Vom Nachttisch geräumt

Der ordnende Blick

Von Arno Widmann
10.02.2020. In "Antlitz der Zeit" porträtierte der Fotograf August Sander den neuen, postrevolutionären Deutschen.
Als 1929 "Antlitz der Zeit" des Kölner Fotografen August Sander (1876-1964) das erste Mal erschien, steuerte Alfred Döblin einen Text bei, der sofort die sich aufdrängende Frage stellte: "Sind die Einzelpersonen wahr oder was ist wahr?" Der gebildete Autor erinnerte an den Nominalismus-Streit des Mittelalters, in dem es darum gegangen war, ob die Einzeldinge wahr seien oder nicht vielmehr die Begriffe. Er schreibt weiter: Er wolle sich in seiner Betrachtung "Von Gesichtern, Bildern und ihrer Wahrheit" über zwei "Abflachungen" unterhalten: "von der Abflachung der menschlichen Gesichter durch den Tod und von der Abflachung durch die Gesellschaft und ihre Klassen".

Die Frage drängt sich nicht angesichts der Fotos von August Sander auf, sondern angesichts ihrer Bildunterschriften: "Der Großindustrielle", "Der Arzt", "Der junge Kaufmann", "Schankkellner", "Bürgerliches, berufstätiges Ehepaar", "Geldbriefträger".

Sanders sechzig Aufnahmen sind ein soziologisches Bestiarium, ich habe das immer als eine Art Rassismus betrachtet: Der Mensch wird definiert durch seine Klasse. Döblin schreibt: "Wie es eine vergleichende Anatomie gibt, aus der man erst zu einer Auffassung der Natur und der Geschichte der Organe kommt, so hat dieser Photograph vergleichende Photographie getrieben und hat damit einen wissenschaftlichen Standpunkt oberhalb der Detailphotographie gewonnen. Es steht uns frei, allerhand aus seinen Bildern herauszulesen, die Bilder sind im Ganzen ein blendendes Material für die Kultur-, Klassen- und Wirtschaftsgeschichte der letzten dreißig Jahre."

August Sander, Arbeiterrat aus dem Ruhrgebiet, Antlitz der Zeit, 1929


Wer heute auf diese Aufnahmen blickt, merkt sofort, dass Döblin so nur schreiben konnte, weil er wusste, was er sah. Man sehe sich nur einmal das Foto "Arbeiterrat aus dem Ruhrgebiet" an. Sechs Männer. Sechs sehr unterschiedliche Männer: zwei mit Mützen, zwei mit Hüten, zwei ohne Kopfbedeckung, zwei mit Krawatten, einer mit Fliege. In den Arbeiterräten, wussten die Zeitgenossen, tummelten sich sehr unterschiedliche Menschen. Bei diesem Foto geht es darum. Dem einen jungen Kaufmann hätte man eine Reihe ganz anderer junger Kaufmänner an die Seite stellen können. Auch der Schankkellner kann nicht stehen für den Schankkellner. Den es nicht gibt und nicht gab. "Antlitz der Zeit" ist der Titel des Bandes.

Die Nazis verboten das Buch nicht nur. Sie vernichteten auch die Druckstöcke der im Münchner Verlag Kurt Wolff/Transmare erschienenen Erstausgabe. Die sechzig Aufnahmen von "Antlitz der Zeit" waren nur Teil eines - von Sander so genannten - "Typenwerks", eine Auswahl aus einem auf fünf- bis sechshundert Porträtaufnahmen geplanten Projekts "Menschen des 20. Jahrhunderts". Das war eines der bedeutendsten Vorhaben der Fotografiegeschichte. Es gibt keinen vergleichbaren Blick auf den neuen, den postrevolutionären Deutschen. Sander versuchte, das ganze Panorama zu zeigen. Dass er es (berufs-)ständisch gliederte, zeigt nur, dass er nicht nur in den Gesichtern, den Gewändern der von ihm Porträtierten das Ungleichzeitige im Gleichzeitigen zeigte, sondern selbst ein Ungleichzeitiger war. Sein Unternehmen erscheint so als ein Versuch, der Moderne, die ja nicht nur gleichzeitig, sondern oft in einem individualisiert und vermaßt, eine Überblick schaffende Ordnung entgegenzuhalten.

