Vom Nachttisch geräumt

Nur ein Springen von einer Wechselwirkung zur nächsten

15.11.2015. Verabschiedet den Universaltöpfer: Carlo Rovelli in seinen "sieben kurze Lektionen über Physik".
Carlo Rovelli wurde 1956 in Verona geboren. Er ist Physikprofessor in Marseille. Berühmt wurde er in den 90er Jahren, als er zusammen mit Lee Smolin die Theorie von der Schleifenquantengravitation formulierte. Seine Ansichten zu Raum und Zeit kann man nachlesen in "Che cos'é il tempo? Che cos'é lo spazio?". Eine erweiterte Fassung existiert auf französisch. In Italienisch, Englisch, Französisch und Griechisch, nicht aber auf Deutsch, gibt es von Carlo Rovelli eine zweihundertseitige Abhandlung über "Anaximander, den ersten Wissenschaftler". Vergangenes Jahr erschien in Italien ein kleines Buch, um das ihn Roberto Calasso, der Verleger des Hauses Adelphi gebeten hatte. Ein Büchlein, das in diesem Jahr in einer Reihe europäischer Sprachen vorgelegt wurde. Die deutsche Ausgabe ist bei Rowohlt erschienen. Ich habe mir das Buch zehnmal gekauft. Es wird eines meiner Weihnachtsgeschenke für dieses Jahr. "Sieben kurze Lektionen über Physik" heißt es. Ich bin hingerissen davon, und ich möchte, dass alle es sind. Lektion 1: Relativitätstheorie, 2: Quenten, 3: Architektur des Kosmos, 4: Teilchen, 5: Raumkörnchen, 6: Die Wahrscheinlichkeit, die Zeit und die Wärme der Schwarzen Löcher und zum Abschluss: Wir.

Fangen wir mit dem Ende an: "Wir sind keine externen Beobachter… Wir bestehen aus den gleichen Atomen wie die Pinien auf den Bergen und tauschen die gleichen Lichtsignale aus wie die Sterne in den Galaxien." Rovelli erinnert daran, wie die Forschung der letzten Jahrhunderte den Menschen immer weiter aus dem Zentrum des Universums vertrieben hat. Bei der alten Frage nach der "Stellung des Menschen im Kosmos" ging es freilich schon immer nicht nur um die gewissermaßen geografische Verortung, sondern auch um seine Position in der Hierarchie des Seienden. Auch was die angeht, hat sich in den letzten Jahrzehnten unser Blick auf uns deutlich verändert. Rovelli schreibt: "Die Information, die ein physisches System über ein anderes System aufnimmt, hat nichts Geistiges oder Subjektives, sie ist nur eine Verbindung, die die Physik zwischen zwei Zuständen herstellt. Ein Regentropfen enthält Informationen über die Farbe der Substanz, von der er herkommt, eine Uhr zeigt eine Information über die Tageszeit, der Wind bringt Information über ein aufziehendes Gewitter, ein Erkältungsvirus hat Informationen über die Anfälligkeit meiner Nase…"

Die Uhr steht völlig zu Recht in dieser Reihe. Jahrtausende lang hat die Menschheit von sich aufs Universum geschlossen. Den Topf hatte ein Töpfer gemacht und genau so musste alles auf der Welt auch einmal gemacht worden sein. Von einem Universaltöpfer. Da es immer dumme Kinder gab, die sagten: Okay, der Töpfer hat den Topf gemacht. Aber wer hat den Lehm gemacht und wer gar den Töpfer?, darum erfanden die Theologen die Creatio ex Nihilo. Es gibt einen, der ist von Anfang an da und der hat aus Nichts alles gemacht. Das ist kein Gedanke, sondern ein Denkverbot. Ein Stoppschild. Wer heute behauptet, der Urknall sei aus dem Nichts gekommen, der macht nichts anderes. Die ganze Arbeit der Wissenschaft bestand in den letzten Jahrzehnten im Wesentlichen darin, uns vom Schöpfer, vom Macher zu verabschieden. Jeder Fortschritt in der Erkenntnis bestand darin, Gegebenheiten ohne die Hypothese eines Urhebers erklären zu können.

Wir werden den Unterschied zwischen unserer Art von Erkenntnisproduktion und der eines Thermostaten nicht erklären können, wenn wir - gewissermaßen von Außen - etwas hinzutreten lassen, einen Geist in der Maschine etwa. Wir werden uns nur begreifen können, wenn wir den Weg vom Thermostat zu uns verfolgen. Was geschieht, wenn Milliarden Neuronen miteinander kommunizieren, wie es in jedem unserer Gehirne geschieht? Es wäre dumm zu übersehen, dass das eine deutlich komplexere Angelegenheit ist als ein Thermostat, aber es wäre ebenso dumm anzunehmen eine höhere Komplexität müsse überirdisch sein. Es wird eins zum andern kommen. Wie das geschieht, muss untersucht werden. Wie gelingt es einer Spezies oder Teilen von ihr, die Gehirne miteinander zu vernetzen? Auch das erzeugt neue Qualitäten, Anfälligkeiten auch. Aber nirgendwo eine Stelle, an der wir herauskämen aus der Natur.

Jetzt habe ich mich auf den letzten Seiten des Buches so verplaudert, dass keine Zeit mehr bleibt für die großartigen anderen Lektionen. Nur dieser kurze Hinweis auf eine Stelle in der vierten: "Elektronen, Quarks, Photonen und Gluonen sind die Bestandteile von allem, was sich im Raum rings um uns bewegt." Man nennt sie "Elementarteilchen". Eine nicht ganz korrekte Bezeichnung. Jedenfalls wäre es falsch, sie sich als Bausteine vorzustellen, aus denen sich alles - nicht nur um, sonderrn auch in uns - zusammensetzt. " Es sind die 'Quanten' entsprechender Elementarfelder, so wie die Photonen 'Quanten' des elektromagnetischen Felds sind… Was existiert, ist niemals etwas Stabiles, sondern nur ein Springen von einer Wechselwirkung zur nächsten." Ich zitiere diese Stelle nur, weil diese quantenphysikalische Einsicht mich erinnert an den Eindruck, den die fast blinde 92-jährige Autorin Ilse Helbich, nicht von der Mikrowelt der allerkleinsten Einheiten, sondern vom Leben und Sterben in der so viel größeren Menschenwelt hat: Es gibt keine Dinge mehr, sondern nur noch die Beziehungen zwischen ihnen.

Carlo Rovelli: Sieben kurze Lektionen über Physik, aus dem Italienischen übersetzt von Sigrid Vagt, Rowohlt Verlag, 96 Seiten, 10 Euro