Magazinrundschau

Orange wie ein unverblümtes Ende

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
23.01.2024. Wenn Hutu und Tutsi Frieden schließen können, schaffen das vielleicht auch Israelis und Palästinenser, hofft in New Lines die israelische Schriftstellerin Maya Savir nach einem Besuch in Ruanda. Der Guardian sieht künftige Märtyrer strammstehen im palästinensischen Flüchtlingscamp Shatila. Himal blickt in Pakistans Gefängnisse. Der New Yorker widmet sich zwei Künstlerinnen: Sofia Coppola und Emily Mason. Die London Review erinnert an den vergessenen Krieg in Tigray. Vice probiert Creepy Weed.

New Lines Magazine (USA), 22.01.2024

Nach den jüngsten Ereignissen ist eine Versöhnung zwischen Israelis und Palästinensern für die israelische Schriftstellerin Maya Savir eigentlich unvorstellbar. Ihre Aufenthalte in Ruanda gaben ihr jedoch den Hauch einer Hoffnung, dass es, trotz allem, eines Tages möglich sein könnte. Sie berichtet von den "Gacaca", Gemeinschaftsgerichte, die eingerichtet wurden, um nach den unvorstellbaren Grauen des Völkermordes ein Zusammenleben zwischen Hutu und Tutsi erneut möglich zu machen. Bei den Gacaca kommen Menschen zusammen und sprechen über Erlebtes, auch über ihre Verbrechen. Sie bitten um Vergebung, die ihnen dann auch meistens gewährt wird, erzählt Savir. Ein junger Mann, den sie bei einer ihrer Reisen trifft, erzählt ihr, wie er bei diesen Anhörungen dem Sohn des Mörders seiner Großmutter begegnete: "B sagte, dass auch er, wie alle anderen, an den Gacaca-Anhörungen teilgenommen habe. Ich stellte ihm dieselbe Frage, die ich jedem stellte, mit dem ich in Ruanda sprach, denn egal wie oft ich diesen Erinnerungen aus erster Hand begegnete, ich stellte fest, dass es immer noch schwer war, sie sich vorzustellen: 'Ist Eure Versöhnung echt? Ich meine, Ihr lebt zusammen, Opfer und Täter. Wie funktioniert das?' Zunächst gab er mir die routinemäßige Antwort, die man Wort für Wort von jedem bekommt, mit dem man in Ruanda spricht: 'Es ist passiert, wir haben uns versöhnt. Früher waren wir Hutu und Tutsi, jetzt sind wir alle Ruander und blicken in die Zukunft.' Aber ich bestand darauf, denn es war wirklich schwer zu begreifen, und nachdem ich noch ein paar Variationen derselben Frage gestellt hatte - 'Vertraut ihr einander?' 'Seid ihr Freunde?' - antwortete er auf alle Fragen mit Ja und schwieg dann. Ich glaube, er versuchte, einen Weg zu finden, um in meinen sturen Kopf einzudringen. Er wies diskret auf zwei junge Männer hin, die mit uns das Gewächshaus bauten und sich zu diesem Zeitpunkt nicht in Hörweite von uns befanden.'Siehst du den da?' Ich nickte. 'Er ist wie ich. Er ist Tutsi. Wir sind Partner, wir haben eine Kooperative und wir züchten zusammen Pilze.' Er richtete seinen Blick auf einen anderen jungen Mann. 'Siehst du diesen Mann?' Ich nickte. 'Er ist auch unser Partner, und er ist Hutu. Aber er ist nicht nur irgendein Hutu. Sein Vater hat meine Großmutter ermordet. Ich habe gehört, wie sein Vater bei den Gacaca-Anhörungen darüber gesprochen hat, aber ich musste ihn nicht hören. Denn ich habe es gesehen. Ich habe gesehen, wie er meine Großmutter in Stücke geschnitten hat." Ich versuchte den Würgereiz zu verbergen, den die Bilder auslösten, die seine Worte in meinem Kopf erzeugten. 'OK, ich verstehe - ihr seid Partner. Aber seid ihr auch Freunde? Vertraust du ihm?' B bejahte erneut, fügte dann aber nach einem stillen Moment leise hinzu: 'Ja, natürlich. Natürlich ist es schwer für unsere Eltern. Für sie ist es fast unmöglich, aber sie tun es für uns. Verstehst du das?'"

