Essay

Neue Zählweise

Von Berthold Seliger
10.08.2018. Fragen Sie mal Abiturienten, was eine Sonatenform ist, oder versuchen Sie, sich von diesen eine Bach-Fuge erklären zu lassen. Und Kinder aus ärmeren Haushalten haben kaum je Chancen, die klassische Musik überhaupt kennenzulernen. Es hat keinen Sinn, die Klassikkrise mit Schönungen der Statistik zu kaschieren.  Antwort auf einen Artikel des FAZ-Kritikers Jan Brachmann
Alle Jahre wieder lesen wir in den Feuilletons der bürgerlichen Presse davon, dass die "Klassikkrise" ein purer Fake sei und in Wahrheit so viele Menschen wie noch nie zuvor in der Erdengeschichte Konzerte mit klassischer Musik besuchen würden. Besonders tut sich mit derlei Propaganda der FAZ-Kritiker Jan Brachmann hervor, der 2016 bereits frohlockte, dass "die Zahl der Gäste von Orchesterkonzerten zwischen 2005 und 2013 von 3,9 auf knapp 5,2 Millionen angestiegen" sei und mithin die Behauptung, "das Publikum für klassische Musik schrumpfe", als bloßer Humbug betrachtet werden könne ("Es geht darum, wer den Ton angibt", FAZ vom 9.August 2016).

Zu dumm nur, dass Brachmann seinerzeit die vom Musik-Informationszentrum (MIZ) herausgegebene Statistik entweder nicht richtig gelesen oder nicht verstanden hat - denn im Kleingedruckten erklärte das MIZ ausdrücklich, dass sich der blitzartige Anstieg der Besucherzahlen ausschließlich aus einer neuen Zählweise ergab, die seit der Spielzeit 2005/06 "erstmals die Rundfunkklangkörper (wenn zunächst auch nur lückenhaft)" miteinbezieht und ab 2008/09 auch die "Besucher auswärtiger Veranstaltungen berücksichtigt". (Mehr hier in einem pdf-Dokument.)

Die vergleichsrelevanten Zahlen der Besucher von Orchesterkonzerten liegen 2005 wie 2013 bei knapp unter vier Millionen, allerdings bei einer stetig ansteigender Zahl von Konzerten (2005/06 waren es 8.653, in der Saison 2014/15 schon 9.306). Man könnte also auch behaupten, dass pro Orchesterkonzert immer weniger Menschen kommen.

Und dass die Zahl der Opernbesucher in Deutschland zwischen 2005 und 2013 von jährlich 4,5 auf 3,9 Millionen gesunken ist, ja, dass, vergleicht man mit den 7,5 Millionen Opernbesuchern des Jahres 1991, die Opern sogar in etwas mehr als zwei Jahrzehnten fast die Hälfte ihres Publikums verloren haben, verschweigt Brachmann wohlweislich, er zitiert nur Statistiken, die ihm in den Kram passen.

Nun hat Brachmann es wieder getan: In der FAZ vom 11.Juli 2018 vermeldet er: "Falscher Alarm"! Die "vielbeschworene 'Klassikkrise'" gebe es gar nicht (Perlentaucher-Resümee und Link zum Artikel). Damit antwortet er unter anderem auf mein jüngstes Buch "Klassikkampf" (siehe unten). Und zum Beleg seiner These hat er eine neue Statistik ausgegraben - nachdem es mit den Besuchern von Orchesterkonzerten und Opern nicht so recht klappen wollte, müssen jetzt die klassischen Musikfestivals herhalten, es kann einfach nicht sein, was nicht sein darf. Brachmann findet "Besucherrekorde" allerorten: "Die Statistiken des MIZ, die jedermann zugänglich sind, verzeichnen zwar zwischen 2005 und 2011 einen Rückgang des Interesses am Besuch klassischer Musikfestivals von 12,1 auf 8,0 Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung über vierzehn Jahre", muss Brachmann zugeben. "Doch seitdem hat sich der Trend umgekehrt. Inzwischen liegen wir wieder bei 10,5 Prozent". Von einem Besucherschwund kann also keine Rede sein? Nun, wenn man die Statistiken des MIZ, "die jedermann zugänglich sind", korrekt bewertet, dann stellt man unschwer fest, dass laut dieser Statistik hierzulande aktuell 16 Prozent weniger Menschen Festivals mit klassischer Musik besuchen als noch 2005.

Die Schlussfolgerung Brachmanns, dass "in Deutschland so viele Menschen klassische Musik hören wie noch nie zuvor", lässt sich jedenfalls mit den von ihm gewählten statistischen Zahlen nicht belegen und darf als bloße Behauptung gelten, da kann sie noch so sehr mit hübschen Anekdoten unterfüttert werden. Es klingt wie das berühmte Pfeifen im Walde, und man denkt an Politiker nach verlorenen Wahlen, die ihre krachende Niederlage durch Heranziehen von absurden Vergleichszahlen schönreden und irgendwie in Wahlsiege uminterpretieren.

