Efeu - Die Kulturrundschau

Wie viel Luft Worte brauchen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.12.2023. Die Nachtkritik sendet einen hoffnungsvollen Brief aus Ungarn, wo die freie Theaterszene roh und minimalistisch Orbans Repressionen trotzt. Erschüttert blickt der Standard in Wien auf Fotos von Laia Abril, die in Stillleben Schicksale von Frauen dokumentiert, die nicht legal abtreiben dürfen. Das Schweigen der Berliner Clubszene zum Massaker vom 7. Oktober hat wohl auch mit der vom Berliner Kultursenat geförderten Awareness-Akademie zu tun, die sich für die Diskriminierung von Juden wenig interessiert, bemerkt der Tagesspiegel.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.12.2023 finden Sie hier

Bühne

Bild: Mikolt Tózsa in "God, Homeland, Kitchen" © Dunapart
Nachtkritikerin Esther Slevogt sendet einen Theaterbrief aus Ungarn, der trotz aller kulturpolitischen Repressionen der Orban-Regierung hoffnungsvoll stimmt. Denn die freie Theaterszene lässt sich nicht unterkriegen, wie Slevogt beim Dunapart-Festival erkennt, dass coronabedingt nach vier Jahren Pause nun wieder stattfinden konnte: "Schon 2019 war unübersehbar, dass eine neue Generation von Theatermachern herangewachsen war. Jetzt, eine Pandemie, einen russischen Angriffskrieg und viele innenpolitische Restriktionen später, steht ein neues Theater vor seinem Publikum: roh, minimalistisch und ausdrucksstark - das Zeugnis neuer Produktionsbedingungen, die diese Kunst durch den rabiaten Entzug staatlicher Mittel auf sich selbst zurückgeworfen haben. Das wird auch bei der starken Performerin Mikolt Tózsa aus dem ersten Jahrgang der 'Free SZFE' deutlich, die mit ihrem Stück 'God, Homeland, Kitchen' mit wenigen Requisiten und von dokumentarischen Tonaufnahmen mit Polit-Reden und verlesenen staatlichen Verordnungen begleitet, ein bestürzendes wie abgründiges Bild der Lage von Frauen im immer weiter nach rechts abdriftenden Land zeichnet."

Bild: Szene aus "Karl May". Foto: Luna Zscharnt

Ein Stück mit dem Titel "Karl May" - muss das ausgerechnet jetzt sein, fragt sich Jolinde Hüchtker in der Zeit. Unbedingt - wenn es nach Enis Maci und Mazlum Nergiz geht, die das Stück geschrieben und an der Berliner Volksbühne inszeniert haben. Und Hüchtker stimmt zu, denn das Stück widmet sich "erfrischend neugierig den Nebenschauplätzen der Karl-May-Debatte. (...) Auf der Bühne führen ein Psychiater (Oscar Olivo), ein Bullriding-Betreiber (Martin Wuttke) und eine Hotelangestellte (Ann Göbel) durch eine gewaltige Geschichte. Auf der Leinwand leuchten Jahreszahlen von Kolonialkriegen, der ersten Kreuzfahrt und Western-Filmpremieren auf, davor spielen die drei Darsteller Karl-May-Szenen nach." Hüchtker ist glücklich: "Dies ist ein Stück über den Versuch, den Fremden zu imaginieren, um sich selbst zu sehen. Auf dieser Bühne ist alles Fake, alles wahr, alles Entertainment, solange niemand vom Bullen fällt. Also halten sie sich fest, Karl May an Old Shatterhand, die Buffalo Bills an der Haut ihrer Opfer, die deutschen Trucker am American dream, nur Enis Maci und Mazlum Nergiz halten nicht fest an der altbekannten Debatte - was für ein Glück."

Besprochen werden Bettina Rehms Inszenierung von Andreas Sauers Stück "Schwemmholz" an der Berliner Vagantenbühne (Tsp), die Wiederaufnahme des "Rosenkavalier", inszeniert von Christoph Waltz am Grand Théâtre de Genève und unter dem Dirigat von Joana Mallwitz an der Staatsoper Berlin (VAN-Magazin hier und hier) und Jan Bosses Inszenierung von Ferdinand Schmalz' "Hildensaga. Ein Königinnendrama" am Wiener Burgtheater (FAZ).
Archiv: Bühne

Film

Kinematografische Comic-Art: "Rebel Moon"