Der Journalismus im Iran ist geschwächt, aber er lebt, ruft Kourosh Ziabari. Auch wenn die staatlichen Repressionen immer drastischer werden, darf auf keinen Fall übersehen werden, betont Ziabari, dass es immer noch unabhängige, mutige Journalisten und Zeitungen gibt, die sich gegen den Autoritarismus stellen. So wie die Zeitung Shargh Daily. "Gegründet im August 2003, ist sie eines der letzten Überbleibsel eines Kollektivs vielversprechender liberaler Zeitungen, die während der Reformära gegründet wurden und versuchten, in einer ansonsten düsteren öffentlichen Sphäre, in der es keine widersprüchlichen Stimmen gab, Hoffnung zu wecken. Seit Beginn ihrer Tätigkeit wurde Shargh viermal vorübergehend verboten. Zuletzt wurde sie 2012 geschlossen, weil sie eine Karikatur veröffentlicht hatte, die nach Ansicht der Behörden die Kämpfer des iranisch-irakischen Krieges, die im Inland als 'heilige Verteidigung' bekannt sind, verunglimpft hatte... Doch Shargh ist nach wie vor ein Bollwerk des kritischen, zukunftsorientierten Journalismus, wenn auch ein geschwächtes, das den marginalisierten intellektuellen Strömungen eine Plattform bietet und das Damoklesschwert der Rechenschaftspflicht über dem Kopf der Regierung schweben lässt. Zu den bemerkenswerten Berichten der letzten Zeit gehören die Untersuchung eines Ghettos in der Stadt Mashhad, in dem viele Leprakranke leben, die Untersuchung des Massensterbens von Grenzgängern, die von den Streitkräften angegriffen werden, die Aufdeckung der Vergiftung von Schulmädchen nach den Aufständen von 'Frau, Leben, Freiheit' und ein vernichtender Bericht über die Häufigkeit von Ehrenmorden."

Meduza (Lettland), 19.01.2024

In einem Beitrag für Meduza blickt Lucy Duvall auf die derzeitigen Lebensbedingungen der über 60-jährigen Ukrainer, ein Viertel der gesamten Bevölkerung. Diese leiden massiv unter dem Krieg, dennoch wollen viele von ihnen ihre Heimatdörfer nicht verlassen. "Die ukrainischen Behörden haben die Zwangsevakuierung von Familien mit Kindern aus dem Ostteil von Kupjansk Ende November abgeschlossen. Doch schätzungsweise 5500 Menschen lebten noch in der Stadt, darunter Oleh und seine Frau Katya (Namen geändert), die beide Ende achtzig sind. In der Küche ihrer zu Sowjetzeiten gebauten Wohnung kochte Katja Tee, während sie und Oleh ihre Lebensgeschichte erzählten. Das Ehepaar wurde vor dem Zweiten Weltkrieg geboren; Katja verbrachte ihre Kindheit in Rostow im Süden Russlands und Oleh in Wolnowacha in der Ostukraine. Oleh sagte, er erinnere sich an die Besatzung seiner Heimatstadt durch deutsche Truppen, als er noch ein kleiner Junge war. 'Unsere Kindheit war so', sagte er und bezog sich dabei auf den Krieg, der draußen tobte. 'Die Deutschen ruinierten meine Kindheit, und Russland ruinierte meinen Lebensabend.' (...) Oleh konnte seine ukrainische Rente während der sechseinhalb Monate, in denen Kupjansk besetzt war, nicht in Anspruch nehmen. Er sagte, dass er in einem Moment der Verzweiflung Geld von den von Moskau installierten Behörden annahm. 'Wir brauchten es zum Leben. Die Banken waren geschlossen, die Geldautomaten funktionierten nicht, nichts funktionierte. Es gab nur Spekulanten; man gab ihnen seine Karte, und sie fuhren zu einem Ort im [russisch besetzten] Luhansk oder Donezk und hoben dort [Bargeld] ab', erklärte er. 'Wir waren von Betrügern umgeben.'"
Archiv: Meduza
Stichwörter: Ukraine, Ukraine-Krieg

