Magazinrundschau

Sie treiben dich in den Wahnsinn

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
04.07.2023. Die Ukrainer erkennen ihre Macht, die Russen ihre Ohnmacht, beobachtet die Historikerin Marci Shore in Aktualne. In Eurozine definiert die Philosophin Olga Shparaga das belarussischen Selbstverständnis aus der Solidarität mit den Gefangenen. Desk Russie erzählt Aufstieg und Fall von Putins Medienmann Michail Lessin. Die NYRB erklärt die neue Bedeutung der Tropenstürme für die karibische Kunst und Geschichte. Im New Yorker versucht Zadie Smith, Charles Dickens zu töten. Der Guardian empfiehlt gegen die Gentrifizierung der Metropolen das Deutschlandticket. Und The Verge sieht ein neues Web in den Geburtswehen.

Aktualne (Tschechien), 28.06.2023

Im Interview mit Dominika Perlínová erklärt sich die amerikanische Historikerin Marci Shore die Passivität der russischen Bevölkerung angesichts des Krieges  mit einem Nihilismus, der sich aus dem Gefühl der Machtlosigkeit speise: "In philosophischer Hinsicht ist es interessant, dass sich die de facto von Russland kolonisierten Ukrainer ihrer Macht bewusst geworden sind, die Russen, die sie kolonialisiert haben, hingegen nicht. Warum verstehen sie sich als passiv und sind folglich nicht imstande, für irgendetwas Verantwortung zu übernehmen? Es wird oft davon gesprochen, dass Putin hervorragend die Demobilisierung der Bevölkerung betrieben habe. Dass die Russen also nicht mit Begeisterung in den Krieg ziehen, aber schlicht das Gefühl haben, allem, was dieser Mensch im Kreml tut, zu folgen.' Auf eine andere Weise begegnet Marci Shore dieser Ohnmacht unter den emigrierten russischen Kriegsgegnern, die besonders verzweifelt seien: "Sie haben das Gefühl, versagt zu haben und dass ihr Versagen unverzeihlich und nicht wiedergutzumachen ist. Es ist ihnen nicht gelungen, das eigene Volk anzusprechen. Das Gefühl der Unfähigkeit und Hoffnungslosigkeit durchdringt die russische Geschichte der letzten zweihundert Jahre. Zwischen der Intelligenzja und den einfachen Menschen besteht überall auf der Welt eine große Kluft, aber in Russland ist sie besonders groß."
Archiv: Aktualne

Eurozine (Österreich), 27.06.2023

Lange Zeit fokussierte sich das belarussische Selbstverständnis auf die Betonung einer kulturellen und sprachlichen Identität, doch bereits vor der großen Erhebung von 2020 hatten sich die Koordinaten zu einem Denken der solidarischen Gemeinschaft verschoben, erklärt die belarussische Philosophin Olga Shparaga. Zentrale Begriffe seien vielmehr das Verlangen, "Menschen zu heißen, wie der Nationaldichter Janka Kupala schrieb, und die Gemeinschaft derer, "die hier leben": "Die Revolution von 2020 fügte der belarussischen Identitätserfahrung ein entscheidendes Element hinzu: Unsere Gewalterfahrung und die breite horizontale Einheit, die darauf zielt, den Bedrohungen zu widerstehen, verwandelten die Belarussen in eine Schicksalsgemeinschaft. Die Notwendigkeit, für die Inhaftierten zu sorgen - derzeit gibt es mindestens 1.700 politische Gefangene, darunter Maria Kaleschnikowa, Wiktar Babaryka und Sergej Tichanowski - wie auch für diejenigen, die Folter und Verfolgung ausgesetzt sind oder im Ausland Schwierigkeiten haben, ist nach wie vor ein äußerst wichtiges Thema im Leben dieser Gemeinschaft und zugleich ein Dorn im Auge eines Regimes, das die belarussische Gesellschaft immer noch unterdrückt. Die Schicksalsgemeinschaft von 2020 steht nach wie vor im Zentrum der Alltagsgeschichten, die die Belarussen heute erzählen. Doch wie viele belarussische Wissenschaftler festgestellt haben, stellte der 24. Februar 2022 eine neue Herausforderung für diese Schicksalsgemeinschaft dar. Das belarussische Regime verschaffte der 'russischen Welt' nicht nur online, sondern auch physisch ein größeres Ansehen, indem es die Präsenz russischer Militärausrüstung und Soldaten auf belarussischem Gebiet zuließ. Als Reaktion darauf begann eine konsolidierte, homogenisierte Version des Nationalismus an Boden zu gewinnen, zumindest in den Reden bestimmter politischer Akteure. In ihrem Verständnis gibt es nur eine Methode, sich gegen die Propaganda der 'russischen Welt' zu wehren: die massenhafte Entwicklung der belarussischen Identität durch eine Kampagne, die die nationale Wiederbelebung unterstützt... Es ist unwahrscheinlich, dass sie das kritische Denken beinhalten, das das Gegenmittel zu jeder Art von Propaganda sein könnte."
Archiv: Eurozine
Stichwörter: Shparaga, Olga, Folter

