Efeu - Die Kulturrundschau
In Einsamkeit ausnüchtern
Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.12.2023. Die Kritiker berauschen sich bei Barrie Koskys Inszenierung der Strauss'schen "Fledermaus" im Münchner Nationaltheater an Glitzer und Champagner. Die Disney-Serie "Deutsches Haus" über den ersten Auschwitz-Prozess ist fast schon zu gut für die Möglichkeiten ihres Formats, findet die Jungle World. Der Anti-Israelfuror im britischen Pop ist gerade bei jenen besonders absurd, die sich sonst die queere Sache auf die Fahne schreiben, findet die FR. Frankreich feiert Gustave Eiffel - aber die Idee für den berühmten Turm kommt eigentlich aus der Schweiz, hüstelt die NZZ. Die Welt wird beige und monochrom, glaubt die Welt.
9punkt - Die Debattenrundschau
vom
27.12.2023
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Bühne
"Barrie Koskys offensives Bekenntnis zu 'Klamauk, Gaudi, Unsinn, Albernheit usw.… gerade in diesen düsteren Zeiten' führte zu zweieinhalb Stunden amüsanter Federboa-Unterhaltung", lobt auch Wolf-Dieter Peter in der nmz. Wer sich hier nicht amüsiert, sitzt einem Missverständnis auf, meint Markus Thiel in der FR: "Koskys Version von Akt drei ist das Beste dieser Premiere. Die Bayerische Staatsoper hat sich den Ex-Chef von Berlins Komischer Oper geholt - und exakt das Bestellte bekommen. Wer das bemäkelt, meist aus der Fraktion der Theatervielseher, übersieht das Wichtigste: Einen solchen überdrehten, augenzwinkernden, glitzer-glamourösen Abend kriegt derzeit nur einer hin." In der FAZ rümpft Christian Gohlke das Näschen: "Eine Aneinanderreihung solide gemachter Szenen ergibt noch lange keine stimmige Inszenierung. Rasch erweisen sich die Figuren in seiner Regie als derart übersteigert und stereotyp, dass nicht immer klar ist, ob das Genre der Operette hier lustvoll bedient oder höhnisch der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Jede Geste, jede Wendung, jeder Tonfall wirkt wie dem Fundus eines drittklassigen Provinztheaters entnommen."
Weitere Artikel: Ljubiša Tošić annonciert im Standard die Winterfestspiele in Erl. In der Zeit denkt Ijoma Mangold anlässlich einer "Dornröschen"-Aufführung über klassisches Ballett und Body-Positivity nach. Alexander Menden unterhält sich für die SZ mit Kathrin Mädler, seit Herbst Intendantin des Theaters Oberhausen, und bescheinigt ihrer Arbeit "eine guten Mischung aus Herz und Kopf".
Besprochen werden Kurt Weills und Georg Kaisers "Der Silbersee. Ein Wintermärchen" am Nationaltheater Mannheim (nmz), Esther Slevogts Buch über das Deutsche Theater Berlin (taz) und Christopher Rüpings Inszenierung von Tschechows "Möwe" am Schauspielhaus Zürich (nachtkritik, SZ, FAZ)
Architektur
Außerdem: Niklas Maak besucht für die FAZ in Arles das Atelier Luma, wo man an bioregionalen Baumaterialien bastelt.
Film
2023 könnte als das Jahr in die Filmgeschichte eingehen, das das Ende der Superhelden-Hegemonie im Mainstreamkino einläutete, schreibt David Steinitz in der SZ: Jedenfalls erwiesen sich einschlägige Produktionen an den Kinokassen zuletzt meist als Senkblei - anders als "Barbie" (unsere Kritik): "Kulturpessimistisch betrachtet löst auf den ersten Blick also einfach ein Großkonzern den anderen ab: von Marvel zu Mattel. Andererseits hat 'Barbie' durchaus das Potenzial, der Filmbranche nicht nur eine neue Franchise-Welle zu bescheren, sondern tatsächlich andere Filme. Denn trotz aller Beteuerungen war Hollywood auch in den letzten Jahren vor allem ein Ort, an dem Männer Filme für Männer gemacht haben." Doch "dass ein Film, in den mehr Frauen gehen als Männer, es an die Spitze der Jahrescharts schafft, und zwar weltweit, könnte in Hollywood vielleicht doch mal das Bewusstsein verstärken, dass es eine relativ große Zuschauerschaft jenseits von 15-jährigen Superhelden-Nerds gibt."