Zack Snyders Science-Fiction-Blockbuster "Rebel Moon" war seitens des Regisseurs mal als Teil des Star-Wars-Erzähluniversums angelegt, ging dann aber doch eigene Wege - zum Glück, findet Lukas Foerster im Perlentaucher, denn der Regisseur "kostet in seinem neuen Werk die Freiheit, ohne Rücksicht auf vorgängige intellectual properties eine neue Welt kreieren zu können, aus vollen Zügen aus." Pubertär bleibt die Schau zwar dennoch. "Einerseits. Andererseits: wenn schon pubertäre Kinderzimmerfantasien, dann bitte so. Denn dass Snyders Kino eines ist, das nicht erwachsen werden will, heißt vor allem, dass es sich nicht mit dem 'vernünftigen' Normalmaß abspeisen lassen möchte, auf das das 'erwachsene' Kino seine Bilder zurechtschneidet. Die Bilder sollen immer größer werden, immer verführerischer glänzen. ... Wie schon in der je nach Perspektive poly- oder kakophonen Zombie-Schlachtplatte 'Army of the Dead' arbeitet Snyder in 'Rebel Moon' viel mit hohen Brennweiten und entsprechenden Unschärfeexzessen - eine Technik, die er inzwischen geschmeidiger zu handhaben versteht und immer wieder mit irrlichternd-psychedelischer Farbgebung kombiniert. Der Effekt ist, for better or worse, kinematografische Comic-Art, direkt ins Lustzentrum geknallte Panel-Ikonografie statt sauber durchkonstruierter Illusionsräume."

Weitere Artikel: Valerie Dirk spricht für den Standard mit Wim Wenders über dessen neuen, in Welt und FR besprochenen Film "Perfect Days" (mehr dazu bereits hier). Die Filmkritiker vom Filmdienst küren ihre Lieblingsfilme 2023.

Besprochen werden die Wiederaufführung von Morris Engels, Ruth Orkins und Ray Ashleys "Little Fugitive" aus dem Jahr 1953, der als maßgeblicher Einfluss der französischen Nouvelle Vague gilt (FR), die auf DVD veröffentlichten Komödien von Pia Frankenberg aus den Achtzigern (taz), Sean Durkins Wrestlerdrama "The Iron Claw" (Tsp), Giovanni Pellegrinis Dokumentarfilm "Lagunaria" über Venedig (taz), die zweite Staffel von "Reacher" nach dem Roman "Bad Luck and Trouble" von Lee Child (TA), die Netflix-Serie "Code des Verbrechens" (Presse), Elisa Scheidts MDR-Doku "Tripperburgen" (FAZ) und die SRF-Serie "Davos 1917" (FAZ). Außerdem hier alle Filmstarts der Woche beim Filmdienst.
Archiv: Film

Literatur

Marie Luise Knott liest für den Perlentaucher die aktuelle Ausgabe des Schreibheft, das sich dem Lyriker Larry Eigner widmet, der seine Schreibmaschinengedichte mühsam seiner spastischen Lähmung abringen musste. "Unmittelbar erkennt man beim Lesen seiner Verse, wie viel Luft Worte brauchen, um sich drehen und wenden zu können. Beim Schreiben musste Eigner das Gesicht nahe über die Maschine beugen. Buchstabe für Buchstabe hackte er die Worte aufs Papier. Dort angekommen suchen sie sich zunächst wie Archen selbst zu verorten, bevor sich Konstellationen zeigen, luftige Verbindungen mit anderen auf dem Papier Vorhandenen. Von Arche zu Arche. Silben, Worte, Halbsätze spinnen Fäden des Hörens, Denkens und Sehens über Zeilen hinweg, gehalten werden sie von jenem Luft-Weißraum, auf dem sie schweben."

Außerdem: Benno Stieber berichtet in der taz von einer Stuttgarter Lesung von Texten über die Gewalt des "IS". Stefan Michalzik war für die FR bei einer Max-Goldt-Lesung.

Besprochen werden unter anderem der Band "Worte in finsteren Zeiten" (online nachgereicht von der FAZ) und Andrzej Stasiuks "Grenzfahrt" (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur
Stichwörter: Eigner, Larry, Lyrik

Kunst

Bild: !Mediengruppe Bitnik und Sven König, Download Finished. The Art of Filesharing, 2006, Copyleft: !Mediengruppe Bitnik & Sven König

