Magazinrundschau
Früher hat sie einfach geweint
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
29.06.2010. Der New Yorker porträtiert Saad Mohseni, den ersten Medienmogul Afghanistans. La vie des idees und der Guardian empfehlen Gilbert Achcars Buch "Les Arabes et la Shoah". In Ungarn fressen die Kinder ihre Revolution, fürchtet Elet es Irodalom. Magyar Narancs und Rue89 fürchten um die unabhängige Presse. In Open Democracy macht sich Lisbet Rausing Sorgen über die Zukunft der Bibliothek. In der NYRB warnt Tim Parks nicht englischsprachige Autoren vor einer internationalen liberalen Leserschaft.
New Yorker (USA), 05.07.2010

Weiteres: James Wood stellt David Mitchells Roman "The Thousand Autumns of Jacob de Zoet" vor. Peter Schjeldahl schreibt über eine Ausstellung des amerikanischen Malers Charles Burchfield im Whitney Museum. Und David Denby sah im Kino James Mangolds Actionkomödie "Knight and Day" mit Tom Cruise - der den Film irgendwie ruiniert - und Cameron Diaz und Debra Graniks Film "Winter?s Bone" (der auch auf der Berlinale lief). Zu lesen ist außerdem in der Reihe "20 under 40" die Erzählung "The Erlking" von Sarah Shun-lien Bynum sowie Lyrik von Frederick Seidel und Rae Armantrout.
La vie des idees (Frankreich), 28.06.2010

Guardian (UK), 26.06.2010
Auch der Historiker Tariq Ali ist voll des Lobs über Gilbert Achcars Buch "Les Arabes et la Shoah": "Hilberg, Peter Novick, Tony Judt, Gabi Piterburg, Norman Finkelstein, Amira Hass und viele andere Autoren jüdischen Ursprungs haben davor gewarnt, den Holocaust so zu benutzen, wie es gegenwärtig in der Politik - und nicht nur in Israel - geschieht. Es ist kurzsichtig und kontraproduktiv. Es trägt nicht zum Frieden in der Gegend bei. Ebenso wenig wie der Versuch israelischer Beamter, von Apologeten im Westen nachgeahmt, jede Opposition gegen Israels Unterdrückung der Palästinenser für antisemitisch zu erklären. Diese Art krude Propaganda, die Geschichte und Politik entwertet, mag dazu führen, dass einige dieses Label sogar akzeptieren als Preis, der für die Oppositon gegen Israels Politik gezahlt werden muss. Achcars Buch ist ein mutiger Versuch, Parteilichkeit zu vermeiden", denn Achcar erspart auch den Arabern nichts, wie Ali zu Beginn seiner Kritik schreibt.
Der kolumbianische Schriftsteller Juan Gabriel Vasquez, der Kolumbien vor vierzehn Jahren verlassen hat, spricht im Interview über seinen Roman "The Secret History of Costaguana", der die politischen Intrigen während des Baus des Panamakanals beschreibt: "'Zwei meiner literarischen Obsessionen kamen zusammen - ein dunkler Moment in der kolumbianischen Geschichte und mein literarischer Gott, der mein Land beschrieben und es dabei transformiert und verzerrt hat.' Es gibt 'keinen konkreten Beweis dafür, dass Conrad jemals Kolumbien betreten hat', sagt er. Doch für Vasquez, der eine Kurzbiografie über Conrad geschrieben hat, ist 'Nostromo' [ein Roman Joseph Conrads, der in der fiktiven Republik Costaguana spielt] bei weitem 'das beste nicht-spanischsprachige Buch über Lateinamerika. Conrad verstand, dass dieser Ort nicht aus einem psychologisch-realistischen Blickwinkel beschrieben werden konnte, darum hat er überspitzt.'"
Der kolumbianische Schriftsteller Juan Gabriel Vasquez, der Kolumbien vor vierzehn Jahren verlassen hat, spricht im Interview über seinen Roman "The Secret History of Costaguana", der die politischen Intrigen während des Baus des Panamakanals beschreibt: "'Zwei meiner literarischen Obsessionen kamen zusammen - ein dunkler Moment in der kolumbianischen Geschichte und mein literarischer Gott, der mein Land beschrieben und es dabei transformiert und verzerrt hat.' Es gibt 'keinen konkreten Beweis dafür, dass Conrad jemals Kolumbien betreten hat', sagt er. Doch für Vasquez, der eine Kurzbiografie über Conrad geschrieben hat, ist 'Nostromo' [ein Roman Joseph Conrads, der in der fiktiven Republik Costaguana spielt] bei weitem 'das beste nicht-spanischsprachige Buch über Lateinamerika. Conrad verstand, dass dieser Ort nicht aus einem psychologisch-realistischen Blickwinkel beschrieben werden konnte, darum hat er überspitzt.'"
Elet es Irodalom (Ungarn), 25.06.2010