Georg Seeßlen kann sich in der Jungle World Matthias Dells Kritik an der Disney-Serie "Deutsches Haus" über den ersten Auschwitzprozess nicht anschließen, greift aber dessen Fazit (unser Resümee) als Angebot zu Diskussion auf. Eine Diskurswirkung wie einst bei "Holocaust" oder "Schindler Liste" mag sich hier zwar nicht einstellen, "vielleicht sogar paradoxerweise deswegen, weil die Serie nach den Möglichkeiten des Formats zu gut ist. ... Degeto was not here, glücklicherweise - nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn eine oder mehrere Redaktionen der ARD ins Konzept hineingeredet hätten. So konnte 'Deutsches Haus' als Glücksfall entstehen, eine Art Autorenserie, die das Format der dekonstruktiven Serie für eine Erinnerungsarbeit nutzt, die genau zur rechten Zeit erscheint - wenn sie denn ein Publikum erreichen würde, das noch empfänglich für ein Um- und Neudenken wäre. Dann erst würde es sich wohl lohnen, die Debatte über die Darstellung des Nichtdarstellbaren wieder aufzunehmen."
Weitere Artikel: Thomas Abeltshauser spricht für die taz mit Regisseur J. A. Bayona über dessen "Die Schneegesellschaft", über den bereits zuvor verfilmten Flugzeugabsturz 1972 in den Anden, dessen Überlebende sich nur mit Kannibalismus retten konnten. Außerdem küren die SZ-Kritiker ihre Lieblingsserien 2023.
Besprochen werden Emerald Fennells "Saltburn" (Tsp, mehr dazu bereits hier), die von ARD online gestellte Serie "Davos 1917" (Welt), Andrew Legges "Lola" (SZ) und Nicolas Philiberts Berlinalegewinner "Auf der Adamant", der in Deutschland bereits im September startete (Standard, unsere Kritik).
Literatur
In der NZZ führt Sergei Gerasimow weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Juri Durkot tut es ihm in der Welt aus Lemberg gleich. Thomas Hummitzsch resümiert in seinem Intellectures-Blog das Literaturjahr 2023.
Besprochen werden unter anderem Lea Singers "Die Heilige des Trinkers. Joseph Roths vergessene Liebe" (Standard), Hans Thills "Neue Dörfer" (FR), neue Comics über Depression (Tsp), Michael Maars "Leoparden im Tempel - Porträts großer Schriftsteller" (SZ) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Jean-Claude Mourlevats "Jefferson tut, was er kann" (FAZ).
In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Urs Heftrich über Bohdan-Ihor Antonytschs "Die Posaunen des Jüngsten Tags":
"Gebäude, steinern, hundertstöckig, schlafen wie erschöpfte Tiere.
Die Geografen malen mit der Kreide Sterne auf die Himmelskarte ..."
Besprochen werden unter anderem Lea Singers "Die Heilige des Trinkers. Joseph Roths vergessene Liebe" (Standard), Hans Thills "Neue Dörfer" (FR), neue Comics über Depression (Tsp), Michael Maars "Leoparden im Tempel - Porträts großer Schriftsteller" (SZ) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Jean-Claude Mourlevats "Jefferson tut, was er kann" (FAZ).
In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Urs Heftrich über Bohdan-Ihor Antonytschs "Die Posaunen des Jüngsten Tags":
"Gebäude, steinern, hundertstöckig, schlafen wie erschöpfte Tiere.
Die Geografen malen mit der Kreide Sterne auf die Himmelskarte ..."
Kunst
Außerdem: Manuel Brug bewundert für die Welt venezianische Malerei in der Alten Pinakothek in München.
Design
Nicht nur das von Pantone ausgerufene "Peach Fuzz" als Farbe des Jahres (unser Resümee) zeigt Peter Praschl (Welt): Der Trend geht in der Farbenwelt in Richtung Unaufgeregtheit - Entspannt- statt Grellheit. Hinzu kommt, dass immer mehr Prominente und "Instagram-Berühmtheiten" das Beige aus der Spießer- und Rentner-Ecke holen. Zu erleben "ist ein Minimalismus, der niemandem wehtut. Keine Kanten, nichts Hartes, nichts, das wie ein forsches Statement wirkt. Stattdessen: sandige Sanftheit, pastelliges Understatement." Ferner gibt es "in der westlichen Kultur eine äonenalte Farbenallergie, sagt der schottische Künstler und Autor David Batchelor, der ein lesenswertes Buch über 'Chromophobie' geschrieben hat, wie der wissenschaftliche Ausdruck für die Aversion gegen alles Bunte lautet. Seit der Antike, heißt es darin, werden Farben 'systematisch verdrängt, verleumdet, abgeschwächt und abgewertet'. ... Möglicherweise war Buntheit und Farbenpracht nur eine kurze Periode in der Geschichte der westlichen Kultur, eine Art kollektiver Rausch von Menschen, die plötzlich Kunststoffe und Textilien in industriellem Ausmaß färben konnten und einander aufreizen, anlocken und verwirren wollten, ehe sie schließlich doch noch bemerkten, dass die Langeweile von Beige, Greige und Pfirsich viel besser zu ihnen passt und gesünder für ihr mentales Wohlbefinden ist."