Desk Russie (Frankreich), 25.06.2023

Cécile Vaissié erzählt in einer Serie über Menschen, die "den Putinismus aufbauten", die abstoßende und faszinierende Geschichte des Michail Lessin, der mal Putins wichtigster Medienmann war, bevor er mit 57 Jahren in einem Washingtoner Hotel - dem Vernehmen nach - so brutal zusammengeschlagen wurde, dass er daran starb. Lessin ist der Erfinder von Russia Today und einer der Medienpioniere Putins: "Lessin soll bereits 1999/2000 die Verbreitung von Putin-Fotos mit nacktem Oberkörper in der russischen Presse gefördert haben, aber ohne sie an die westliche Presse weiterzugeben: 'Putins Sport- und Bizeps-Bilder sind für das Volk und die Dritte Welt bestimmt.' Wieder einmal erfährt man in diesem Artikel, wie früh Putin sein Regime durch Medienzensur und -zentralisierung festigte, und wie früh der Westen hätte reagieren sollen. "Eine ideologische 'Säuberung' beginnt unmittelbar nach Putins Amtsantritt und zielt laut der Journalistin Elena Tregubowa insbesondere auf im Kreml akkreditierte Journalisten ab: Diese werden von 'Putins neuem PR-Team' gesiebt und auch mal aussortiert. Dann beaufsichtigt Lessin die Übernahme des Senders NTW und von Media-Most … Schon damals wird Lessin in seinem engsten Umkreis als 'der Mann mit dem gutmütigen Gesicht eines Kindermörders' bezeichnet." Fortan lernen die russischen Journalisten, über Putin zu reden "wie über einen Toten, entweder gut oder gar nicht." Lessin fällt später in Ungnade und verprasst die von ihm gescheffelten Hunderte von Millionen Dollar in Amerika, wo sein Sohn Anton Filme mit Brad Pitt und Arnold Schwarzenegger produziert. Nach Lessins Tod verkauft sein Sohn eine seiner Hollywood-Villen für 28 Millionen Dollar.

Frühere Teile der Artikelserie widmeten sich dem Fernsehmann Alfred Koch (hier) und dem Politikwissenschaftler Gleb Pawlowski (hier und hier).
Archiv: Desk Russie
Stichwörter: Lessin, Michail

New York Review of Books (USA), 20.07.2023

Gabriella Torres-Ferrer: Untitled (Valora tu mentira americana), 2018. Foto: Whitney Museum

