Vom Nachttisch geräumt

Rückblick auf den Kampf der Systeme

15.11.2015. Wie macht man sich Gedanken, wenn man mit niemandem über sie sprechen kann? Auch Peter Stephan Jungks ergreifende Geschichte der Kommunistin und Fotografin Edith Tudor-Hart findet darauf keine Antwort.
Edith Tudor Hart (1908 - 1973), geborene Suschitzky, war eine in den 30er und 40er Jahren vielbeschäftigte Fotografin. Sie hatte das heimatliche Wien verlassen, um am Bauhaus in Dessau zu studieren. Vor allem aber - so sah sie es wohl fast ihr ganzes Leben lang - war sie Kommunistin. Sie wurde verfolgt. Ihr gelang die Emigration nach England, wo sie weiter observiert und verfolgt wurde. Ihre Aufnahmen aus den Elendsvierteln Wiens und Englands helfen einem die Augen zu öffnen, was man damals meinte, wenn man von Kapitalismus sprach. Ein paar Jahre lang konnte sie sich und ihren Sohn als Fotografin ernähren. Dann ging das nicht mehr. Der britische Geheimdienst legte ihr nach einer Reihe von Verhören nahe, mit der Fotografie aufzuhören. Wie das? Edith Tudor-Hart stand in dem Verdacht, für die Sowjetunion zu spionieren.

Beweisen konnte man das ihr nie. Aber man konnte ihr das Leben schwer machen. Wie wir heute, nachdem für einen kurzen historischen Moment einmal einige der sowjetischen Archive geöffnet waren, wissen, war der Verdacht des britischen Geheimdienstes sehr berechtigt. Edith Tudor-Hart war es gewesen, die Kim Philby, den Sohn aus reichem Hause, als er Mitglied der Kommunistischen Partei werden wollte, im Mai 1934 ihrem ehemaligen Liebhaber Arnold Deutsch, einem Agenten der Komintern, vorstellte. Deutsch überzeugte Philby auf einer Bank im Londoner Regent's Park davon, dass er der kommunistischen Sache, der Sache der Sowjetunion wesentlich nützlicher sei, wenn er seine soziale Herkunft, seinen Cambridge-Abschluss für eine Karriere nutzte. So könne er Informationen aus den innersten Zirkeln des Klassenfeindes den Genossen zugänglich machen. Der Plan ging auf: Philby wurde Leiter der für die Spionageabwehr zuständigen Abteilung des britischen Geheimdienstes. Was immer dort gewusst wurde, die Sowjetunion wusste es auch. Dank Philby und seiner Genossen. Philby war einer der berühmten Cambridge Five, jener Gruppe von Spionen, die während des Kalten Krieges die Sowjetunion über Pläne des britischen Geheimdienstes und der britischen Politik auf dem Laufenden hielten. Ein anderer - vielleicht nicht so wichtiger -, aber doch noch glamouröserer Informant war Anthony Blunt, ein Kunsthistoriker, der Zugang zur Queen hatte. Bei der Anwerbung all dieser Männer spielte Edith Tudor Hart eine wichtige Rolle.


Edith Tudor-Hart: Child Staring into Bakery Window, London 1936. Weitere Fotos: National Galleries Scottland

Peter Stephan Jungk, ein entfernter Verwandter hat jetzt keine Biografie über sie, aber doch "Geschichten eines Lebens" veröffentlicht. Es ist ein ergreifendes Buch. Aus sehr verschiedenen Gründen. Da ist zunächst das Leben der Edith Tudor-Hart selbst. Sie bleibt mit keinem Mann lange zusammen. Keiner bleibt es mit ihr. Sie hat einen geistig behinderten Sohn, den sie von Anna Freud und dem berühmtesten Kinderpsychologen jener Jahre, Donald Winnicott, behandeln lässt. Beide erklären ihr nach einer Weile, sie könnten Tommy nicht helfen. Der Sohn wird in Anstalten eingewiesen, aus denen die Mutter ihn immer wieder herausholt. Edith Tudor-Hart hat keine Aufträge, keine Jobs mehr, sie schlägt sich irgendwie durch. Sie muss ihren Sohn und ihre Mutter ernähren. Zum Beispiel als Haushälterin. Und immer wieder der englische Geheimdienst, der sie verhört. Und die Genossen, die sie fallen gelassen haben, zu denen sie keinen Kontakt mehr hat. Ihr Sohn versucht sie zu vergewaltigen. Ganz am Ende hat sie einen kleinen Trödelladen. Der Leser atmet auf.

Ergreifend ist das Buch auch, weil man immer weniger versteht, was Edith Tudor-Hart am Kommunismus festhalten ließ. Sie war Kommunistin geworden vor der Alleinherrschaft Stalins, sie war Agentin in der schlimmsten Zeit des Stalinismus. Sie war dabei, als mitteleuropäische Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg dem Machtbereich der Sowjetunion gewaltsam einverleibt wurden. Sie hatte erlebt, wie gute Freunde von ihr im Gulag verschwanden. Der Ungarnaufstand, Chrustschows Stalin-Kritik, der Einmarsch in Prag - nichts davon scheint sie erschüttert zu haben. Das Wort "scheint" ist hier wichtig. Denn trotz umfangreichster Recherchen, trotz einer bewundernswerten Ausdauer, einem scharfen Auge für die persönlichen und die politischen Probleme, Peter Stephan Jungk weiß uns nicht viel zu sagen über die politischen Anschauungen seiner Heldin. Geschweige denn über deren möglichen Wandel. Man bekommt aber eine Ahnung davon, wie eng die Falle war, in der Edith Tudor-Hart ihr Leben verbrachte. Jahrzehnte lang konnte sie mit niemandem frei sprechen. Nicht mit Freunden, nicht mit Feinden. Schon weil sie nicht wissen konnte, wer was ist. Wie macht man sich Gedanken, wenn man mit niemandem über sie sprechen kann? Ihr fotografischer Nachlass liegt in der National Gallery of Scotland, die auch 2012 das fotografische Werk der Edith Tudor-Hart in einer großen Retrospektive ausstellte. Das wäre doch was für den Martin Gropius-Baus.

Peter Stephan Jungk: Die Dunkelkammern der Edith Tudor-Hart, S.Fischer-Verlag, 320 Seiten, 16 s/w Fotografien von Edith Tudor-Hart, 22,99 Euro.