Essay

Das Leid der Revolution

Von Rainer Bieling
22.11.2017. Arte zeigt, gut versteckt im Nachtprogramm, aber zum Glück auch in der Mediathek Oleksandr Dowschenkos Stummfilm "Arsenal" von 1929, einen Film, der zum Bruch zu dem bis heute siegreichen bolschewistischen Narrativ von der Oktoberrevolution beitragen kann.
Heute spät, erst nach Mitternacht, zeigt der deutsch-französische Fernsehsender Arte den mit neuer Musik vertonten Stummfilm "Arsenal" des ukrainischen Regisseurs Oleksandr Dowschenko in Erstausstrahlung. Der Film ist bei Arte bereits jetzt als Video freigeschaltet - und soll bis 22. Dezember 2017 in der Videothek verfügbar sein. Seine Premiere hatte der Film im Februar 1929 in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Weil "Arsenal" ein Lehrstück über die freie Ukraine von 1917 ist, lohnt es sich, den Film aufzuzeichnen.

Die hundertste Wiederkehr der russischen Revolutionen des Kriegsjahres 1917 fand und findet ein breites Medienecho in Deutschland - der Oktoberrevolution genannte Staatsstreich der Bolschewiki in Petrograd vom Herbst 1917 ein größeres als die vorhergehende Februarrevolution im ganzen Zarenreich. Die ungleiche Beachtung beider Ereignisse - der Perlentaucher hatte am 19. Oktober 2017 in diesem Sinne auf Arno Widmanns Kritik an der Einseitigkeit einer Jubiläumsausstellung im Deutschen Historischen Museum aufmerksam gemacht - ist zwar ungerecht, schreibt aber das siegreiche bolschewistische Narrativ fort, das sich weitgehend durchgesetzt hat.

Gerechter und vor allem klüger wäre es, die Februarrevolution von 1917 als das für die Erringung von Freiheiten und Rechten gute Ereignis zu würdigen - als Beginn einer Rule of Law im Russischen Reich - und den Staatsstreich vom Oktober 1917 als das für den Erhalt der eben erst gewonnenen Freiheiten und Rechte schlechte Ereignis herauszustellen - als Beginn einer Rule of Force in der künftigen Sowjetunion -; denn mit der Oktoberrevolution begann eine fast vierzig Jahre dauernde Gewaltherrschaft.

Dies vorausgeschickt, dass es also nichts zu feiern und viel zu beklagen gibt, war es dann doch erfreulich und erhellend, an einem Ereignis namens "Roter Rummel" teilzunehmen, das die Komische Oper Berlin am 12. November 2017 ausrichtete. Unter diesem Titel gab es zwei aufeinander bezogene Veranstaltungen: in Kooperation mit dem Deutschen Historischen Museum ein Symposium am Nachmittag dieses langen Sonntags und ein Abendprogramm mit Varieté, Clownerie und Kinderchor, deren wechselnde Bühnenauftritte zu "revolutionären Klängen" aus der Feder von Studenten der Hochschule für Musik Hanns Eisler drei verschiedene Kurzfilme auf großer Leinwand umrahmten und einen abschließenden Spielfilm von 90 Minuten Dauer einleiteten.

"Roter Rummel" mit "revolutionären Klängen", diese Ankündigung klang verdächtig nach Heldengedenken; es wurde aber keines. Ganz im Gegenteil dekonstruierten die Referenten des Symposiums das bolschewistische Narrativ mit guten Argumenten. Worum ging es? Im Zentrum des nachmittäglichen Symposiums und des abendlichen Filmprogramms stand der ukrainische Stummfilm "Arsenal", der seine Premiere im Februar 1929 in Kiew hatte.

Oleksandr Dowschenkos "Arsenal" - Szenenbild.


Das Schwarz-Weiß-Epos des ukrainischen Regisseurs Oleksandr Dowschenko erzählt von dem Versuch eines bolschewistischen Me-too-Staatsstreichs im Januar 1918 in der Hauptstadt der damals unabhängigen Ukraine, der Kiewer Arsenalwerk-Revolte. Die Arsenalwerk-Revolte war ein bewaffneter Aufstand gegen die frei gewählte Regierung nach Petrograder Muster, benannt nach einer der ältesten und bekanntesten Fabriken in der ukrainischen Hauptstadt, in der Waffen hergestellt, repariert und eben auch gelagert wurden, daher der Name Arsenal.

