lücker in dieser Woche hier über Rosanna Scalfi Marcello und dort über Kate Loder.

Besprochen werden Keith Jarretts bereits vor 30 Jahren eingespielte, aber erst jetzt veröffentlichte Aufnahme der Sonaten von Carl Philipp Emanuel Bach (VAN), Anne-Sophie Mutters Konzert in der Berliner Philharmonie (Tsp), ein Auftritt der ukrainischen Sängerin Mariana Sadovska in Berlin (taz), ein Konzert von The Who in Berlin (Tsp) und das neue Album des Rappers Killer Mike (ZeitOnline).

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Bühne

Claudius Seidl und Simon Strauß schreiben in der FAZ je zum Achtzigsten des Schauspielers Klaus Maria Brandauer. In der Berliner Zeitung gratuliert Ulrich Seidler, in der SZ Christine Dössel.

Besprochen werden die Uraufführung von Kai Krösches "Linie Q. Ein No-Escape-Room" im Wiener WUK (nachtkritik), Christof Seeger Zurmühlens Stadtspiel "Dunkeldorf" beim Düsseldorfer Asphalt-Festival (nachtkritik), Monteverdis "Die Krönung der Poppea" am Theater Bremen (nmz), John Adams' "Nixon in China" an der Staatsoper Hannover (taz) und die Barockopern "David et Jonathas" und "L'Huomo" bei den Potsdamer Musikfestspielen (van).
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Stichwörter: Adams, John, Barockoper

Kunst

Plastic World, Otto Piene, Anemones: An Air Aquarium, 1976, Neuproduktion 2023, Installationsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2023, Foto: Norbert Miguletz


Plastik, das weiß inzwischen jeder, ist umweltschädlich. Aber es gab mal eine Zeit, in der Künstler dieses Material höchst anregend und befreiend fanden, wie man derzeit in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt sehen kann. Und Künstlerinnen arbeiteten "noch radikaler mit dem neuen Material als ihre männlichen Kollegen", erzählt Lisa Berin in der FR. "Sie waren ganz frei von Konventionen, denn für sie interessierte sich sowieso niemand, erklärt sich die Kuratorin den gewagten Griff zum neuen Material. 'Femme' von Nicola L aus dem Jahr 1968 ist ein gutes Beispiel: Auf einem plastiküberzogenen Sitzteil türmt sich der in Einzelteile zerlegte Körper einer Frau - Arme, Beine, Füße, Hände und Kopf als Kissen in ebenfalls abwaschbarer, glänzender Plastik-Ästhetik. Kiki Kogelnik zeichnete die Körper männlicher Kollegen nach, schnitt sie in Plastikfolie aus und hängte sie an Bügeln wie abgestreifte Häute auf."

In der Zeit blickt Hanno Rauterberg auf das Phänomen Ragnar Kjartansson, einen fülligen, mittelalten isländischen Künstler, der gern nackt in der Badewanne gefühlvolle Lieder singt, bis er heult. Auf ihn "können sich gerade so gut wie alle einigen. Weil er nicht abgeklärt ist wie viele andere Künstler, nicht cool, nicht zynisch. Weil er sich an die großen Gefühle heranwagt. An die innere Dunkelheit. Und weil es sonst in der Kunstwelt keinen anderen gibt, der so tiefmelancholisch und zugleich gewitzt von seiner Trauer erzählt, dem Schmerz, der totalen Vergeblichkeit. ... Wer sich auf Kjartanssons Video einlässt, das gerade mit vielen weiteren seiner Werke in Kopenhagen gezeigt wird, ist verblüfft über den enormen Sog, den es erzeugt. Draußen vor dem Museum Louisiana glitzert die Ostsee, ein Frühsommertag. Drinnen, im abgedunkelten Saal, schwelgt der Künstler in Trübsal. Und die Menschen drängt es hinein, wie gebannt harren sie aus, warten auf was auch immer. Eine Stunde lang im Schaumbad mit der Kunst, als könnte es Schöneres nicht geben."

Hier bekommt man einen kleinen Eindruck:



Weitere Artikel: Manuel Brug ärgert sich in der Welt darüber, dass die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten, um Geld zu sparen, die Bildergalerie im Potsdamer Park Sanssouci und das Schloss Glienicke in Berlin-Zehlendorf 2024 schließen will: Dann wird auch Caravaggios "Ungläubiger Thomas" weggesperrt sein. Helga Meister unterhält sich für den Tagesspiegel mit Wiebke Siem über deren Ausstellung "Das maximale Minimum" im Kunstmuseum Bonn und den Kunstbetrieb. In 54books rümpft Johannes Franzen die Nase über das NZZ-Interview mit Neo Rauch (unser Resümee), dessen "weihevolle Beschwörung" des Geniekults ihm ebenso zuwider ist wie Rauchs politische Ansichten.

Besprochen werden die Hugo-van-der-Goes-Ausstellung in der Gemäldegalerie Berlin (NZZ), die Online-Ausstellung "Blicke von Migranten auf ihr Leben in der DDR" des De-Zentralbild-Archivs (BlZ), "Otto - Die Ausstellung", die der Komiker Otto dem Maler Otto zum Fünfundsiebzigsten im Buchheim Museum in Bernried spendiert hat (FAZ) und die von Karina Bisch & Nicolas Chardon kuratierte Jubiläumsschau "Squares and Roses" zum vor vierzig Jahren eröffneten Anbau des Kunstmuseums Bochum (FAZ).
Archiv: Kunst