Musik
Die britische Popszene ist fest im Griff der BDS-Lobbyisten, schreibt Klaus Walter in seinem historischen Überblick für die FR. Dies habe mit einer "Spielart britischen Schuldbewusstseins" zu tun, da das United Kingdom für die israelische Geschichte eine maßgebliche Rolle spielte. Auf Roger Waters als besonders prominentes BDS-Aushängeschild könne man ja noch leicht verzichten, "tragisch ist dagegen, dass der Hang zum israelbezogenen Antisemitismus im britischen Pop vererbt wird. ... Wollte man der manichäischen Which-side-are-you-on-Logik folgen und schlicht zurückboykottieren, es blieben große Lücken in Plattenregalen und Playlists." Ziemlich "grotesk wirkt der Anti-Israel-Furor bei Leuten, die sich und ihre Kunst explizit außerhalb der Heteronormen verorten und gegen homophobe und queerfeindliche Politiken wettern, wo nun Israel das einzige Land weit und breit ist, in dem Nichtheteros halbwegs gefahrlos leben können. Weist man auf diese Tatsache hin, wird gerne mit dem Vorwurf gekontert, Israel betreibe Pinkwashing, um sich von seiner Kolonialschuld reinzuwaschen. Von da ist es nicht mehr weit zur von Uganda bis Jamaika verbreiteten Behauptung, Homosexualität sei eine 'westliche', 'europäische' oder 'koloniale' Erfindung."
Die erste Hälfte des von Marc Minkowksi dirigierten Weihnachtskonzerts des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin konnte Tagesspiegel-Kritikerin Eleonore Büning zwar nur mäßig begeistern. Umso mehr überzeugte Bruckners Zweite in der zweiten: "Hier ist das RSB ganz und gar in seinem symphonischen Element. Brillant exerzieren die Musiker die mächtigen Unisonopassagen, auf den Punkt die blockhaften Kadenzen, zauberisch synchron tönen die lyrischen Holzbläserkantilenen, machtvoll der Posaunenchor, andächtig der Hörnerchoral im langsamen Satz. All diese Schönheiten stehen für sich. Minkowski stellt keinen Spannungsbogen her. Er schwelgt."
Außerdem: Philip Krohn sorgt sich in der FAZ um den Fortbestand der Hamburger Subkultur, nachdem dem Club Molotow der Mietvertrag gekündigt wurde. Stefan Aust und Martin Scholz sprechen für die Welt mit Joan Baez. Johanna Adorján spricht für die SZ (online gestellt vom Tagesanzeiger) mit Fabrice Morvan von Milli Vanilli, über die derzeit ein von Simon Verhoeven inszenierter (und in der Jungle World ausführlich besprochener) Film in den Kinos zu sehen ist. Elmar Krekeler erinnert in der Welt an den vor 250 Jahren verstorbenen Komponisten Joseph Woelfl, an dem trotz seiner erheblichen Popularität seinerzeit "bisher noch jeder Entdeckerfuror vorübergegangen" ist. Und die Welt-Kritiker küren ihre liebsten Klassikaufnahmen des Jahres.
Besprochen werden Kim Frankes ARD-Dokuserie über seine alte Band Echt (Zeit Online) und Isolées House-Album "Resort Island" ("Es überwindet mehrere Dekaden Microhouse, ohne je verstaubt zu klingen", versichert Lars Fleischmann in der taz).
Die erste Hälfte des von Marc Minkowksi dirigierten Weihnachtskonzerts des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin konnte Tagesspiegel-Kritikerin Eleonore Büning zwar nur mäßig begeistern. Umso mehr überzeugte Bruckners Zweite in der zweiten: "Hier ist das RSB ganz und gar in seinem symphonischen Element. Brillant exerzieren die Musiker die mächtigen Unisonopassagen, auf den Punkt die blockhaften Kadenzen, zauberisch synchron tönen die lyrischen Holzbläserkantilenen, machtvoll der Posaunenchor, andächtig der Hörnerchoral im langsamen Satz. All diese Schönheiten stehen für sich. Minkowski stellt keinen Spannungsbogen her. Er schwelgt."
Außerdem: Philip Krohn sorgt sich in der FAZ um den Fortbestand der Hamburger Subkultur, nachdem dem Club Molotow der Mietvertrag gekündigt wurde. Stefan Aust und Martin Scholz sprechen für die Welt mit Joan Baez. Johanna Adorján spricht für die SZ (online gestellt vom Tagesanzeiger) mit Fabrice Morvan von Milli Vanilli, über die derzeit ein von Simon Verhoeven inszenierter (und in der Jungle World ausführlich besprochener) Film in den Kinos zu sehen ist. Elmar Krekeler erinnert in der Welt an den vor 250 Jahren verstorbenen Komponisten Joseph Woelfl, an dem trotz seiner erheblichen Popularität seinerzeit "bisher noch jeder Entdeckerfuror vorübergegangen" ist. Und die Welt-Kritiker küren ihre liebsten Klassikaufnahmen des Jahres.
Besprochen werden Kim Frankes ARD-Dokuserie über seine alte Band Echt (Zeit Online) und Isolées House-Album "Resort Island" ("Es überwindet mehrere Dekaden Microhouse, ohne je verstaubt zu klingen", versichert Lars Fleischmann in der taz).
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