Warum sind die Strände, mit denen uns die Karibik verheißen wird, eigentlich immer leer? Und warum wiegen sich dort sanft die Kokospalmen im Wind, obwohl diese Bäume in der Karibik überhaupt nicht heimisch sind? Carolina Miranda hatte in diesem Frühjahr gleich in drei Ausstellungen in New York, Chicago und San Juan Gelegenheit, Klischees der Karibik zu hinterfragen. Alle drei zeigen der betroffenen Kritikerin aber auch, dass in der karibischen Wahrnehmung die Tropenstürme inzwischen an die dritte Stelle der historischen Verheerungen gerückt sind, nach Sklaverei und Kolonialismus. Der Hurrikan Maria verwüstete 2017 Puerto Rico und kostete dreitausend Menschen das Leben. Er deckte aber auch auf, in welch miserablem Zustand die Insel bereits war, wie sie leider erst zum Ende der drei Schauen schreibt: "Die Verwendung des Hurrikans Maria als Grundlage für die Ausstellung 'No existe un mundo poshuracán' im Whitney Museum birgt das Risiko, das Ruinöse gegenüber dem Möglichen überzubetonen. Einige, die an der Ausstellung beteiligt sind, bewerten die dann auch ambivalent. 'Viele meiner puertoricanischen Künstlerfreunde auf dem Archipel und in der Diaspora stört es, dass uns ausgerechnet der Katastrophenkapitalismus in kulturellen Institutionen wieder sichtbar macht, einschließlich dem Whitney', schreibt die Essayistin Carina del Valle Schorske im Katalog. 'Wie die Katastrophe uns auch ein wenig berühmt gemacht, wie sie uns um ein bisschen Veränderung gebracht hat'. Der Titel der Ausstellung nach einem Gedicht der puertoricanischen Schriftstellerin Raquel Salas Rivera scheint dieses Unbehagen anzuerkennen ... Die Ausstellung, die eine ganze Etage des Whitney-Gebäudes einnahm, brachte - wie Salas Riveras Gedicht - Ausdrucksformen von Trauer, Wut und Widerstand auf genau die Insel (Manhattan), auf der die ruinösen Schulden Puerto Ricos entstanden sind. Die Besucher wurden von einem zerbrochenen hölzernen Laternenpfahl begrüßt, den die Künstlerin Gabriella Torres-Ferrer aus den Trümmern von Maria geborgen hatte. Der Mast trug noch ein Plakat für eines der halbjährlichen Referenden über den politischen Status der Insel, Inszenierungen der Demokratie, die in keiner Weise verbindlich sind. Darauf steht: 'Valora tu Ciudadanía Americana' (Wertschätzen Sie Ihre amerikanische Staatsbürgerschaft), ein Plädoyer für die Staatsbürgerschaft gegenüber der Unabhängigkeit. Das Jahr des Hurrikans markierte ironischerweise auch den hundertsten Jahrestag des Jones-Shafroth-Gesetzes, das den Puertoricanern die amerikanische Staatsbürgerschaft verlieh - wenn auch nicht das Recht, an Bundeswahlen teilzunehmen. Auf Englisch trägt Torres-Ferrers Beitrag den Untertitel 'Value Your American Lie'."

New Yorker (USA), 10.07.2023

Kaum ist die britische Schriftstellerin Zadie Smith aus den USA nach London zurückgekehrt, gerät sie in den Bann des Viktorianischen: Charles Dickens spukt in ihrem Kopf wie ein ungebetener Geschichtengeist und natürlich beginnt sie, einen historischen Roman zu schreiben, wie sie frohgemut erzählt. Aber wie macht man sich frei von Charles Dickens? "Ich habe zu Mr. Dickens gesagt: So. Sie können eine Statistenrolle einnehmen, aber ich werde Sie im nächsten Kapitel töten, sofort. Sie werden hier nicht abhängen und Sie werden keine geistreichen Reden schwingen oder irgendwelche Weisheiten zum Besten geben. Ich habe mein Wort gehalten und ihn im nächsten Abschnitt getötet, in einem sehr kurzen, sehr dickens-unähnlichen Kapitel mit dem Titel 'Dickens ist tot!' Ich hatte sofort ein Gefühl der Katharsis, von dem die Leute denken, dass es sich beim Schreiben ständig einstellt, das ich aber nur selten zu spüren bekommen habe. Schau mich an! (Habe ich zu mir selbst gesagt.) Ich habe gerade Dickens umgebracht! (Indem ich seinen plötzlichen Tod und die anschließende Beerdigung in der Westminster Abbey beschrieben habe.) Aber, nicht lange nachdem ich diese triumphale Szene geschrieben hatte, ist Charles Dickens (aus praktischen Gründen in Form eines Flashbacks) wieder aufgetaucht, als eine jüngere und noch stärkere und unbändigere Kraft als vierzig Seiten zuvor. An dem Punkt habe ich aufgegeben. Ich habe ihn in meinen Seiten herumspazieren lassen, so, wie er auch im London des 19. Jahrhunderts herumspaziert. Er ist da, dort in der Luft, in den Komödien und Tragödien, in der Politik und der Literatur. Er ist da, dort, wo er nichts zu suchen hat (zum Beispiel in den Diskussionen um die Zukunft Jamaikas). Er ist da, mal als unterdrückender, mal als unwiderstehlicher, als reizvoller, als übermächtiger Einfluss, ganz, wie er es auch im Leben war. Ganz, wie er es in meinem Leben war. Aber so sind sie, die Einflüsse aus der Kindheit. Sie treiben dich in den Wahnsinn, gerade weil du weitaus tiefer in ihrer Schuld stehst als du weißt oder zugeben möchtest. Siehe auch: Eltern."
Archiv: New Yorker