Sander sah seine Arbeit als eine Bestandsaufnahme des Ist-Zustandes, die zugleich den Beleg dafür liefert, dass man seiner mit den überkommenen Begriffen Herr werden kann. Er bestärkt uns in unserer irrigen Annahme, wir könnten uns auf unsere Augen verlassen. Er will uns glauben machen, man müsse nur richtig hinschauen, dann gäben die Menschen, dann gäbe die Welt sich zu erkennen. Diese Illusion war gerade zusammengebrochen. In Revolution und Inflation und sie würde wieder zusammenbrechen in der Weltwirtschaftskrise, in die hinein das "Antlitz der Zeit" erschien.

Die soeben bei Schirmer/Mosel erschienene, von Gabriele Conrath-Scholl und Claudia Schubert betreute Neuausgabe von "Antlitz der Zeit" enthält auch - wenn ich mich nicht verzählt habe - 70 Rezensionen der Erstausgabe. Axel Eggebrecht (1899-1991) schrieb am 14. März 1930 in der Literarischen Welt: "Sander sieht überall sofort die sozialen Zusammenhänge, ohne je Partei zu nehmen. Er hat ein sozialkritisches Auge, das schärfer blickt, als das irgendeines politischen Agitators. Dieser verzehrende, deutende, ordnende Blick gibt ihm die große, alles durchdringende Skepsis, die allen seinen Menschenbildern eignet." Ernst Otto Hesse (1891-1946), der Texter des Filmschlagers "Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da", schrieb unter dem Pseudonym Michael Gesell in der Vossischen Zeitung vom 19. Dezember 1929 eine Rezension des Buches, in der er die Position eines Studenten Ypsilanti Tschung Li aus dem Jahre 3333 einnahm, der beim Versuch sich Einblicke ins 20. Jahrhundert zu verschaffen, auf Sanders Buch stößt: "In der damaligen demokratischen Republik Deutschland herrschte die bürgerliche Schicht. Darüber muss man sich sehr verwundern. Denn die Fotos zeigen deutlich, dass diese Schicht keine Gesichter hatte. Die Bauern und die Arbeiter haben Gesichter und auch Körper, soweit sie es nicht für nötig hielten, die herrschende Klasse des Bürgers in Äußerlichkeiten, wie der Kleidung, zu imitieren." Kurt Tucholsky (1890-1935) schrieb am 25. März 1930 in der Weltbühne: "Es ist ein ganz herrliches Buch - schade, dass es nicht achtzehnfach so dick ist."

Hans Arthur Thies (1893-1954) veröffentlichte 1919 bei Kurt Wolff die Erzählung "Die Gnadenwahl". Ältere Antiquariatsgänger stießen wohl auch schon auf seine im zweiten Weltkrieg veröffentlichten U-Boot-Bücher. Er schrieb an einem unbekannten Ort zu einem unbekannten Zeitpunkt, aber durch einen Ausschnitt im August-Sander-Archiv belegt: "Hirte, Boxer, Geistlicher, Konditor, Schlossermeister, Putzfrau, Lehrer, Schankkellner oder Tenor - sie sind durch sichere Zeichen agnoszierbar, und ein großer Teil des Wohlgefallens, das sie ausströmen, entsteht aus der Unverkennbarkeit ihrer markanten Figur. Sie kommen unserm Instinkt, der sich auf der figurenreichen und raschbewegten Lebensszene zurechtfinden muss, auf eine freundliche Art von außen zu Hilfe… Wir rätseln nicht gern an einem herum; wir wissen lieber gleich, woran wir sind. Darum setzt die Gesellschaft diesem ein Käppchen, jenem ein Hütchen, diesem eine Mütze mit Kokarde, jenem einen Helm auf. Jeden Morgen aufs Neue heißt es: 'Schauspieler und Statisten sind angekleidet! Die Garderoben öffnen sich. Das Spiel kann beginnen!' Und dann hebt es wieder von neuem an, dies herrliche, bunte Spiel aller für alle; da drehen sich umeinander, die großen und die kleinen Rollen; und in dem allgemeinen Gesumm und Gebrumm, Hämmern und Werkeln steht jeder unverwechselbar an seinem Platz wie die Figuren auf dem Salzburger Großen Welttheater."

August Sander: Antlitz der Zeit, Schirmer/Mosel. Mit einem Essay von Alfred Döblin und Rezensionen von 1929 bis 1933. Ausgabe im Originalformat. Mit Texten von Gabriele Conrath-Scholl und Claudia Schubert. 200 Seiten, 69 Duotone-Tafeln. Format: 21 x 28,5 cm, gebunden, 39,80 Euro.
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