Vom Nachttisch geräumt

Labor für neue Gedanken

Von Arno Widmann
04.04.2018. Erzählen von einem Schreiben, das sich selbst erkennen möchte: Die Briefe Christa Wolfs
Die Briefe der Christa Wolf sind das Dokument einer Epoche. Und eines Epochenwechsels. Man sollte sie sorgfältig lesen. Stück für Stück. Alle 483. Nur so würde man ihnen gerecht, dem was sie sagen, und dem, was sie verschweigen. Ich habe das nicht getan. Ich bin davor zurückgeschreckt. Ich habe Christa Wolf bewundert bis hin zur Liebe. Ich habe manche ihrer Bücher mehrmals atemlos verschlungen, und vor manchen stand ich fassungslos. Sie, die im Persönlichen, im Intimen - jedenfalls ihrer Roman-Ichs - von einer rückhaltlosen Offenheit war, die ich sonst nirgends in der deutschen Literatur finde, konnte von einem gänzlichen Desinteresse an den Verwicklungen der eigenen Existenz sein, wenn sie sich in die Ecke gedrängt fühlte und glaubte, sie müsse sich verteidigen.

Sie sagte öfter, dass sie gerne einmal einen Krimi schreiben würde, dass sie das aber nicht könne. Es gibt Autoren, die können alles. Sie spielen virtuos auf allen Instrumenten. Christa Wolf gehörte nicht zu ihnen. Schon der Begriff "spielen" trifft ihr Schreiben nicht wirklich. Und eine Virtuosin war sie sicher nicht. Sie hätte nicht statt so auch anders schreiben können. Wo sie es versuchte, scheiterte sie. Wo sie nicht sich offenbaren konnte, da war sie nicht. Ich sage das in aller Ahnungslosigkeit. Ich habe ihren Schreibprozess nicht beobachtet. Ich weiß nicht, wie sie mit ihrem ersten Lektor, ihrem Ehemann Gerhard Wolf über ihre Texte sprach, wie sie seine Einwände berücksichtigte. Ich weiß ja nicht einmal, welche er hatte. Ja, ob er welche hatte. Milderte sie ab, was die Lektoren zu hart oder zu weich, zu empfindsam fanden oder hielt sie sich an Thomas Bayrle: "Wenn etwas zu lang ist - mach es länger." Wahrscheinlich mal so, mal so.

Wer "Leibhaftig" zu den besten Büchern zählt, die er jemals gelesen hat, der wird die Briefe immer wieder aus der Hand legen. Keiner von ihnen erreicht auch nur für den Bruchteil einer Sekunde die Intensität des Romans der 72jährigen. Das kann gar nicht anders sein. In "Leibhaftig" geht es ums Zerbrechen und wieder Zusammenflicken von Körper und Psyche, um den Wahn, in den man in solchen Situationen gerät. Das schafft kein Brief. Mitteilung und Offenbarung sind zwei sehr verschiedene Dinge. Nein, Christa Wolf war keine Mystikerin. Jedenfalls nicht so eine, wie man sie sich gemeinhin vorstellt. Sie war durchdrungen von der Sehnsucht nach Vernunft und Einsicht. Ich weiß von niemandem, der so intensiv die Wende dazu nutzte, sich und andere schlauer zu machen. Der Arbeitskreis, den sie schuf und in dem Jahre lang Lektüren diskutiert, Autoren eingeladen wurden, um mehr Klarheit zu gewinnen über die Welt, aus der man kam, und über die, in die man ging, war ein Expeditionskorps und ein Labor für neue Gedanken. So hungrig die Bürgerin Christa Wolf auf die Welt war, so aufmerksam konnte die Autorin sich selbst beobachten und ihre Aufzeichnungen darüber so formulieren, dass wir sie lesen konnten, als Protokolle von Experimenten, die in, mit und von unserer Welt veranstaltet wurden. Diese Welt war groß. Sie umspannte den ganzen Globus und das tut sie immer noch.


Christa Wolf auf der Abschlusskundgebung der Berliner Großdemonstration am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz. Foto: Hubert Link / CC-BY-SA 3.0 / Bundesarchiv, Bild 183-1989-1104-060 / Wikipedia

Die Briefe sprechen eine andere Sprache. Ich habe nur in ihnen geblättert. Ich werde sie also auch nicht richtig verstanden haben. Aber ich möchte doch auf wenigstens einen hinweisen, den ich sehr interessant finde. Es wäre eine schöne Aufgabe, einmal durchzuzählen, in wie viel Briefen Christa Wolf sich für jemanden eingesetzt hat. Für Wolf Biermann, für Jürgen Fuchs und Lutz Rathenow, aber auch für eine inzwischen pflegebedürftige alte Malerin. Wie oft bedankt sie sich?