Africa is a Country (USA), 03.07.2023

Die Kriegerkönigin Njinga Mbandi ist eine der größten Ikonen der afrikanischen Geschichte, etliche angolanische Autoren haben ihr wichtige Werke gewidmet. Dass Netflix sie in seine Serie über afrikanische Königinnen aufnimmt, ist für Mariana Bracks Fonseca, John Bella und Bruno Verás kein Grund zur Freude. Die Episode wurde in Südafrika ohne jeden Bezug zu Angola gedreht: "Die künstlerische Gestaltung von Gegenständen, Kleidung und Szenen ist wirklich gut gelungen. Die Qualität und die Aufmerksamkeit für Details sind unbestreitbar. Allerdings, und das ist das zentrale Problem in den jüngsten afrozentrischen Produktionen aus dem Globalen Norden, einschließlich der afrofuturistischen, handelt es sich um Fetischstücke. Sie sind Projektionen schwarzer amerikanischer Vorstellungen und Sehnsüchte über ihre 'Wurzeln'. Mehr als ein Fenster zu Afrika dient diese Projektion (übersetzt in fetischisierte Szenerien, Musik, Tanz und Kostüme) als Spiegel für das Selbst. Sie ignoriert die tatsächlichen ästhetischen Realitäten Angolas, weil sie nicht in dieses Imaginäre (das seine eigene Geschichte hat) passen. So sind beispielsweise einige Szenen, Schmuckstücke, Kostüme und Kleidungsstücke ein Potpourri verschiedener 'afrikanischer' Anspielungen, die im Schwarzen Imaginären des globalen Nordens vorkommen. Der Goldschmuck, den Njinga trägt, stammt von den Asante, und die Wandmalereien in der Stadt Cabaça sind Bilder aus den Kulturen der Sahelzone. Die dreieckigen Stacheln (eine Anspielung auf die Hausa-Kultur) und die Lehmarchitektur spiegeln eher die Größe des alten Mali wider als die historischen Gegebenheiten in Angola."

HVG (Ungarn), 04.07.2023

Der ungarische Schriftsteller Dénes Krisovszky spricht im Interview mit Dóra Matalin über die Schwierigkeit, schreiberisch eine vertretbare Perspektive einzunehmen, und über seinen neuen Roman "Ohne Blätter", indem die Einwohner einer Kleinstadt mit einer unerwarteten Naturkatastrophe konfrontiert werden: Im Frühling fallen die Blätter der Bäume ab. "Es gibt einen teils nachvollziehbaren, teils übertriebenen Kampf um die Repräsentation. Ein extremes Beispiel dafür ist, dass das Gedicht einer schwarzen Dichterin nicht von einem weißen Mann aus der Mittelschicht übersetzt werden darf oder ein Trans-Charakter nicht von einem Cis-Schauspieler gespielt werden darf. Auch in Ungarn gab es die Debatte, ob ein weißer Mann aus der Mittelschicht im Namen eines Roma-Mädchens schreiben darf. Aus Vorsicht und Gründlichkeit dachte ich, dass ich mich als Schriftsteller jenen Feldern nähere, die ich besser überblicken kann. Ich bin kein Ungarisch-Lehrer vom Lande, doch die Ansicht eines Mannes mittleren Alters ist mir nahe. Dann kam ein Punkt beim Schreiben, als ich fühlte, dass die Figur der im Altersheim lebenden Mutter stets in einer zu passiven Situation ist und ich auch zeigen möchte, wie es war, als sie noch jünger war und als aktive, autonome Figur erschien. Meine Frau arbeitet in Wien, wöchentlich zwei bis drei Tage. Da führe ich den Haushalt, bringe die Kinder in die Schule oder in die Kita. Ich sage nicht, dass ich genau weiß, wie es in den Neunziger war Mutter zu sein, doch die Dominanz der Hausfrauenrolle beim Charakter konnte ich vielleicht zeigen. Es ist eine Art Madame Bovary in einer ungarischen Hausfrauenausgabe."
Archiv: HVG