Besonders drollig wird es, wenn Brachmann das Jahr 1871 heranzieht und erklärt, seitdem habe sich der Zahl der Menschen, die Konzerte und Opernaufführungen besuchen, "in absoluten Zahlen etwa versechzehnfacht". Ähnlich sinnvoll wäre die Betrachtung, dass heute "in absoluten Zahlen" ein paar Milliarden Menschen mehr Auto fahren als noch 1871. All das könnte möglicherweise mit der technologischen Entwicklung und mit Bildung für viele Bevölkerungsgruppen zu tun haben, die um 1871 davon noch weitgehend ausgeschlossen waren.

Nun sind reine Besucher- und Auslastungszahlen sowieso kein Garant für eine gesunde Musikszene großer Qualität. Die Besucherzahlen von "Fack ju Göhte" oder "Keinohrhasen" lassen auch nur schwerlich Rückschlüsse auf die Qualität und das Niveau deutscher Filmkunst zu. Im Zweifel rennen viele Menschen zu David Garrett und André Rieu (deren Konzerte in den Klassik-Besucherstatistiken zum Teil enthalten sind).

Doch lassen wir die Statistiken mal beiseite - die wollen ja auch wissen, dass hierzulande 12,1 Prozent aller Menschen mit einem monatlichen Nettoeinkommen von weniger als 1.500 Euro klassische Musikfestivals besuchen. Keine Ahnung, wie die Statistiker das herausgefunden haben wollen. Ich kaufe nun seit mehr als vier Jahrzehnten Tickets für klassische Konzerte, und mich hat noch nie jemand nach meinem Nettoeinkommen gefragt. Aber wenn ich mich in den klassischen Konzerten, auf den Festivals oder in der Oper umsehe, stelle ich auch ohne jede Statistik zweierlei fest: Das Publikum ist überaltert - was keinesfalls als Beschimpfung weißhaariger Menschen meines Alters missverstanden werden sollte, sondern einfach bedeutet, dass zu wenig junge Menschen in Klassik-Konzerte finden.

Und: Arbeiter, Verkäuferinnen oder Landwirte besuchen diese Veranstaltungen gar nicht. Das Bildungsbürgertum, Ober- und Mittelschicht sind hier komplett unter sich. Keine andere Musikart ist so einheitlich bildungshoch gebunden wie die klassische Musik. Mehr als 80 Prozent ihrer Besucher haben Abitur. Natürlich bedeutet dies auch, dass die Bildungselite diese Musik als kulturelles Kapital begreift und ihr erworbenes Bildungskapital zur Schau stellt. Und in keiner anderen Musikkultur ist das Nichtwissen so sehr gleichbedeutend mit Nicht-mitreden-Dürfen wie in der Klassik.

Natürlich besteht in einer demokratischen Gesellschaft genau in der Tatsache, dass in Klassikkonzerten und Opern die Menschen um einem herum im Zuschauerraum nicht annähernd die Vielfalt der Gesellschaft abbilden, ein massives Problem - denn die meisten derartigen Aufführungen werden hierzulande ja von der Gemeinschaft finanziert. Allein deshalb muss es ein gesellschaftliches Ziel sein, dass die Klassik von allen Gesellschaftsschichten wahrgenommen werden kann: durch günstige Eintrittskarten, durch kulturelle Vermittlung, vor allem aber durch musische Bildung. Von 50.000 unbesetzten Lehrerstellen in den nächsten fünf Jahren ist die Rede (FAZ vom 21. Juli), und man kann an den Fingern einer Hand abzählen, dass dies unter anderem bedeutet, dass auch weiterhin und noch mehr Musikunterricht ausfallen wird.

Fragen Sie mal Abiturienten, was eine Sonatenform ist, oder versuchen Sie, sich von diesen eine Bach-Fuge oder Schönbergs Zwölftonmusik erklären zu lassen. Und Kinder aus ärmeren Haushalten, die weder auf höhere Schulen gehen noch außerschulischen Instrumentalunterricht genießen, haben kaum je Chancen, die klassische Musik überhaupt kennenzulernen. Dies ist tragisch, nicht nur, weil es bedeutet, dass diese Kinder nie die Leidenschaft, die Freuden und Tiefen der Musik kennenlernen werden, sondern vor allem, weil diesen Kindern damit auch eine wertvolle Möglichkeit der Selbstermächtigung fehlt.

Musik kann das Leben verändern. Diese Erfahrung sollten alle Menschen machen dürfen, und je früher (am besten im Kindergartenalter!), desto besser. Es kommt nicht darauf an, dass Studenten angeblich vermehrt in Klassikkonzerte gehen, wie der Intendant der Bamberger Symphoniker dem begeisterten Herrn Brachmann erzählt hat: "Es wird wieder schick, auszugehen. Die jungen Frauen ziehen Abendkleider an, die jungen Männer binden Krawatten um. Man trifft sich zum Date im Konzert." Klassik als Dating-Plattform für Neo-Kons - soll das das gesellschaftliche Ziel sein? Nein, wir benötigen dringend Möglichkeitsräume, in denen Kinder und Jugendliche aller Schichten Musik kennenlernen können! Und es ist keine Frage, dass die meisten jungen Menschen von den größtenteils hohlen Ritualen der Klassikszene eher abgeschreckt werden.