New York Review of Books (USA), 15.07.2010

Mit Grauen hat Ian Buruma die Verwandlung seines alten Freundes Christopher Hitchens von einem trotzkistischen Vietnamkriegsgegner in einen neokonservativen Irakkriegsbefürworter und Gegner von Religionen jeder Art beobachtet. An den Erinnerungen "Hitch 22" stört Buruma aber vor allem Hitchens Hang zu Extremen: "Politiker und Menschen, mit denen Hitchens nicht einverstanden ist, werden nie einfach nur mit Namen genannt, es geht immer um den 'gewohnheitsmäßigen und professionellen Lügner Clinton', 'den frömmelnden Wiedergeburtswiderling Jimmy Carter', Nixons 'unbeschreiblich verabscheuungswürdigen Henry Kissinger, der Untermenschen-Charakter Videla', und so weiter. Dies legt nahe, dass für Hitchens Politik ihrem Wesen nach eine Sache des Charakters ist. Politiker tun schlechte Dinge, weil sie schlechte Menschen sind. Die Vorstellung, dass gute Menschen schreckliche Dinge (selbst aus guten Gründen) tun können, und schlechte Menschen gute Dinge, kommt in diesem speziellen Moraluniversum nicht vor."
Polityka (Polen), 23.06.2010

Magyar Narancs (Ungarn), 17.06.2010

Rue89 (Frankreich), 27.06.2010

El Pais Semanal (Spanien), 27.06.2010
Javier Cercas denkt über mögliche Unterschiede zwischen separatistischem und gesamtstaatlichem Nationalismus nach: "Katalanischer Nationalismus, baskischer Nationalismus, spanischer Nationalismus: Im Grunde sind sie alle gleichermaßen überzeugt davon, am siebten Tag der Schöpfung habe Gott keineswegs geruht, sondern ihre - katalanische, baskische, spanische - Nation erschaffen. Was allerdings den Unterschied zwischen den verschiedenen Spielarten von Nationalismus in der Praxis angeht: Wenn ein separatistischer Nationalismus aus dem Ruder läuft, lässt er eine Terroristengruppe auf die anderen los; läuft ein gesamtstaatlicher Nationalismus aus dem Ruder, bringt er das halbe Land um, wie einst hier in Spanien geschehen, oder den halben Kontinent, wie einst der deutsche Nationalismus. Bekämpfen lässt sich der Nationalismus in jedem Fall nicht mit einem entgegengesetzten Nationalismus, sondern bloß so, wie jeder irrationale Glauben: Mit der Vernunft. Und die sieht zuallererst einmal den Balken im eigenen nationalistischen Auge."
Das Magazin (Schweiz), 26.06.2010

Open Democracy (UK), 26.06.2010

Außerdem: Cas Mudde erklärt den Allochthonen das Geert-Wilders-Phänomen. "Der einzige Punkt, an dem Geert Wilders sich wirklich von den anderen Parteien abhebt, ist seine Islamophobie. Wie auch immer, es ist nicht so sehr die Meinung an sich, die viele Niederländer teilen (vor allem bei den Rechten), sondern ihre Intensität. Wilders, der seit Jahren 24 Stunden am Tag bewacht wird, hat einen Tunnelblick entwickelt, in dem alles mit dem Islam verknüpft ist und Dschihadisten alles tun können, was sie wollen."
Merkur (Deutschland), 29.06.2010

Außerdem: Anlässlich des Missbrauchs in "Erziehungsanstalten" erinnert der Sozialpsychologe Ulrich Oevermann in einem sehr lehrreichen Text, welche Bedeutung der Familie bei der Entwicklung einer erwachsenen Sexualität zukommt (jedes Zitat würde allerdings die Komplexität dieses Textes reduzieren, allein die "Pubertät" heißt bei Oevermann "Phase der Adoleszenzkrisenbewältigung"!). Karl Heinz Bohrer fragt nach der Macht der Philosophie. Und Stefan Willer huldigt dem Stimmenbeschwörer Georg Klein.
Prospect (UK), 22.06.2010
Evgeni Morozov (Blog) bespricht die Buchfassung von Nicholas Carrs berüchtigtem "Macht Google uns blöd?"-Artikel, Titel: "The Shallows" (dt. "Die Flachgebiete"). Zwar findet er viele Befürchtungen Carrs, dass die technischen Neuerungen des Internetzeitalters uns neurologisch deformieren, eher kurzschlüssig und deterministisch. Probleme aber sieht auch Morozov in aktuellen Tendenzen des Mitmachnetzes, er zählt etwa auf: "die Erosion von Privatheit; der Triumph des kollektiven Geists über das Invidiuum; die um sich greifende Personalisierung und Anpassung des Netzes an den jeweiligen Nutzer, die Förderung des Narzissmus und die sich verschlimmernde Abhängigkeit von der Technologie". Und auch einen weiteren Punkt hält er für oft übersehen: "Es ist nicht klar, wie die Leute in einem solchen, auf sie zugeschnittenen kollektivistischen Umfeld noch unabhängigen Geschmack entwickeln sollen. Film- und Restaurantkritik werden bereits von automatisierten Einzeilen-Besprechungen aus dem Internet beiseite gedrängt. Die anspruchsvolle Literaturkritik scheint sich gerade zu verabschieden - was bleiben, sind die anonymen Kritiker bei Amazon. Überhaupt hat man die Auswirkungen des Internets auf Kritiker und Intellektuelle bisher wenig erforscht - dabei haben solche Fragen weitreichende Folgen für das soziale und das politische Leben."
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