"Glitches" sind Computerspielefehler, aber sie kommen auch in der Kunst vor - mal als Missgeschick, mal als bewusst produzierte Störung. Den Reiz jener Störungen erkannten schon Fotografen wie Germaine Krull oder Evelyn Richter, erinnert Jörg Häntzschel, der für die SZ die Ausstellung "Glitch" in der Münchner Pinakothek der Moderne besucht hat: "Heute, wo auch achtlos geknipste Bilder makellos sind, wo sie das Original teils sogar an Perfektion übertreffen und aus pickligen Teenie-Gesichtern Algorithmus-konforme Schönheiten machen, wo also das Medium keine Fehler produziert, sondern die Fehler der Wirklichkeit ausbügelt, muss man sich als Glitch-Künstler schon etwas einfallen lassen. Die einen werden in den abgelegeneren Provinzen des Digitalen fündig, dort, wo es noch krude und vorläufig zugeht: Mame-Diarra Niang etwa hat sich während des Lockdowns durch die Straßen Südafrikas auf Google Street View geklickt und Screenshots der von den vorbeifahrenden Kameras zu bunten Geistern verzerrten Anwohner vor ihren Häusern gesammelt. Mehr Surrealismus braucht man nicht."

"Die ganze japanische Kunst in nuce" findet Stefan Trinks (FAZ) im Kölner Museum für Ostasiatische Kunst, das in der Ausstellung "Meister & Mythen" sechzig der schönsten Netsuke aus der Sammlung Karl-Ludwig Kley zeigt. "Von den drei berühmtesten Netsuke-Schnitzern der Edo-Zeit, die von 1603 bis 1868 reicht und die längste Friedensphase der japanischen Geschichte und damit eine der Prosperität darstellt, gibt es gleich mehrere Werke. Von jedem der drei wird in einer eigenen Vitrine in der Mitte des Raums eine Spitzenarbeit gezeigt. Bereits der Erste namens Yoshinaga stammt aus der ehrwürdigen Kaiserstadt Kyōto. Sein Stil ist expressiv und eigen, seine Arbeiten weisen markante Charakteristika wie die mit wenigen Strichen tief eingeschnittenen Augenbrauen auf, die weniger als einen Millimeter breit sind. Sein 'Schlangenmensch' von Yoshinaga etwa legt derart gekonnt sein linear dürres Beinchen hinter den Kopf und seine Finger hakenförmig in die gebogene Zehen des Fußes, dass sich der denkbar größte Kontrast zum kugeligen Bauch in der Leibesmitte des Kontorsionisten mit seinem ornamentierten Nabel ergibt."

Bild: Laia Abril, Illegal Instrument Kit, On Abortion, 2016 © Laia Abril

Pro Jahr sterben etwa 47.000 Frauen, weil sie keinen Zugang zu legaler Abtreibung haben, erfährt Caroline Schluge (Standard) in der so erschütternden wie einfühlsamen Fotoausstellung "On Abortion" im Foto Arsenal Wien, das das Langzeitprojekt der katalanischen Künstlerin Laia Abril zeigt: "Mittels Bildgeschichten porträtiert Abril Personen, die heimlich einen Abbruch vorgenommen haben, zeigt Fahndungsfotos von Ärzten und Hebammen und Plakate von Pro-Life-Kampagnen aus den USA. Am stärksten wird die Schau aber immer dann, wenn sie von Einzelschicksalen Abstand nimmt und Stillleben zeigt: Bilder einer Badewanne, gefüllt mit brühend heißem Wasser, giftiger Pflanzen oder eines Kleiderbügels aus Draht gehen unter die Haut, ohne zu verstören."

Außerdem: Der von Lucas Cranach d. Ä. entworfene und von Michael Triegel bearbeitete Altar ist nach einem "lächerlichen Streit" nicht nur zurück im Naumburger Dom, sondern wurde auch als "Religious Heritage Innovator of the Year 2023" ausgezeichnet, freut sich Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung. Ebenfalls in der Berliner Zeitung schreibt Ingeborg Ruthe den Nachruf auf den im Alter von 89 Jahren verstorbenen italienischen Pionier der Arte Povera Giovanni Anselmo.

Besprochen werden die Ausstellung "v01ces - Die menschliche Stimme im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz" in der Berliner Galerie Nord / Kunstverein Tiergarten (taz) und die Ausstellung "Holbein at the Tudor Court" in der The Queen's Gallery im Buckingham Palace (Tsp).
Archiv: Kunst