Klassik-Funktionäre und -claqueure sind gern Agenten des Bestehenden, ihr Mantra, das sie wie eine tibetanische Gebetsmühle wiederholen, ist: "alles super". Kaum junge Menschen in den Konzerten? Iwo, die Bamberger Student*innen tragen doch wieder Abendkleid und Krawatte. Zu wenig aktuelle Musik in den Programmen der Konzerthäuser? Aber es war auch schon mal schlimmer. Gut ein Drittel aller Dirigier-Studenten sind weiblich, aber weniger als 5 Prozent aller Generalmusikdirektoren-Stellen hierzulande wurden mit Frauen besetzt? Aber 1871 waren es noch weniger. Und so hämmern sie der Öffentlichkeit unter dem Hashtag "#TrendwendeKlassik" ihre Wahrheiten ein: Die "Klassikkrise" sei ein Fake, die Zuschauerzahlen sind so groß wie nie, alles ist prima.

Wer wollte ernsthaft bestreiten, dass es landauf landab vielfältige und äußerst honorige Versuche gibt, die Menschen für klassische Musik zu begeistern. Und diese Initiativen finden nicht nur in den Großstädten statt, sondern auch im Ruhrgebiet, im Rheingau, in Passau, in Donaueschingen, in Heidelberg, in Witten, Halle oder Husum. Dieses Engagement ist ungeheuer wertvoll. Wer aber die klassische Musik liebt und möchte, dass diese Liebe von mehr Menschen geteilt wird, der wird auch unschwer erkennen: all dies ist bei weitem nicht genug. Wir brauchen flächendeckend musische Bildung, wenn wir es nicht hinnehmen wollen, dass ganze Generationen musikalische Analphabeten bleiben.

Wir benötigen flächendeckend ganzjährige Education-Projekte gerade auch für Kinder aus den sogenannten bildungsfernen Schichten, wie sie vorbildhaft zum Beispiel das Klavier-Festival Ruhr anbietet - Eleonore Büning hat diese Arbeit mit Kindern in Duisburgs sozial zerrüttetem Stadtteil Marxloh dieser Tage in einem wunderbaren, Hoffnung machenden Artikel beschrieben ("Flügel sind die besseren Therapietiere", NZZ vom 19. Juli). "Seit zehn Jahren investiert das Klavier-Festival Ruhr in vorbildhafte, mehrfach preisgekrönte Bildungsprojekte, die inzwischen ganzjährig und schul- sowie klassenübergreifend stattfinden", schreibt sie. Derartige Projekte benötigen wir überall, und dafür benötigen wir ausreichende finanzielle Mittel und gut ausgebildete (und vernünftig bezahlte!) Musiklehrer*innen. Und natürlich müssen die öffentlich-rechtlichen Sender, die gesetzlich dem Kulturauftrag verpflichtet sind, endlich aus ihren althergebrachten Sendeschemata ausbrechen und neue Formate erfinden, die ohne Anbiederung und Simplifizierung Lust auf klassische Musik machen.

Es hat doch Gewicht, wenn ein honoriger Star-Dirigent wie Kent Nagano in seinem Buch "Erwarten Sie Wunder!" sowohl von einer existenziellen Krise der Klassik spricht, als auch die essenzielle Bedeutung der klassischen Musik für alle Schichten der Gesellschaft herausstreicht und fordert, dass die Klassikszene ihre Musik wieder näher an die Menschen bringen muss. Es ist ein deutliches Plädoyer dafür, dass es nicht ausreicht, sich wie Jan Brachmann und die einschlägigen Klassikfunktionäre darauf zurückzuziehen, dass alles toll ist - es sei denn, man will als immer schick angezogenes, konservatives Kulturbürgertum auch künftig unter sich bleiben.

Es reicht nicht, den Status quo mit fragwürdigen Statistik-Interpretationen zu bejubeln. Gerade in einem Land mit einer so einzigartigen musikalischen Kultur, in dem überdies Milliarden in den Musikbetrieb fließen, muss die Gesellschaft begreifen, dass die musische Bildung für alle eine der wesentlichen Zukunftsaufgaben ist.

Gegen das, was ist, und entschieden für das, was sein könnte!

Berthold Seliger

Seligers jüngstes Buch "Klassikkampf", auf das sich Brachmann unter anderem bezogen hat, beschäftigt sich ausführlich mit dem Thema. Sie können es hier über den Perlentaucher

Die Karikatur im Teaser zeigt Gustav Mahler bei der Uraufführung seiner zweiten Sinfonie im Jahr 1895.