Guardian (UK), 22.01.2024

Ghaith Abdul-Ahad beschäftigt sich mit Geschichte und Gegenwart des palästinensischen Flüchtlingscamps Shatila in Beirut. 1949 als Provisorium angelegt, hat es sich über die Jahrzehnte zu einer Stadt in der Stadt mit gut 14000 Einwohnern entwickelt. Möglicherweise leben aber auch doppelt so viele Menschen hier. Die Zustände sind schrecklich, Armut und Drogen prägen den Alltag. "Die Wunden vergangener Kriege sind an jeder Straßenecke sichtbar - von einarmigen ehemaligen Kämpfern, die Tomaten verkaufen bis zu Gebäudefassaden, die von schwerem Beschuss durchlöchert sind. Diese Wunden sind nie verheilt und auch die Traumata der Bewohner wurden nie anerkannt, sondern von Generation zu Generation weitergegeben - mehr Gräueltaten, mehr Unterdrückung, neue Bilder von 'Märtyrern', die zu den älteren gestellt wurden. Diese neuen Märtyrer sind Männer einer jüngeren Generation, getötet wurden sie nicht im Flüchtlingslager oder in den Kriegen im Libanon, sondern in der West Bank, in Gaza und in Israel. Neben einem Graffiti, das die letzten Worte des 18-jährigen Ibrahim al-Nabulsi, einem Kämpfer, der in Nablus durch einen israelischen Luftangriff getötet wurde, festhält - 'Niemand soll seine Waffe niederlegen' -, haben einige Schulkinder ihre Schultaschen niedergelegt, und sich in Reih und Glied aufgestellt. Einer von ihnen trägt Armeestiefel, die ihm zu groß sind, sowie Khakihosen, sein Gesicht ist in eine Kufiya gehüllt. Er gibt einen Befehl, und marschiert mit seiner Truppe von Jungen in einer Gasse auf und ab."
Archiv: Guardian

Himal (Nepal), 22.01.2024

Zille Huma, Maira Mumtaz und Johar Imam berichten von den bedrückenden Zuständen in Pakistans Gefängnissen: Nicht nur sind diese völlig überfüllt, medizinisch unterversorgt und hygienisch desolat - ein Großteil der inhaftierten Menschen muss solche Bedingungen auch noch ohne Urteilsspruch ertragen, da sie ihren Prozess noch erwarten. "Frauen, die in Pakistan ohnehin schon gesellschaftlich diskriminiert werden, berichten auch von diskriminierender Behandlung in den Gefängnissen. Manche von ihnen merken an, dass Schilder ihnen die Wichtigkeit des Purdah (der Schleier) und von Haya (Bescheidenheit) nahelegen. Stillende Mütter sprechen von einem Mangel an Privatsphäre in manchen Gefängnissen und dass sie anzüglichen Kommentaren des Aufsichtspersonals ausgesetzt sind. Jene, die keine andere Möglichkeit haben, als ihre jungen Kinder mit in die Haft zu bringen, erzählen von einem Mangel an nahrhaftem Essen und Schuleinrichtungen, die zu ihrer Lage passen. Für die Art und Weise, wie Frauen inhaftiert werden, gibt es keinen eindeutigen Standard im Land. Einige Regionen haben gemischtgeschlechtliche Gefängnisse, andere trennen nach Geschlechtern. Dies führte in manchen Fällen dazu, dass Frauen sehr weit weg von ihren Familien eingesperrt werden, in Haftanstalten, die für sie angemessen scheinen. Inhaftiere Frauen sind auch einem erhöhten Risiko sexuellen Missbrauchs ausgesetzt, da sie im Zuge der Überfüllung den Raum mit Männern teilen müssen und weil Gefängniswärter und -direktoren oft Männer sind. Im Bezirk Faisalabad haben 82 von 134 inhaftierten Frauen zwischen 2006 und 2012 sexualisierte Gewalt erlebt, wie das Justice Project Pakistan berichtet. ... In pakistanischen Gefängnissen herrscht eine Atmosphäre der Überwachung und Repression vor, während Armut, minoritäre ethnische oder religiöse Identitäten, subnationalistische Bestrebungen und dissidente politische Ansichten unter dem Deckmantel der nationalen Sicherheit bestraft werden. Dieses Gefängnissystem zu reformieren, ist äußerst schwierig, Dafür wären nicht nur neue Gesetze und Systeme nötig, man müsste auch festverankerte, diskriminierende Einstellungen abbauen, die Justizirrtümer begünstigen."

