Essay

"Es macht ding und dann dong"

Eine Polemik zum Preis der Leipziger Buchmesse. Von Sieglinde Geisel
20.03.2008. Nichts gegen Clemens Meyer. Aber den Preis der Leipziger Buchmesse hat nicht er nicht für seine Kunst bekommen, sondern für seine Proleten, die einer spießigen Literaturkritik so schön exotisch erscheinen.
Nichts gegen Clemens Meyer. Es gibt nicht viele, die sich in Interviews so geben wie sie sind. "Ich möchte jetzt mal einen richtig großen Preis gewinnen, das sei mir doch auch mal vergönnt!", sagte er vor zwei Jahren, als er den Leipziger Preis nicht bekommen hatte und sich in Klagenfurt bewarb. Clemens Meyer ist ein Phänomen, allerdings kein literarisches. Über sein Schreiben sagt er: "Ich beschreibe Menschen, denen es nicht ganz so gut geht, gesellschaftlich und finanziell. Weil es da mehr Tragödienpotential gibt." Die Sprache jedoch, die einem in seinen Geschichten begegnet, hat für das Tragische kein Register. "Ich schließe die Augen und höre, wie die S-Bahn über die Brücke fährt. Ich öffne die Augen und sehe vier Zigarettenfilter, die neben mir auf dem Nachttisch stehen. Es macht ding und dann dong, und ich stehe auf. Ich gehe zum Fenster und blicke durch die Jalousien nach draußen", usw.

Die erstaunliche Karriere des Clemens Meyer ist symptomatisch für einen hyperaktiven Literaturbetrieb, in dem schlagzeilenfähige Exotik wichtiger ist als die Literatur. "Da wäre der fettsüchtige Lehrer, der sich in einer verpönten Liebe zu einem elfjährigen Mädchen verzehrt; der alte Mann, der seine Tiere begräbt, bevor er sich selbst verabschiedet; oder der Ex-Geschäftsmann, der in einem surrealistischen Delirium krepiert", so die Leipziger Jury in ihrer Begründung. Sie benennt die Schlüsselreize des Bildungslesers, der genug hat von all den schönen Fräuleins, den kapriziösen Intellektuellen und den ewigen Geschichten aus der Nazizeit, und der nun nach dem wahren Leben lechzt.

Doch statt selbst in die Prollkneipe an der Ecke zu gehen, lässt man sich Authentisches lieber zwischen zwei Buchdeckeln servieren. Immerhin hat man einen Autor, der es - als Bauarbeiter, Ex-Knacki, Biertrinker, Tattoo-Träger, Plattenbau-Bewohner - wissen muss. "Es war die Faszination durch das ganz Andere des Kulturbetriebs", hieß es in der Süddeutschen Zeitung über die Preisverleihung. "Das Versprechen, mit einer Welt in Berührung zu kommen, von der man sonst gewöhnlich keine Informationen aus erster Hand bekommt. Plötzlich wollten alle Meyers Tattoos berühren..."

Der tüchtige Schluck Bier, den sich Meyer genehmigte, bevor er zur Preisverleihung auf die Bühne kam, fehlte in keinem Messebericht, als wäre diese Geste wichtiger als das Buch, für das er ausgezeichnet wurde. Er träume davon, sich aus seiner Zweizimmer-Plattenbau-Erdgeschosswohnung "herauszuschreiben", sagte Clemens Meyer einst in einem Interview. Auch wenn er nun zu den besser bezahlten Autoren Deutschlands gehört, wird er sich den Umzug in einen schicken Altbau kaum leisten können, denn dann wäre es um sein Hart-aber-ehrlich-Image geschehen.

Das Preisgeld und sein Bier seien ihm gegönnt. Clemens Meyer ist nichts vorzuwerfen, außer vielleicht die Blauäugigkeit, mit der er sich die Vereinnahmung durch einen Literaturbetrieb gefallen lässt, der ihn als Exoten dazu benutzt, die eigene Spießigkeit zu feiern. Die Jury attestiert Clemens Meyer "sprachliche Eleganz", doch im Buch finden sich reihenweise Sätze wie dieser: "Das Zimmer, in dem ich sitze, ist ziemlich klein und scheiße."

Meyer entschlüssle die Schicksale seiner Figuren mit "großer Sanftheit", heißt es in der Jurybegründung weiter - ein bemerkenswert nebulöses Stilkriterium. Doch Stilkritik war gestern. Heute geraten Rezensenten ins Schwärmen, wenn es heißt, auf dem Balkon "klirren leise die leeren Bierflaschen". Diesem Mann aus dem wirklichen Leben wird es nachgesehen, dass er die gleichen Versatzstücke ("ihre Vorderzähne, die beiden in der Mitte waren ein kleines bisschen länger als die daneben, aber nur ein kleines bisschen") wörtlich in zwei verschiedenen Erzählungen bei zwei verschiedenen Figuren verwendet, dass er auch sonst viele Wendungen wiederholt, weil ihm keine anderen einfallen. Die Zeit brach in Jubel aus: "Hut ab! Der Mann kann was. Solche Erzähler braucht das Land."

Dies sind Symptome für einen Literaturbetrieb, der sich von der Literatur entfremdet hat. Schlüsselreiz-Leser fragen nicht nach dem Wie des Erzählens. Man nippt an der Simulation des wahren Lebens. In diesem Sinn ist Clemens Meyer eine bequeme Lektüre. Hier wird man nicht durch existenzielle Fragen aus der Wärme der eigenen Langeweile aufgeschreckt. Bei Wolfgang Hilbig war das anders. Auch er war ein schreibender Prolet, allerdings einer ohne Image, dafür mit einer eigenen Stimme. Kein Jahr nach Hilbigs Tod sind die Maßstäbe, die er gesetzt hat, schon wieder aus Blutkreislauf des kollektiven Lesens ausgeschieden. Der Literaturbetrieb prämiert die Bücher, die er verdient. Die Leser da draußen allerdings, die angesichts der Masse an Neuerscheinungen auf das Urteil von Jurys angewiesen sind, haben das Nachsehen.