Vom Nachttisch geräumt

Das fehlende Tischtuch

Von Arno Widmann
08.12.2017. Anka Muhlsteins "Mit Feder und Pinsel" über die Bedeutung der Malerei im Werk von Zola, Balzac und Proust.
Die 1935 in Paris geborene Anka Muhlstein ist Historikerin und die Tochter von Anatol Mühlstein, der von 1930-1936 Botschafter Polens in den USA war. 1932 heiratete er Diane de Rothschild, die Tochter des französischen Bankiers Robert de Rothschild. Das Paar hatte drei Töchter und floh, als die deutschen Truppen Frankreich besetzten, in die USA. Nach dem Krieg gingen sie zurück nach Frankreich. Seit 1974 lebt Anka Muhlstein zusammen mit ihrem Ehemann, dem Anwalt und Schriftsteller Louis Begley in New York. Sie erhielt für ihre Bücher den Prix Goncourt und den Preis der französischen Akademie der Wissenschaften. Vor ein paar Tagen ist ihr sehr schönes Buch über die Rolle der Malerei in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts auf Deutsch erschienen.

"Ut pictura poesis" schrieb unter anderen Horaz in seiner Ars poetica. Die Poesie solle also sein wie die Malerei. Also was, fragt sich der Inhaber eines großen Latinums, kann da schon so Besonderes im Frankreich des 19. Jahrhunderts geschehen sein? Ein schönes Beispiel, wie einem interessante, große Themen entgehen können, weil man schon zu wissen glaubt. Tatsächlich hat der Vergleich zwischen den Künsten schon immer - besser: immer mal wieder - eine Rolle gespielt. Aber darum geht es Anka Muhlstein nicht. Sie stellt sich die Frage, warum nahezu jeder große Autor des 19. Jahrhunderts sich mit Malerei beschäftigte, während im 18. Jahrhundert Diderot fast der einzige war, der sich für Malerei interessierte. Sie weist sofort auf eine der großen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts hin: das Museum. Es erleichterte den Zugang zur Kunst, zur Malerei enorm. Das Museum war auch und ist übrigens noch immer ein Massenmedium. Die Öffentlichkeit, die über Malerei diskutierte, vergrößerte sich gewaltig durch die Museen.


Der junge Balzac, 1820er. Das Bild wird Achille Deveria zugeschrieben. Wikipedia

Warum Frankreich, warum Paris? Anka Muhlstein nennt einen weiteren sehr handgreiflichen Grund für das plötzlich so sehr gesteigerte Interesse der Literaten an der Malerei: das zum Abbruch bestimmte Doyenné-Viertel südlich der Place du Carrousel in Paris bot billigen Wohnraum, in dem sich eine Bohème bildete, die sich in Kneipen und Ateliers traf und über Kunst und Literatur, über Politik und Liebe stritt. Viele Maler entdeckten und entwickelten in diesem Treibhaus ihre schreiberischen und wohl noch mehr Autoren ihre zeichnerischen Fähigkeiten. Muhlsteins Buch beantwortet glücklicherweise nicht nur die eingangs gestellte Frage, sondern stürzt sich in die Malergeschichten in den Büchern von Balzac bis Proust. Sie zeigt, wie Balzacs Detailversessenheit, sein Spaß an immer neuen Einzelheiten, auf Künstler abstoßend wirken konnte. Gerade weil sie wussten, wie leicht es passiert, dass die Fülle der Eindrücke die Entstehung eines wirklichen Eindrucks verhindert. Delacroix schrieb zum Beispiel über Balzacs Roman "Die Bauern": "Ständig die gleichen liliputanischen Details, weil er glaubt, damit jeder seiner Figuren etwas Auffallendes zu verleihen."

Balzac - und vielleicht nicht nur er -  hatte von der religiösen Malerei gelernt, wie wichtig immer wiederkehrende Attribute sind. Sie ordnen nicht nur die Masse des Personals, sondern sie sorgen auch dafür, dass bestimmte Wörter sich dem Leser  einprägen. Diese Technik gibt es in der Literatur seit es sie gibt, in der bildenden Kunst und in der Musik. Das Spiel von Abwechslung und Wiederholung gehört zu allen Künsten. Die Künstler beobachteten einander wohl immer. Aber manchmal, wie seit den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts in Paris, rücken die Vertreter der verschiedensten Künste so eng zusammen, dass sie immer wieder einen Blick hinüber werfen auf die Arbeit der anderen.


Paul Cezanne, Paul Alexis liest Emile Zola vor, 1869. Wikipedia

Cézanne schreibt: "In meiner ganzen Jugend habe ich das malen wollen, dieses schneeweiße Tuch" aus Balzacs Roman "Das Chagrinleder". Ich nahm mir die Zeit und schlug die Stelle bei Balzac nach: "Die beiden Freunde nahmen lachend Platz. Mit einem Blick, der dem Wort zuvor kam, entrichtete zuerst jeder Gast dem prächtigen Anblick seinen Tribut an Bewunderung; die lange Tafel war mit einem schneeweißen Tuch bedeckt, auf dem die Gedecke symmetrisch angeordnet und von goldbraunen Brötchen gekrönt waren. Die Kristallgläser spiegelten mit ihren glitzernden Reflexen die Farben des Regenbogens, die Kerzen zeichneten ein Kreuzfeuer bis ins Unendliche, die unter Silberdeckeln aufgetragenen Speisen reizten den Appetit und die Neugierde."

Wie wenig die Fantasie braucht, um einen Menschen in Bewegung zu setzen! Da steht nur "mit einem schneeweißen Tuch bedeckt" und schon träumt ein junger Cézanne davon, dieses Tuch einmal, ein einzige Mal nur zu malen. So dachte ich mir. Bis ich die Stelle im französischen Original nachlas. Da gibt es kein "schneeweißes Tuch",  sondern "une longue table, blanche comme une couche de neige fraichement tombée"  (eine lange Tafel, weiß wie eine Lage frisch gefallenen Schnees). Wer nun noch bei "couche" an "voulez-vous coucher avec moi ce soir" denkt und an den kleinen Tod, der der Orgasmus ist, der versteht die Begeisterung Cézannes. Und Sigmund Freud: Cézannes Tuch ist der klassische Fall einer "Deckerinnerung". Der Begriff ist diesmal - angesichts der Tischdecke - sogar wörtlich zu nehmen. Wer die Stelle nicht mit Freud lesen möchte, der kann immer noch sagen, Cézanne, habe sich das Tuch gemerkt, weil Balzac es verschweigt. Cézanne musste es sich bei der Lektüre ergänzen. Darum, als Produkt eigener Arbeit also, verhakte es sich in seinem Gedächtnis. Das steht nicht bei Anka Muhlstein. Sie las ja alles auf Französisch. Aber ihrem sehr schönen, anregenden Buch verdanke ich diesen und noch ein paar anderer Ausflüge.

Anka Muhlstein: Mit Feder und Pinsel - Zola, Balzac, Proust und die Malerei, Insel Verlag, Berlin 2017, aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann, 212 Seiten, 14 farbige Abbildungen, 25 Euro