Der Aufstand im Kiewer Arsenalwerk begann am 29. Januar 1918, dauerte nur wenige Tage und endete mit der Erstürmung des Werks durch ukrainische Truppen am 4. Februar 1918. Der ein Jahrzehnt nach den Ereignissen gedrehte Film "Arsenal" setzt den Aufständischen, es waren wie in Petrograd Bolschewiki, ein Denkmal, aber weniger als heroische, mehr als tragische Erinnerung, was bei der Genehmigung den mittlerweile als Kommunistische Partei firmierenden Bolschewiki nicht entging. Weil es aber bereits 1928 bei der Genehmigung von "Swenigora" (Der verzauberte Wald), dem ersten Langfilm von Oleksandr Dowschenko, ein Machtwort von Sergei Eisenstein gegeben hatte - er sah damals die "Geburt eines Meisters" -, kam "Arsenal" trotz Kritik der Kulturkader und öffentlicher Anfeindung 1929 in die Kinos, in Kiew wie in Moskau.

Was macht "Arsenal" zu einer in den Augen seiner Kritiker vergifteten Erinnerung statt zu einer heldenhaften? Das eindringliche und in seiner Bildsprache oft unerträgliche Beharren auf den Opfern, die der gewaltsame und vereitelte Umsturzversuch eben auch in der Ukraine forderte. Indem der Regisseur erst das Leid des Krieges ins Bild setzt und folgend das Leid der Revolution ebenso eindringlich, lässt er eine Empathie erkennen, die für Bolschewiki eher untypisch ist. Nach 1929 konnten Filme mit einer Haltung, wie Oleksandr Dowschenko sie in "Arsenal" einnimmt, in der Sowjetunion nicht mehr gedreht noch gezeigt werden.

Was den Film "Arsenal" zu einer vergifteten Erinnerung macht, ist darüber hinaus das Wissen, mit dem die Zeitgenossen ihn 1929 sahen. Die Tragödie des Arbeiterführers vom Arsenal, der sich am Ende des Films vor dem Erschießungspeloton als unsterblich wähnt und dann doch, im Sarg nach Hause aufs Land gebracht, von der trauernden Mutter in ukrainischer Erde begraben wird, ermöglichte erst den Triumph der Bolschewiki: Drei Tage nach der Niederschlagung der Kiewer Arsenalwerk-Revolte, am 7. Februar 1918, marschierte die russische Rote Armee in der ukrainischen Hauptstadt ein und verjagte die frei gewählte Regierung aus der Hauptstadt. In den Augen der Zuschauer von 1929 waren die Aufständischen ungeachtet ihrer Niederlage Helden und keine tragischen Figuren, hatten sie doch die ukrainischen Truppen gebunden und den Einmarsch der Roten Armee in der Ukraine mit der Besetzung von Kiew erst zu einem Erfolg gemacht.

Dazu muss man wissen, das Dowschenko zur Echtzeit der Ereignisse im Januar und Februar 1918 kein Mitglied oder Anhänger der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) war, die sich erst im März 1918, nach dem Versuch der Einverleibung der Ukraine, in Kommunistische Partei Russlands umbenannte. Oleksandr Dowschenko sah sich zum Zeitpunkt der Ereignisse als ukrainischer Bürger, der sein im April 1917 erstmals frei gewähltes Parlament und dessen im Juni 1917 gebildete Regierung unterstützte. Das Parlament hieß Zentralna Rada und war das erste Selbstverwaltungsgremium für die Ukraine nach der Februarrevolution 1917. Im November 1917 proklamierte die Rada die autonome Ukrainische Volksrepublik - autonom im wenige Tage zuvor ausgerufenen föderativen Sowjetrussland. Die aus den Wahlen hervorgegangene Regierung nannte sich Generalsekretariat der ukrainischen Zentralna Rada und verteidigte ihre autonome Volksrepublik gegen alle Versuche der Bolschewiki Russlands, sie ihrem neuen Staat einzuverleiben.