Merkur (Deutschland), 01.07.2023

Ein bisschen umständlich, aber nicht uninteressant führt der Soziologe Uwe Schimank die Konflikte in der Ampelregierung nicht auf das viel unterstellte Parteiengezänk zurück, sondern auf die grundsätzlichen Probleme gesellschaftlicher Integration, die von den drei Parteien - ökologisch, sozial, systemisch - geradezu idealtypisch verkörpert werden und die sich auf zwei verschiedene Aushandlungsprozesse zurückführen lassen. Der erste Typus liege vor, schreibt Schimank, wenn das Ökologische das Soziale zu stark strapaziert: "Wenn Fleisch für fleischgewohnte Menschen immer teurer und kaum noch mehrfach pro Woche erschwinglich wird und naturzerstörende Bettenburgen des Massentourismus nicht mehr gebaut werden dürfen, kann das spätestens in der Summierung leicht zu einer Delegitimierung ökologischer Integrationsmaßnahmen bei breiteren Bevölkerungsgruppen führen. Wie kann man sie dann noch 'mitnehmen', also verhindern, dass sie an der Wahlurne, und nicht nur dort, Denkzettel verteilen? Das gilt insbesondere dann, wenn unübersehbar wird, dass begütertere Gruppen sich all das weiterhin leisten können. Solche neuerlich aufreißenden Ungleichheiten führen schnell zu Verbitterung, Neid und letzten Endes Wut. Nicht nur in Deutschland dürfte ein zentraler Stein des Anstoßes sehr bald die Einschränkung des Autoverkehrs durch Fahrverbote und rasant steigende Energiepreise sein. Der zweite Typus von Trade-off besteht darin, dass ökologische Erfordernisse in systemintegrativer Hinsicht immer wieder mit Funktionserfordernissen der wirtschaftlichen Leistungsproduktion kollidieren. Kann sich Deutschland beispielsweise einen Niedergang der Autoindustrie infolge eines zu späten Umstiegs auf nichtfossile Antriebsenergie und eines baldigen politischen Verbots von Verbrennungsmotoren leisten?"
Archiv: Merkur

Guardian (UK), 29.06.2023

In den vergangenen Jahren hat sich die Gentrifizierung der Metropolen immens beschleunigt und auf weitere Stadtteile ausgedehnt, stellen Ian Goldin und Tom Lee-Devlin, beide Experten für Globalisierung, in ihrem lesenswerten Artikel über die Gentrifizierung in ausgewählten Metropolen fest. Vor allem mit den Millennials sei der Druck auf die Innenstädte angestiegen, die der wichtigste Marktplatz für deren Karrieren und Ehen darstellen. Die Millenials ziehen außerdem immer später an den Stadtrand, weil sie sich mit dem Kinderkriegen so viel Zeit lassen. Was also tun? Goldin und Lee-Devlin setzen auf drei Grundpfeiler: Faires Wohnen, faire Bildung und fairer öffentlicher Nahverkehr: "Der Zugang zu billigen Verkehrsmitteln ist seit langem eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass benachteiligte Stadtbewohner Zugang zu einer Erwerbstätigkeit erhalten. Die in vielen Großstädten bestehenden öffentlichen Verkehrssysteme wurden jedoch oft vor mehr als einem Jahrhundert entworfen und gebaut, als die Geografie der Armut noch ganz anders aussah. Mit der Gentrifizierung der Innenstädte und der Verlagerung der Armut nach außen besteht die Gefahr, dass die Verkehrssysteme in vielen Städten am Ende die Bevölkerung subventionieren, die es am wenigsten braucht. In London beispielsweise sind die Kosten für eine Monatskarte für diejenigen am höchsten, die aus den Außenbezirken in die Innenstadt pendeln müssen, obwohl gerade in diesen Gebieten die Armut am stärksten zunimmt. Es müssen auch Fragen zur Finanzierung des öffentlichen Verkehrs beantwortet werden. In London werden mehr als 70 Prozent der Einnahmen aus dem öffentlichen Verkehr durch Fahrkarten finanziert, doppelt so viel wie in Paris. Eine Monatskarte in London für die Zonen 1 bis 3 - was in etwa den inneren Bezirken entspricht - kostet zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts 184 Pfund (oder 211 Euro). Zum Vergleich: In Paris kostet eine Monatskarte für die Metro für alle Zonen, die eine ähnliche Strecke abdeckt, nur 84 Euro (73 Pfund)." In Deutschland sind es 50 Euro für - überall.
Archiv: Guardian

