Vom Nachttisch geräumt

Das ist kein Religionskrieg

Von Arno Widmann
03.06.2015. Manchmal will man zu viel und übersieht darum, worum es einem geht. Dies zeigt exemplarisch das Handbuch Christentum und Islam in Deutschland.
Fast 1300 Seiten zu zahlreichen Aspekten des christlich-muslimischen Zusammenlebens in Deutschland. Das ist aber nur die Fortsetzung des 854 Seiten umfassenden "Lexikon des Dialogs - Grundbegriffe aus Christentum und Islam", das vergangenes Jahr erschien und jetzt schon in zweiter Auflage vorliegt. Das Großprojekt wird von der Eugen Bieser Stiftung getragen und finanziert. Die "richtet ihren Blick aus christlichem Welt- und Werteverständnis auf alle Bereiche menschlicher Existenz mit dem Ziel des Dialogs für die künftige Entwicklung des Christentums und für die Verständigung mit anderen Weltreligionen, Weltanschauungen und Kulturen."

Jeder hat das Recht, sich selbst ein Bild von der Welt zu machen. In dieses Bild geht sein Weltbild mit ein. Je intensiver er sich auf die anderen Vorstellungen einlässt, desto stärker könnte sich das Weltbild ändern, mit dem er angetreten ist. Das ist das Problem oder wohl besser die Hoffnung der Integration. Keiner der Beteiligten geht unverletzt, integer, aus dem Vorgang der Integration heraus. Man hat viel gegen die Idee des Schmelztiegels gewettert und betont, dass die unterschiedlichen Völkerschaften zum Beispiel der USA keineswegs in einem neuen Gemisch aufgehen, sondern weiter bestehen. Aber sie bestehen verändert weiter. Und es gibt echte Mestizen.

Mein Misstrauen gegen ein Handbuch, das glaubt, ein "Handbuch Christentum und Islam in Deutschland" zu sein, war immens. Es gibt doch außer "und" und "in" in diesem Titel keinen Begriff, hinter den sich nicht dicke Fragezeichen setzen ließen. Zudem: Wie glaubwürdig ist ein "Handbuch", das aus zwei Büchern besteht? Geht das überhaupt: Christentum und Islam so direkt einander gegenüberzustellen? Natürlich geht das nicht. Beide sind eingebettet in eine Gesellschaft, in der andere Religionen existieren und in der auch Menschen ohne Religion leben. Der Staat, das "Deutschland" des Titels, muss eine weitgehende Unabhängigkeit gegenüber den differierenden religiösen Überzeugungen seiner Bürger bewahren. Auch eine gewisse Interesselosigkeit. Er darf uns nicht nach unseren religiösen Überzeugungen ausforschen.

Der erste der einundfünfzig Beiträge trägt den Titel "Religionszugehörigkeiten in Deutschland". Die Autorin, Ursula Boos-Nünning, stellt die Lage so eindrücklich dar, dass ich mir wünsche, jeder bekäme die Seiten 21 bis 31 zur Hand. Wir wüssten dann etwas besser, worüber wir sprechen. Das beginnt bei den Zahlen. Etwa vier Millionen Muslime sollen in der Bundesrepublik leben. Wie kommt man auf diese Zahl? Man addiert die Zuwanderer aus muslimisch oder vorwiegend muslimisch geprägten Ländern. Aber niemand weiß, wer von ihnen ein gläubiger Muslim ist und wer von ihnen womöglich seine Heimat verließ, weil ihm der religiöse Druck seiner Umgebung - drücken wir es etwas salopp aus - auf die Nerven ging. Es gibt eine Studie des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, die ein - wie repräsentatives? - Sample türkischer Migranten befragte und zu dem Ergebnis kam, dass 15 Prozent von ihnen sich als religionslos bezeichneten. Aber selbst bei denen, die Muslime sind, ist damit nicht viel gesagt. Der Islam besteht nach dem einem Glaubensbekenntnis am nächsten kommenden Text, dem Gabriel-Hadith, daraus, "dass Du bekennst, dass es keinen Gott gibt außer Gott und dass Mohammed der Gesandte Gottes ist; dass Du das Pflichtgebet verrichtest und die Armengabe leistest, dass Du im Ramadan fastest und zum Haus (Gottes) pilgerst, wenn du in der Lage bist, dies zu tun."