Musik

Andreas Hartmann hat für den Tagesspiegel in der Berliner Clubszene recherchiert, die sich zum Hamas-Massaker vom 7. Oktober bislang vornehm schweigsam zeigt, wenn sie nicht gar lautstark ins Konzert der Palästina-Solidarität eingestiegen ist. Dies sei wohl auch auf den wachsenden, wenngleich nicht völlig konfliktfreien Einfluss der vom Berliner Kultursenat und dem Musicboard geförderten Awareness-Akademie auf die Berliner Clubcomission zurückzuführen, die mit Workshops und Handreichungen Rassismus und Sexismus in der Clubszene eindämmen will: "Angesichts des Wusts aus Materialien bleibt eine von Diskriminierung betroffene Personengruppe außen vor: Juden und Jüdinnen. Antisemitismus wird bei den bereitgestellten Ressourcen nicht verhandelt. Mitgegründet wurde die Awareness Akademie von Lewamm Ghebremariam, geschäftsführendem Vorstandsmitglied der Clubcommission. Diese sorgte nach dem 7. Oktober für Irritationen, als sie Instagram-Storys mit den Slogans 'From the River to the Sea - Palestine will be free' und 'Free Palestine from German guilt' likte. Ein weiterer gelikter Instagram-Beitrag lässt sich als Umdeutung des Hamas-Massakers hin zum legitimen Widerstand deuten."

In der Zeit widerspricht Mascha Stanzel Christine Lemke-Matwey, die vergangene Woche und ebenfalls in der Zeit Taylor Swift der Mittelmäßigkeit geziehen hat (unser Resümee): "Es ist ein gängiges Schema der Boomer-Generation, so den Erfolg heutiger Popstars zu erklären. ... In Taylor Swifts Songs erkennen wir uns selbst, das, was wir erleben und fühlen. Taylor Swift erzählt Geschichten, die wie Wunderkerzen funkeln. In der Popmusik gibt es gerade kein vielseitigeres und reicheres Gesamtkunstwerk als ihres. Von Little Taylor hat sich diese Frau zu ihrer eigenen Legende hochgearbeitet, sich ständig neu erfunden und für die Rechte an ihrer Musik gekämpft. Das ist großartig. Vielleicht fühlen sich ihre Leistungen so nahbar an, weil Swift ein weibliches Idol ist, das, anders als ihre Vorgängerinnen, nicht betont rebellisch auftritt (Madonna), drogensüchtig ist (Janis Joplin, Amy Winehouse) oder im Schatten eines mächtigen Mannes steht (viele)."

Außerdem: "Der Feminismus war 2023 der große gemeinsame popkulturelle Nenner", resümiert Martin Fischer im Tages-Anzeiger das Popjahr 2023. Für VAN spricht Hartmut Welscher mit der früheren Kulturstaatsministerin Christina Weiss über deren Leidenschaft für Neue Musik. Philip Schäfer spricht in der FAZ mit Hans-Christoph Rademann über dessen Pläne für die "Vision.Bach" in Stuttgart. Clemens Haustein (FAZ) und Julia Spinola (NZZ) gratulieren dem Pianisten András Schiff zum siebzigsten Geburtstag.

Besprochen werden Teodor Currentzis' in Berlin aufgeführtes Mahler-Projekt ("eine ästhetische Ansage sondergleichen", staunt Albrecht Selge in VAN, mehr dazu bereits hier), eine neue Mozart-Aufnahme des Ensemble Resonanz (VAN), ein Liederabend mit Andrè Schuen und Daniel Heide in Frankfurt (FR) und neue R&B-Veröffentlichungen, darunter "Girl in the Half Pearl" von Liv.E (taz).

Archiv: Musik

Architektur

Im kommenden Jahr soll Notre Dame fertig sein - "heller denn je", etwas mehr als fünf Jahre nach dem Brand, berichtet Oliver Meiler in der SZ. Ob das nun schnell ist oder nicht, ist im Grunde gleich, denn Emmanuel Macron hatte den Wiederaufbau ohnehin als Ausdruck des französischen - und nicht zuletzt seines Willens inszeniert, so Meiler: "Am Tag nach dem Brand ernannte der Präsident einen Sonderbeauftragten für den Wiederaufbau, das war auch nötig. Die Kathedrale, die dem Staat gehört, musste zunächst gesichert werden, damit nicht noch mehr verloren ging, noch mehr einkrachte. Unterdessen lief die Spendenaktion an, wieder Rekordzahlen: 845 Millionen Euro gingen ein, aus 150 Ländern, von 340 000 Spendern. Genug, um das Wunder zu finanzieren, ohne Steuergelder. Es wird, wie man heute weiß, sogar noch etwas übrig bleiben für spätere Arbeiten. Nur ein paar Monate nach dem Brand beschloss das französische Parlament die Bildung einer öffentlichen Einrichtung, die sich um alles kümmern sollte, die Rekrutierung der besten Architekten und Ingenieure im Land, der besten Handwerker und Kunsthandwerker."
Archiv: Architektur