Die führenden Parteien der Rada waren gemäßigte Arbeiterparteien, reformorientiert nach Art westeuropäischer Sozialdemokratien. Aber sie verstanden sich als ukrainisch, nicht als russisch. So wie Dowschenko den Anführer aus dem Arsenalwerk in dem Film mehrfach betonen lässt, er sei "ukrainischer Arbeiter". Der tragische Held soll damit den Zuschauern von 1929 zu erkennen geben, dass er zwar Arbeiter sei, folglich Kapitalisten ablehne und sich deshalb gegen die "bürgerliche Regierung" auflehne, die kapitalistische Interessen und keine proletarischen verfolge. Aber es schwingt eine Projektion von 1929 mit: als "ukrainischer Arbeiter" hätte sich im Arsenalwerk ein realer Aufständischer von 1918 nie bezeichnet. Als Bolschewik, der als Speerspitze des Weltproletariats für die Errichtung der Sowjetmacht kämpft, hatte er keine Nationalität. Er war Arbeiter, Revolutionär und sonst nichts.

So ist in Oleksandr Dowschenkos "Arsenal" ein letztes Aufbäumen jenes ukrainischen Sozialismus zu erkennen, der erst nicht bolschewistisch war, dann, nachdem angegriffen, antibolschewistisch wurde und sich schließlich, nachdem besiegt, "nationalbolschewistisch" färbte und sich widerstrebend in die Kommunistische Partei einfügte.

Aus der Sicht kommunistischer Politiker in der Moskauer Parteiführung war die Ukrainität von "Arsenal" das Hauptproblem und das Pathos, mit dem Oleksandr Dowschenko seine Empathie für die Opfer der Gewalt von Krieg und Revolution in Szene setzte, nur das Nebenproblem. Empathie war lästig, Sympathie für das Ukrainische gefährlich. Was die russischen (und damals noch) sozialdemokratischen Bolschewiki im Januar und Februar 1918 erstmals versuchten, gelang den russischen (und längst schon) kommunistischen Bolschewiki erst im Winter 1932 auf 1933: die vollkommene und für Jahrzehnte unwiderrufliche Auslöschung alles Ukrainischen in der Ukraine mit den Mitteln der Sowjetisierung, die stets und überall in der Union eine Umvolkung durch Russifizierung war.

Im Frühjahr 1929, als "Arsenal" nach einigem Hin und Her schließlich in den Kinos gezeigt werden durfte, war diese Zukunft der Ukraine für die Zeitgenossen noch nicht absehbar. Auch nicht für Oleksandr Dowschenko, der für seinen Spagat zwischen Ukrainität und Sowjethegemonie noch auf Rückendeckung der Kiewer Parteiführung zählen konnte. Erst mit dem Beginn der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft im Winter 1929, die in der bäuerlichen Ukraine auf erbitterten Widerstand stieß, begann die Entmachtung der ukrainischen Kommunisten. Ein kleines Wunder, dass Dowschenko deren Ausschaltung und Ermordung überlebte.

Das mag auch daran gelegen haben, dass er als Kulturschaffender doch nur zur Entourage der politischen Elite gehörte - und dass sein "Arsenal" kein massentaugliches Agitpropwerk war. Die ursprünglich für den Film geschriebene Musik von Igor Belz ist verschollen, der Film selbst verschwand in der Sowjetunion für Jahrzehnte im Archiv. Was am 12. November 2017 beim "Roten Rummel" in der Komischen Oper Berlin zu sehen war, war die Premiere einer 2017 digital restaurierten Fassung aus dem Österreichischen Filmmuseum. Und zu hören war das Orchester der Komischen Oper, das die Filmaufführung mit einer ebenfalls 2017 neu geschriebenen Musik von Alexander Grebtschenko begleitete. Es ist diese in Wien digital restaurierte und in Berlin neu vertonte Fassung, die Arte zeigen wird.