The Verge (USA), 26.06.2023

Generative KI wird das World Wide Web, wie wir es kennen, fundamental verändern, ist sich James Vincent in seinem schon alleine wegen der viel weiterführenden Links zu sehr lesenswerten Artikel zur Lage des Netzes sicher. Schon jetzt kämpfen datensatte Angebote wie Wikipedia, Reddit oder Stack Overflow mit dem Ansturm von KIs, die Informationen abgreifen, verarbeiten und ohne Quellentransparenz vermitteln möchten. Nachdem Microsoft für seine darbende Suchmaschine Bing den KI-Damm mittlerweile gebrochen hat, ist nun auch Google im Suchzwang und arbeitet händeringend an einem Angebot. Sollte sich der Quasi-Monopolist in Sachen Suchmaschine tatsächlich dazu durchringen, sich von seinen "blauen Links" zu verabschieden, käme dies im Web dem kataklysmischen Ausbruch eines Supervulkans gleich: "Die Google-Suche liegt der Ökonomie des modernen Webs zugrunde, sie verhilft einem Großteil des Internet zu Aufmerksamkeit und Umsätzen ... Avram Piltch, Chefredakteur der Tech-Site Tom's Hardware, hat über die Beta-Version von Googles KI-Suche geschrieben und dabei einige Probleme beleuchtet. Piltch sagt, dass Googles neues System im wesentlichen eine 'Plagiat-Maschine' ist. Seine KI-generierten Zusammenfassungen kopieren Text Wort für Wort von Websites, setzen diese Inhalte aber über die Quelllinks und trocken so deren Traffic aus. ... Sollte sich dieses neue Suchmodell durchsetzen, könnte daran das gesamte Netz Schaden nehmen, so Piltch. Auf Umsatz angewiesene Seiten würden aus dem Geschäft gedrängt und Google selbst würde seine Quellen trockenlegen, um menschlich geschaffenen Inhalt zu verpacken. ... Möglicherweise würde dies ganze Landstriche im Netz beschädigen, die die meisten von uns sehr nützlich finden: Produktbesprechungen, Rezeptblos, Hobby-Homepages, Nachrichtenhäuser und Wikis. Die Seiten könnten sich zwar schützen, indem sie den Zugang beschränken und Geld für den Zugriff verlangen, doch würde auch dies die Ökonomie des Netzes im großen Stil umstrukturieren. Letzten Endes könnte Google jenes Öko-System zerstören, das seinen Wert geschaffen hat, oder so unumkehrbar verändern, dass seine eigene Existenz damit gefährdet wäre. ... Im wesentlichen ist dies ein Kampf um Information - darum, wer sie schafft, wie man auf sie zugreift und wer bezahlt wird. Aber nur weil dieser Kampf vertraut klingt, heißt dies noch nicht, dass er nicht weiter von Belang ist, und auch ist nicht garantiert, dass das System, das am Ende entsteht, ein besseres sein wird als das jetzige. Das neue Web befindet sich mitten in den Geburtswehen und die Entscheidungen, die wir jetzt treffen, werden seine künftige Form bestimmen."
Archiv: The Verge