Das Magazin hat darüber hinaus einen ganzen Schwerpunkt zu Gefängnissen im asiatischen Raum: Haroun Rahimi beschreibt, wie sich das Jusizsystem unter den Taliban in Afghanistan geändert hat. Andrew M Jefferson berichtet von den desolaten Zuständen in Gefängnissen in Myanmar. Und Sharmila Purkayastha liest Texte und Gedichte, die in Gefängnissen entstanden sind.
Archiv: Himal

New Yorker (USA), 22.01.2024

Für den New Yorker versucht Rachel Syme zu ergründen, warum sich die Filme der Regisseurin Sofia Coppola gerade bei der Generation Tiktok so großer Beliebtheit erfreuen: "Coppolas Filme sind opulent, aber auch ein bisschen steril. Eines ihrer visuellen Markenzeichen ist die aus dem Fenster in die Ferne schauende Protagonistin, abgeschnitten von der restlichen Welt. 'Jeder weiß, dass ich dem Thema der eingeschlossenen Frau nicht widerstehen kann', sagt sie. Aber auch wenn ihre weiblichen Charaktere eingeschlossen sind, sie erreichen durch ihre stilvoll gestalteten Geschichten doch eine Art von Selbstbestimmtheit. Kein anderer Filmemacher hat die abgekapselte Atmosphäre der weiblichen Teenager-Zeit und die Ausdruckskraft ihrer Äußerlichkeiten so präzise abgebildet. Sie ist eine Meisterin der Unordentliches-Zimmer-Szenerie: Haufenweise Kleidung und unpraktische Schuhe, mit Postern übersäte Wände, Kommoden voller Parfümflakons und Porzellanfiguren. (…) Manchen Kritikern jedoch scheinen Coppolas Filme mehr auf den äußeren Eindruck als auf den Inhalt zu achten und zudem zu nah dran zu sein an den Privilegien, von denen sie handeln, als dass sie als distanzierte Kritik verstanden werden könnten. Vor ein paar Monaten hat Coppola mir eine Email geschickt, unaufgefordert, in der sie sich mit einer Sache auseinandersetzt, die ihr in den 25 Jahren ihrer Karriere immer wieder vorgeworfen wird: 'Ich verstehe nicht, wieso der Blick auf Oberflächlichkeiten einen oberflächlich macht?!'"

Emily Mason, Velvet Masonry, 1978. Galerie Miles McEnery


Warum wurde Emily Mason so lange übersehen, fragt sich Jackson Arn anlässlich der Solo-Ausstellung "The Thunder Hurried Slow" der 2019 verstorbenen Malerin in der New Yorker Galerie Miles McEnery. Sie war vielleicht nicht sehr innovativ und als Person total unneurotisch. Aber Farbe konnte sie! "Sie bereitete sie in Katzenfutterdosen zu, rührte und verdünnte sie, bis sie bereit waren, über die Leinwand gegossen und mit einem Pinsel oder manchmal auch einem T-Shirt oder einem Finger aufgetragen zu werden. Im besten Fall wirken sie überraschend und unvermeidlich, im schlechtesten Fall sind sie einfach nur sehr, sehr schön anzusehen. Das früheste Werk in 'The Thunder Hurried Slow' wurde 1968 fertiggestellt, das jüngste 1979, und die ausgestellten Schimmel- und Senftöne haben mehr als nur ein bisschen was von den Siebzigern. Dem Ausstellungskatalog habe ich entnommen, dass Mason die Höhlenmalereien in Lascaux mit Anfang zwanzig besuchte; dieses Detail scheint fast zu naheliegend für eine Künstlerin, die die Farbe gleichzeitig alt und lebendig aussehen lässt. Es ist eine seltene Kunstausstellung, die sowohl Stagflation als auch das Prähistorische heraufbeschwört, aber Masons Arbeit inspiriert zu dieser Art von freier Assoziation. Man kann ihre Farben nicht anstarren, ohne ein Zucken des Wiedererkennens zu spüren - beim Betrachten ihrer Türkis- und Terrakottatöne fühlte ich mich so sehr wie schon lange nicht mehr als gebürtiger Südwestler - und man kann nicht weiter starren, ohne dass diese anfänglichen Eindrücke wieder verschwinden. Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Farbe für Mason eine Form des Geschichtenerzählens war: Ein Pink wirkt wie eine Wendung der Handlung, ein Orange wie ein unverblümtes Ende."

