Vom Nachttisch geräumt

So ist der Leser

Von Arno Widmann
19.03.2018. Hat die Klugheit des zweiten Blicks: Heinz Budes "Adorno für Ruinenkinder - Eine Geschichte von 1968".
Es ist das klügste Buch zu 1968. Ich sage das nicht, weil ich alle Bücher über die Protestbewegung gelesen habe, ich sage es aus Begeisterung und aus Bewunderung für dieses Buch: "Adorno für Ruinenkinder - Eine Geschichte von 1968". Der Titel macht auch sofort deutlich, wovon dieses Buch nicht handelt. Das Verblüffendste an 68 - sein globaler Charakter - ist hier nirgends Thema, kommt kaum in den Blick. Das wäre ein unverzeihliches Manko, wenn es Heinz Bude darum gegangen wäre, das globale 68 zu erklären. Bude aber tut etwas ganz anderes in diesem Buch. Er sprach mit Peter Märtesheimer, Jahrgang 1937, Fernsehredakteur und Drehbuchautor für Rainer Werner Fassbinder, mit Adelheid Guttmann, geboren 1940, Fernsehredakteurin und Feministin, mit Klaus Bregenz, geboren 1940, Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung, Soziologieprofessor, mit der 1940 geborenen Theoretikerin des Feminismus Camilla Blisse und mit dem Gründer des Merve-Verlags Peter Gente (1938 - 2016). Mit ihnen hatte er schon für sein 1995 erschienenes Buch "Das Altern einer Generation" gesprochen.

Wieso ist es das klügste Buch über 68? Das Buch hat die Klugheit des zweiten Blicks. Auch die, auf die Bude schaut, denen Bude zuhört, sind inzwischen noch einmal gebrochen werden. 68 ist inzwischen nicht nur fünfzig statt dreißig Jahre her, sondern die Protagonisten sind Rentner und Rentnerinnen geworden. Das ändert die Sicht auf die Welt. Vor allem aber ist da Heinz Bude, der die Unterschiedlichkeit seiner Erzähler nutzt, um sich und uns die Augen zu öffnen für eine Vergangenheit, die auch die, die sie erlebten, inzwischen oft vergessen haben. Bude schreibt über 68: "Die Welt der Existenz, des Mitleidens am Nichts und der stummen Teilhabe wird ersetzt durch die Welt der Gesellschaft, des dialektischen Denkens und der endlosen Küchengespräche… Man kann diesen Sprung von der Existenz' zur 'Gesellschaft' nicht wichtig genug nehmen".


Der "weltabgewandt auf die Welt gerichtete Blick der Hanna Schygulla" erklärte Heinz Bude die Flakhelfer-Generation

Es ist der Sprung von Antonioni zu Godard. Wer diesen Sprung tat, für den war 68 existenziell. Wer diesen Sprung nicht getan hatte, wer direkt von der Schulbank in die Gesellschaftstheorie gesprungen war, der ging womöglich leichter in die Falle der Organisationsfrage als die, für die die Entdeckung der Gesellschaft eine Befreiung vom tief beschädigten Ich zu bieten schien. "Gesellschaft" war ja das Koordinatensystem, das einen definierte, aber es zu erkennen, weckte auch die Hoffnung, es einmal überwinden zu können. Die Geschwindigkeit, mit der im Laufe weniger Jahre die Koordinatensysteme, in die man sich eingespannt erfuhr - Klassengesellschaft, Patriarchat, Ökologie -, einander ablösten, war nicht nur das Ergebnis immer neu sich artikulierender, immer umfassender werdender Veränderungswünsche. Sie hing auch damit zusammen, dass der bis dahin herrschende Wertekanon brüchig geworden war.

Die Revolte verschob die Grenze an immer neue Enden. Bude beschreibt das weniger, als dass er es verständlich macht. Er hat ein großartiges Gespür für den Zusammenhang von Einsicht und Größenwahn. So schreibt er über die Veränderung der politischen Ausrichtung des Merve-Verlages: "Es wirkt natürlich einigermaßen übertrieben, wie hier Peter Gente die Trennung von seiner ersten Frau und die Bindung an eine neue und die damit einhergehende Veränderung der Geschäftsgrundlage des kleinen Verlags in Begriffen eines denkgeschichtlichen Weltereignisses deutet."

Man liest das als eine spöttische Sottise, weiß aber zugleich, was wahr an dem Gente'schen Selbstbetrug ist. Dann kommt der Satz, mit dem Bude den Spieß von Gente wegdreht und auf uns richtet: "Aber so ist der Leser." Also wir, die dieses Buch gerade in Händen halten: "Er findet für seine persönliche Situation Resonanz in den Schriften, die für ihn die Welt bedeuten." Den Spieß umdrehen, ihn auf sich selbst richten, das nennt man Reflexion.

Heinz Bude: Adorno für Ruinenkinder - Eine Geschichte von 1968, Hanser Verlag, München 2018, 127 Seiten, 17 Euro.
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