Vom Nachttisch geräumt

Kein Bruder Sonne

Von Arno Widmann
11.05.2015. Dante und Giotto interpretierten den Heiligen Franziskus sehr unterschiedlich, zeigt uns der Philosoph und langjährige Bürgermeister Venedigs Massimo Cacciari
Im Jahre 2012, also noch vor Papst Franziskus, erschien das kleine, keine 100 Seiten dünne Bändchen, in dem der Philosoph und langjährige Bürgermeister Venedigs Massimo Cacciari (geboren 1944) seine Überlegungen zur Rezeption des Heiligen Franziskus (1181 -1226) bei dem Dichter Dante Alighieri (1265 - 1321) und bei dem Maler Giotto di Bondone (1266 -1337) darlegte. Ich möchte nur auf eine einzige Passage hinweisen. Berühmt ist das Gemälde in Assisi, das den Heiligen Franziskus zeigt, wie er sich zu den auf dem Boden herumlaufenden und pickenden Vögeln hinunterbeugt und ihnen predigt. Und sie segnet. In der Forschung glaubt man nicht recht daran, dass das Bild von Giotto selbst stammt, aber darum geht es hier nicht. Cacciari weist darauf hin, dass Dante in seinem Thomas von Aquin in den Mund gelegten Loblied auf den Heiligen Franziskus im 11. Gesang des Paradieses, dessen berühmte Vogelpredigt mit keinem Wort erwähnt. Cacciari schreibt, drei Szenen bestimmten Dantes Bild des Heiligen: 1) die Entscheidung, sich mit der Armut zu vermählen, 2) die Beziehung zum Papstum bei der Genehmigung der Ordensregel und 3) die Predigt.


Giotto: Szenen aus dem Leben des hl. Franziskus, Louvre

Auch in Giottos Franziskus-Bild im Louvre geht es um drei Szenen: 1) den Traum Innozenz III., 2) die Genehmigung der Ordensregel, 3) die Vogelpredigt. Cacciari schreibt dazu: "Dramatischer Perspektivwechsel: der Papst wird direkt von Christus inspiriert (so wie auch Christi Wundmale ohne irgendjemandes Vermittlung auf Franziskus "herniederregnen"), in dem Minoritenbruder aus Assisi seinen "Champion" zu sehen. Die Genehmigung der Ordensregel ist die natürliche Folge. Bei Dante dagegen weht der Geist nur zu Franziskus; die Päpste wissen nicht und wollen nicht, aber sie müssen "der die Welt regierenden Vorsehung" folgen. Nichts Königliches dagegen in Giottos Franziskus. Er beugt das Knie angesichts des päpstlichen Hofstaats." Ein wenig weiter führt Cacciari aus: "In Franziskus drückt sich eine neue Vorstellung von der Natur aus. Bei Dante fehlt nicht einfach nur die Vogelpredigt, sondern der Geist des Canticum fratris solis. Der Dichter Franziskus bleibt dem Dichter Dante fremd… Das jeder Kreatur der Nächste sein des Heiligen Franziskus wird von Giottos Realismus verstanden, nicht von Dantes. Real ist für Dante das Sein hin zur höchsten Wirklichkeit. Die Natur ist für ihn "das große Meer des Seins", ganz und gar abhängig vom Schöpfer und verweisend auf ihn."

Dantes über Himmel und Höllen schweifender Blick hält nicht angesichts der irdischen Schönheiten an. Er eilt sofort weiter zu dem, von dem der Himmel und alle Natur abhängt. Das ist nicht franziskanisch, jedenfalls ist es ein um den Sonnengesang verkürzter Franziskus. Man wird sich beim Lesen dieser Passage daran erinnern, dass Fausts Seele in dem Augenblick dem Teufel gehören sollte, da er zum Augenblicke sage, verweile doch, du bist so schön. Das Akzeptieren einer anderen Schönheit als der Gottes ist ewige Verdammnis nach sich ziehende Sünde. Nicht in den Augen des Heiligen Franz, sondern in denen von Dantes eifersüchtigem Gott

Massimo Cacciari: Doppio ritratto - San Francesco in Dante e Giotto, Adelphi, Mailand 2012, 86 Seiten, 7 Euro.