Weiteres: Evan Osnos denkt über das Phänomen "Elite" nach, unter dem jeder etwas anderes versteht. Anthony Lane sah im Kino Lila Aviles' Familiendrama "Totem".
Archiv: New Yorker

Deník Referendum (Tschechien), 19.01.2024

Der tschechische Premier Petr Fiala hat in seiner Funktion als derzeitiger Vorsitzender der Visegrád-Gruppe dieser Tage erklärt, vorerst kein V4-Treffen einberufen zu wollen. Für den Politologen Jiří Pehe liegen die Gründe dafür klar auf der Hand: "Nach den Wahlen in der Slowakei und in Polen hat sich die Visegrád-Gruppe wieder neu aufgeteilt. Während sich vor diesen Wahlen immer häufiger Polen und Ungarn auf der einen Seite sowie Tschechien und Slowakei auf der anderen Seite gegenüberstanden, verläuft nun die Trennlinie zwischen Ungarn und der Slowakei auf der einen, und Tschechien und Polen auf der anderen Seite." Und der Graben zwischen letzteren beiden Ländern und dem neuen ungarisch-slowakischem Verbündetenblock könne sich noch weiter vertiefen, so Pehe. "Mit anderen Worten, die Slowakei hat Polen in der Rolle des Landes abgelöst, das mithilfe seines Vetos verhindern wird, dass Ungarn sein EU-Stimmrecht verliert. [Der slowakische Premier] Fico hat in diesem Zusammenhang bereits erklärt, wie wichtig es für die Slowakei sei, dass die EU die Souveranität eines jeden Landes respektiere." Pehe befürwortet Fialas Aussetzen der Treffen, denn "eine Fortführung der V4 in Gestalt einer Art Zombiegruppe kann für die Länder, die die freiheitliche Demokratie verteidigen und sich klar für den Widerstand gegen den russischen Angriff auf die Ukraine einsetzen, sogar kontraproduktiv sein." Doch in seinen Augen ist das noch nicht genug: "Die gegenwärtige [tschechische] Regierung sollte sich von dem Geschehen in der Slowakei und in Ungarn und dem Vorgehen der beiden Länder in der EU noch deutlicher abgrenzen, als lediglich das Treffen der V4-Premiers mit einem 'Man wird sehen' zu verschieben."

Vice (USA), 17.01.2024

Ist "Creepy Weed" der neue Trend in der Drogenindustrie? In Chile lautet die Antwort eindeutig ja. Als Creepy Weed ist Cannabis so viel stärker wie Whiskey gegenüber Bier, berichtet Nathaniel Janowitz. Der Stoff wird in Chile von berühmten Rappern besungen, aber selbst diese raten eher zur blonden Variante, die dunkle ist so stark, dass sie Kopfschmerzen und Schlimmeres auslösen kann - von unklaren Beimischungen zum Stoff abgesehen. Nebenbei lernt man in Janowitz' Artikel einiges über das Drogenland Chile, das noch im Schatten brutalerer Nachbarn steht. Der Autor hat für seinen Artikel mit Dealern gesprochen. Die Hauptstadt Santiago "ist für Dealer gefährlicher geworden, weil andere Drogen und jüngst sogar Fentanyl in den Markt gedrückt werden. Der Name, der heute auf Santiagos Straßen Angst auslöst, ist nicht kolumbianisch, sagen die Dealer.  Das 'Jalisco New Generation Cartel' (CJNG) ist angekommen, sagt ein Dealer und spielt damit auf das extrem gewalttätige mexikanische Drogenkartell an. Obwohl das CJNG nicht besonders an Creepy Weed interessiert zu sein scheint, ist das Spiel gefährlicher geworden, weil 'die Leute eben anders Geschäfte machen. Es wird immer Konflikte geben, die Konkurrenz ist halt groß', sagt der eine Dealer. Auch der andere, der getrennt vom ersten interviewt wurde, stimmt zu und sagt, dass er jetzt immer eine Waffe mit sich trägt. Und der erste beendet das Interview bei Fragen nach dem mexikanischen Kartell."
Archiv: Vice