Das ist nicht viel. Dogmatisch nicht und nicht rituell. Jedenfalls enthält es nichts, das heute Anlass geben könnte für einen Krieg der Kulturen. Der wird an anderen Stellen munitioniert. Die beiden Bände informieren darüber. Vor allem aber versuchen sie das ganze weite Feld der Beziehungen zwischen Christentum und Islam im heutigen Deutschland dem Leser vor Augen zu stellen. Kaum jemand wird freilich die fast 1300 Seiten lesen. Also alles, was sich zwischen Überblicksartikeln über die Situation des Christentums und des Islams, über Aleviten und Ahmadiyya in Deutschland bis zu muslimischer Telefonseelsorge und die Arbeit einer Gruppe, die sich München Kompetenz nennt, erstreckt. Man wird sich herauspicken, was an Problematiken gerade von den Medien an die Oberfläche gespült wird.

Oder aber, man verhält sich antizyklisch und sucht nach dem, von dem man noch nie gehört hat. Man liest den Rückblick von Corinna Schäfer und Naika Foroutan auf die von 2006 bis 2013 tagende Deutsche Islamkonferenz oder Said Al-Dailamis Artikel über "Muslime in der Bundeswehr". Natürlich gibt es zu fast jedem Thema - so ist das Handbuch angelegt - zwei Beiträge. Also zum Beispiel christlich-islamischer Dialog aus christlicher und christlich-islamischer Dialog aus muslimischer Perspektive. Der Zwang zur bedeutungsvollen Unterscheidung führt nicht selten in das von mir gerne betretene Terrain der unfreiwilligen Komik. Hinzu kommt, dass es natürlich weder die christliche noch die muslimische Sicht auf die Dinge gibt. Und schon gar nicht, wenn man die Mahnung des ersten Kapitels nicht vergessen hat, dass nämlich nicht jeder statistische Christ oder statistische Moslem auch wirklich einer ist.

Nach zwei Stunden lesen in den Bänden, drängt sich der Eindruck auf, dass die Religionen einander ein Problem sein mögen, dass sie es aber für den religiös indifferenten Leser, also auch für den säkularen Staat, nicht sind. Solange sie sich an die Gesetze halten. Die Vorstellung, wir lebten christliche Werte und "die" die ihren, hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Sie ist ein Produkt ideologischer Auseinandersetzungen. Die Christen leben keine - was immer das sein mag - christlichen Werte. Die Muslime tun das ebenso wenig mit den ihren. Es gibt kulturelle Differenzen, die aber innerhalb dieser Konstrukte - Christentum und Islam - ebenso groß sind wie zwischen ihnen. Das Handbuch, so nützlich es scheint, ist in die Falle einer falschen Diskussion gegangen. Würden Christen dem barmherzigen Jesus folgen und Muslime dem Allerbarmer Allah, es gäbe weder hüben noch drüben, noch zwischen hüben und drüben auch nur ein einziges Problem. Aber die vielen Religionen, die zahllosen Lebensweisen, die sich in den beiden black boxes "Christentum" und "Islam" tummeln, bekriegen einander seit Jahrhunderten und leben dann wieder eine Weile friedlich mit einander, dann schießen Sunniten wieder auf Schiiten und Protestanten auf Katholiken. Der Dialog zwischen Christentum und Islam ist interessant, aber mit der Arbeit am friedlichen Zusammenleben in Deutschland hat er so gut wie nichts zu tun.

Mathias Rohe, Mouhanad Khorchide, Havva Engin, Hansjörg Schmid, Ömer Özsoy, Ömer (Hrsg.): Handbuch Christentum und Islam in Deutschland, Herder Verlag, Freiburg 2014, 1297 Seiten, 48 Euro.