Dass es sich um kein massentaugliches Agitpropwerk handelt, macht gleich die erste Einstellung deutlich: Endlose Sekunden steht die trauernde Mutter im Bild, erst allein, dann zupfen ihr die beiden übrig gebliebenen Kleinkinder an der Rockschürze - ein getreues filmisches Abbild der Käthe-Kollwitz-Zeichnungen "Gretchen" und "Brot!" In einer späteren Einstellung stirbt quälend langsam ein Soldat im Schützengraben - eine cineastische Adaption der Otto-Dix-Zeichnung "Verwundeter Soldat". Beide, Käthe Kollwitz und Otto Dix, hatte Oleksandr Dowschenko in Berlin kennengelernt, wo er in den Jahren 1922 und 1923 eine Wohnung in Charlottenburg bezogen hatte. Heute erinnert eine Gedenktafel an der Hauswand Bismarckstraße 69, Höhe Sophie-Charlotte-Platz, an Dowschenkos langen Berlin-Aufenthalt, der seine künstlerische Haltung als Regisseur ungemein inspirierte.

Die Zuneigung war eine gegenseitige: Vierzig Jahre später gründeten Berliner Cineasten den Verein "Freunde der Deutschen Kinemathek" und benannten ihr am 3. Januar 1970 eröffnetes Kino in der Schöneberger Welserstraße 25 nach Oleksandr Dowschenkos Film von 1929. Das Kino "Arsenal" gibt es heute noch, seit dem Jahr 2000 in Eins-a-Lage am Potsdamer Platz, doch wer außer wenigen Cineasten weiß, dass es sich beim namengebenden "Arsenal" um einen Stummfilm aus der Ukraine handelt? Arte weiß es nicht, da wird als "Land: Deutschland" genannt. Und man schreibt Oleksandr russisch: Alexander. Das arte-Magazin erklärt: "Der Film gilt als eines der besten Beispiele sowjetischer Filmkunst in den 1920er Jahren."

Und diese Informationspolitik des Leitmediums für Intellektuelle kann als eines der besten Beispiele für die Eingangsfeststellung von der Fortsetzung des siegreichen bolschewistischen Narrativs gelten. Dass es ausgerechnet die einst Ost-Berliner Komische Oper ist, die mit der DDR im Kopf bricht, ist ermutigend.

Die Ukrainische Volksrepublik von 1917 führte bis zu ihrer Auflösung durch Einverleibung in die Sowjetunion im Jahr 1920 eine blau-gelbe Flagge. Die seit ihrer zweiten Unabhängigkeit von Russland am 24. August 1991 nur noch als Ukraine firmierende Republik knüpft mit der gleichen blau-gelben-Flagge an die Traditionslinie der Februarrevolution von 1917 an. Was für eine vertane Chance staatlicher Kulturinstitutionen in Deutschland, sich ein Vierteljahrhundert nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vom bolschewistischen Narrativ zu emanzipieren. Dass sich die Ausstellungsmacher des Deutschen Historischen Museums am "Arsenal"-Symposium beteiligten, lässt sich als Hoffnungszeichen eines Wandels deuten.

Und es gibt ein weiteres Zeichen: Am 15. November 2017 haben Ralf Fücks und Marieluise Beck ihre neue Denkwerkstatt "Zentrum Liberale Moderne" der Öffentlichkeit vorgestellt, kurz "LibMod" genannt und unter dem Kürzel auch online erreichbar (libmod.de). Die beiden Senior-Grünen wollen helfen, den Einfluss des Kreml in Deutschland zu begrenzen und den drei Putin geneigten Parteien SPD, AfD und Linkspartei politisch zu begegnen. Gegen den negativen Einfluss Russlands auf deutsche Politiker setzen sie ein positives Anliegen, das auf Anteilnahme der Bürger hofft: "Ukraine verstehen" heißt die Unter-Website von "LibMod".

Gut, dass es im politischen Berlin doch nicht mehr so einstimmig summt in diesen Novembertagen 2017. Wenn die spätnächtliche Ausstrahlung von "Arsenal" eine Ermunterung zur Disruption des bolschewistischen Narrativs wird, wäre die Unterbelichtung der Ukraine gebrochen und einiges an Souveränität gewonnen.

Rainer Bieling

"Arsenal" (Ukraine 1929) von Oleksandr Dowschenko läuft in der Nacht vom 22. auf den 23. November 2017 um 0.20 Uhr auf Arte.