HVG (Ungarn), 18.01.2024

Im neuen Curriculum wird das Fach Kunstgeschichte an der gymnasialen Oberstufe nicht mehr unterrichtet. Im Interview mit Zsuzsa Mátraházi spricht die Lehrstuhlinhaberin für Kunstgeschichte an der ELTE Universität, Emese Révész über die Auswirkungen der Entscheidung. "Unsere Absolventen werden schnell vom Arbeitsmarkt absorbiert, sie werden Museologen oder Museumspädagogen, arbeiten in zeitgenössischen Galerien, im Kunsthandel und möglicherweise, solange es sie noch gibt, in der Denkmalpflege. Wenn sie aber wegen der fehlenden Sekundarschulbildung bei den absoluten Grundlagen anfangen müssen, wird auch die Wissensbasis unserer Studenten instabiler. Dennoch bin ich mir sicher, dass es immer einen festen Kern von Denkern geben wird, die sich für das kulturelle und bauliche Erbe verantwortlich fühlen und aufstehen, wenn zum Beispiel ein wichtiges Gebäude abgerissen werden soll. Mit der Zeit wird man aber müde. Und siehe da, im Stadtzentrum werden wieder denkmalgeschützte Gebäude bis auf die Fassade abgerissen, und selbst die Experten sind es leid, dagegen zu protestieren. Ich glaube nicht, dass die Texte, die wir in unserem Kampf für die kunsthistorische Bildung verfasst haben, von Entscheidungsträgern gelesen werden, oder dass sie ihren Inhalt Satz für Satz abwägen. Dennoch haben wir die moralische Pflicht, unsere Stimme zu erheben. (…) Aber die Ungarische Akademie der Künste und László Baán, der Generaldirektor des Museums der Schönen Künste, der nach ein paar Jahren ebenfalls dringend Experten und vor allem Besucher bräuchte, schweigen."
Archiv: HVG

The Insider (Russland), 17.01.2024

Die Redaktion listet zehn der beliebtesten Lügen auf, die der Kreml 2023 über den Krieg in der Ukraine verbreitet hat. Darunter findet sich auch die skurrile Vorstellung, die NATO wolle die Ukraine annektieren. "Im April berichteten große Kreml-Propagandapublikationen, dass bestimmte 'Expertenkreise, die dem Büro von Wolodimir Selenski nahe stehen', offenbar die Möglichkeit der Schaffung eines gemeinsamen Staates mit Polen - einer 'neuen Rzeczpospolita' - erörterten. Die Phantasie der Propagandisten basierte auf Selenskis Aussage, dass es in Zukunft keine Grenzen zwischen dem ukrainischen und dem polnischen Volk geben werde. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow erklärte sogar, Selenski könnte die ukrainische Sprache zugunsten des Polnischen aufgeben. All diese Fantasien wurden durch einen unspektakulären Satz ausgelöst, in dem sich Selenski eindeutig auf den künftigen EU-Beitritt der Ukraine bezog. Im April meldete die staatliche russische Nachrichtenagentur TASS, Selenski habe versprochen, die Regionen Wolhynien, Lemberg und Riwne im Gegenzug für die Hilfe und Unterstützung Polens abzutreten. Die Quelle der Information stellte sich als dieselbe gefälschte Publikation heraus - Niezależny Dziennik Polityczny. Das war aber noch nicht alles. Im Oktober berichtete RIA Novosti, der Westen habe einen Plan ausgeheckt, um die Ukraine vollständig von der politischen Landkarte der Welt verschwinden zu lassen. Die Quelle war ein Artikel in einer wenig bekannten Publikation der Palästinensischen Autonomiebehörde, in dem von 'polnischen Ambitionen' die Rede war und behauptet wurde, dass 'westliche Macht- und Politikkreise' einen solchen Ausgang des Krieges in Betracht zögen. Bemerkenswerterweise war der einzige Politiker, der in dem Artikel erwähnt wurde - Dmitri Medwedew - nicht aus dem Westen."
Archiv: The Insider