Nein. Jetzt doch zu diesem Brief. Er stammt vom 5. Januar 1991 und seine Adressatin ist die 1937 geborene Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Lenk in Hannover. Christa Wolf schreibt: "Mir fehlt sehr das Gespräch über Probleme - nicht immer nur das Gerede über Vorgänge, Missstände, Katastrophen - das habe ich reichlich. Aber es gibt bei uns jetzt eigentlich niemanden, der imstande wäre, zu analysieren - weil niemand frei ist von 'Zorn und Eifer', auch frei von Schuldgefühlen und dem Bedürfnis, sich zu rechtfertigen." Das Engagement, das so nötig ist für die Einsicht in die Weltlage, steht ihr auch im Weg. Literatur, die zeigen darf, was ist, ohne dass ihr das gleich als Rechtfertigung dessen, was ist, ausgelegt wird, ist darum immer wieder der einzige Weg zur Erkenntnis. Nicht nur in Epochen, in denen die Machthaber massiv die Freiheit der Rede einschränken, sondern auch in solchen, in denen die Redefreiheit zwar immer wieder beschworen wird, zugleich aber gerade ihre Verteidiger sehr genaue Vorstellungen darüber haben, wie sie genutzt werden soll. Der Brief an Elisabeth Lenk wurde abgefasst, als Christa Wolf ihren Arbeitskreis hatte. Was sie sagt, hat auch mit den Erfahrungen dieses ihres Forschungsinstruments zu tun. Es sind auch Erfahrungen, die sie mit sich gemacht hat. Sie schreibt damals an "Leibhaftig", das damals noch "Irrgang" hieß.

Ich zitiere sie jetzt ausführlich, weil ich hier etwas zu erkennen glaube von der Wolfschen Art der Welterkenntnis mittels der literarischen Produktion: "Ich will schon gar nicht mehr 'über etwas Bestimmtes' schreiben - wie ich das verstehe! Denn auch mir geht es ja keineswegs so, wie Du annimmst: dass ich 'wenigstens' weiß, ich will einen 'Roman' schreiben: O nein. Auch mir geht es ja nicht um diese, wie immer gewandelte und sich wandelnde Form, mir geht es um ein Gewebe - das, was Du 'Gedankennetz' nennst; mir geht es darum, hervorzubringen, 'was ich noch nicht weiß'. Seit vielen Jahren 'arbeite' ich an einem Gebilde, das ich still bei mir immer 'Berlin-Roman' genannt habe: das hat unglaubliche Veränderungen erfahren, ich entsinne mich gar nicht mehr an alle, habe sie aber alle notiert. Und dazu Büchlein voll Notizen, Absichtserklärungen, Namen, Anfängen. 1989, im Sommer, fing ich ernstlich an, einen längeren Anfang zu schreiben (das ist bei mir immer so: Ich schreibe dann Seite für Seite mit der Hand, hinter meinem Rücken absichtlich etwas flüchtig, damit ich es als vorläufig nehmen kann, als gar nichts Endgültiges)."

Das Schreiben, das sich selbst erkennen möchte, muss sich wohl vor sich selbst verbergen. Es muss ein Erkenntnisvorgang sein, kein "schreiben". Da ist niemand, der weiß, was er sagen will und jetzt sich überlegt, wie er das möglichst geschickt macht. Das ist das Gegenteil von Virtuosität. Jenes Gegenteil, das die wirkliche Kunst ist. Es wäre wunderbar, einmal all diese Vorarbeiten, die Skizzen, die Änderungen im Großen und im Kleinen einmal in einer Kritischen Ausgabe von "Leibhaftig" zusammen sehen zu können. Ein Einblick in den Schaffensprozess in die wohl vielen, einander auch bekriegenden Schaffensprozesse in der einen Christa Wolf. Das wäre nicht nur eine psychische Momentaufnahme. Es wäre auch ein Blick auf die Zeit der Entstehung des Buches, ein ganz anderer Blick auf die Wende, die, viele im Westen beginnen das erst jetzt erst zu merken, eine Epochenwende war.

Christa Wolf schrieb immer noch im selben Brief an Elisabeth Lenk weiter: "Der Titel war schon seit längerer Zeit festgelegt: 'Irrgang', dies schien mir genau unseren Weg in diesem Land, in diesem System zu bezeichnen, ich wusste ja längst, dass alles fehl ging. Ich ging von meiner Erfahrung der Todesnähe aus, die ich im Sommer 88, mit meinen vielen Operationen und den immer wieder neu sich bildenden Eiterherden im Bauch gemacht habe... Damals war das Wissen um diesen Irrgang noch nicht allgemein, das ergab einen anderen Schreibhintergrund. Außerdem fällt es mir gerade jetzt schwerer, den Kolonisatoren und Rechthabern und Gerechten ihr gutes Gewissen und ihre Rechthaberei zu bestätigen. Dies ist, ich weiß es, natürlich ein zu kleiner Standpunkt, aber er ist schwer aufzugeben in einer Umgebung, in der du täglich mit den Demütigungen und Unzumutbarkeiten des Einigungsprozesses konfrontiert bist. Außerdem hat die Kampagne der Feuilletonisten im letzten Jahr mir den festen Vorsatz abgenötigt, mich nicht mehr in der Weise, wie ich es bis jetzt getan habe, in meinen Büchern auszuliefern. In diese Visagen hinein nicht."

Christa Wolf aber konnte nur schreiben, wenn sie sich auslieferte. Wie sie dann durch all diese Empörung und Wut hindurch doch den Mut, die Freiheit, die Größe fand, "Leibhaftig" zu schreiben und zu veröffentlichen, das ist eine der großen Epen der deutschen Literaturgeschichte. Es könnte einer der Ursprungsmythen des neuen Deutschland nach 1989 sein. Die Wiederauferstehung der  Christa Wolf.

Christa Wolf: Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten - Briefe 1952 - 2011, Suhrkamp, Berlin 2016, 1040 Seiten, 38 Euro.

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