London Review of Books (UK), 25.01.2024

Tom Stevenson beschäftigt sich anlässlich von Martin Plauts und Sarah Vaughans Buch "Understanding Ethiopia's Tigray War" mit einem vergessenen Krieg der jüngsten Vergangenheit. Und zwar mit einem unfassbar grausamen. Schätzungen zufolge starben zwischen 2020 und 2022 zwischen 385000 und 600000 Menschen im Zuge des Konflikts in der äthiopischen Region Tigray, viele davon aufgrund einer durch eine Militärblockade in der Gegend ausgelösten Hungersnot. Äthiopien und Eritrea bekämpften gemeinsam Truppen der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF), die Äthiopien zwischen 1991 und 2018 zusammen mit anderen Gruppen regiert hatte. Für den Krieg, den der 2018 regierende äthiopische Ministerpräsidenten Abiy Ahmed mit unnachgiebiger Härte führte, interessierte sich im Westen kaum jemand. "Im Dezember 2021 entsandte die UN ein Team, bestehend aus Kaari Betty Murungi, Steven Ratner und Radhika Coomaraswamy, das die Kriegsverbrechen während des Konflikts untersuchen sollte. Die äthiopische Regierung verbot ihnen Zugang zu allen Orten außer Addis Abeba, die eritreische Regierung ermöglichte überhaupt keinen Zugang. Es gab eine Kommunikationsblockade, was sogar Inverviews aus der Ferne erschwerte. Dennoch fand das Team Hinweise auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. In Amhara hatten Tigray-Truppen Zivilisten hingerichtet (Human Rights Watch fand heraus, dass die mit der Regierung verbündeten Amhara-Milizen systematisch Hunderttausende im Westen Tigrays vertrieben oder getötet hatten). Nach einem äthiopischen Luftangriff auf dem Markt von Togoga im Juni 2021, hatte die Armee verhindert, dass Krankenwagen den Ort erreichen. Die Einwohner Humeras und Umgebung wurden vertrieben und in ein Flüchtlingslager in Dedebit verfrachtet. Im Januar 2022 tötete ein Drohnenangriff 60 Flüchtlinge und hinterließ 'zerrissene Körper und menschliches Fleisch, das von Bäumen hing'. Das sind nur einige der Gräueltaten, die die begrenzte Untersuchung dokumentierte."

Zu Unrecht aus dem Amt gejagt wurde die Harvard-Präsidentin Claudine Gay, und zwar von rechten Politikern und Israelfreunden, findet Randall Kennedy, selbst Professor an der Harvard Law School. Kennedy schreibt über die Hearings im amerikanischen Parlament und die Plagiatsvorwürfe gegen Gay, die schließlich zu ihrem Rücktritt führten. Er selbst ist, lesen wir erstaunt, der Meinung, dass weder Antisemitismus noch Rassismus auf dem Harvard-Campus, bedauerlichen Einzelfällen zum Trotz, zu ernsthaften Problemen führen. Und auch die Plagiatsvorwürfe wischt er weg. Der aktuelle Konflikt hat nach Kennedy ganz andere Hintergründe: "Was in Harvard passiert, ist Teil eines langanhaltenden kulturellen Kampfes, dessen Ende nicht in Sicht ist. Die Demagogen im Parlament, die die Antisemitismus-Hearings organisierten, verlangen jetzt, dass die Universität alle Unterlagen, die die interne Untersuchung der Plagiatsvorwürfe gegen Gay betreffen, herausgibt. Dass es ihnen gelungen ist, ihre Entlassung zu erzwingen, bestärkt sie darin, die Autonomie der Universität weiter zu untergraben. Zum Beispiel hinterfragen sie ihren Status hinsichtlich Steuerbefragung und der Möglichkeit, staatliche Zuschüsse zu erhalten. Momentan haben sie nicht die politischen Möglichkeiten, diese Drohungen in die Tat umzusetzen. Aber wir befinden uns in einem Wahljahr, und die republikanischen Präsidentschaftskandidaten haben klargemacht, dass sie sich liebend gern an der Ausweidung Harvards beteiligen würden."

Weitere Artikel: Sheila Fitzpatrick liest fasziniert Anna Reids Buch "A Nasty Little War: The West's Fight to Reverse the Russian Revolution" über westliche militärische Intervention (vor allem der Briten) während der russischen Revolution, ukrainischen Nationalismus und die Pogrome an der jüdischen Bevölkerung Osteuropas. Die Schriftstellerin Patricia Lockwood erinnert sich in einem sehr persönlichen Text an die Dichterin Molly Brodak, die sich 2020 das Leben nahm. Susan Eilenberg liest zwei Keats-Biografien von Lucasta Miller ("Keats: A Brief Life in Nine Poems and One Epitaph") und Anahid Nersessian ("Keats's Odes: A Lover's Discourse"). Liam Shaw lernt aus Dale E. Greenwalts Band "Remnants of Ancient Life: The New Science of Old Fossils" einiges über den korrekten Umgang mit Fossilien. Paul Keegan besucht die Philip-Guston-Ausstellung in der Tate Modern. Michael Woods sah im Kino Yorgos Lanthimos' "Poor Things".