Vom Nachttisch geräumt

Kirche, Partei und die Transportfrage

Von Arno Widmann
04.04.2018. Die Organisationsfrage stellt sich immer wieder: Karl Rahner über die sündige Kirche.
Der vorletzte Artikel dieser Aufsatzsammlung beginnt mit den Sätzen "Wenn wir uns eine allseitige, ausgebaute, nach jeder Richtung entwickelte Theorie der Kirche vorstellen, dann dürfte gewiss ein Thema nicht fehlen: die Kirche der Sünder, oder wie wir gleich auch sagen, um das ganze Gewicht der Frage und ihre Schwierigkeit deutlich zu machen: die sündige Kirche." Kenner der deutschen katholischen Theologie des 20. Jahrhunderts - ich gehöre nicht dazu - werden sofort den Autor erkannt haben: Karl Rahner (1904-1984). Dieser Wille zur Steigerung, zur Verschärfung der Fragestellung - daran erkennt man ihn. Der Titel des Aufsatzes lautet "Sündige Kirche nach den Dekreten des Zweiten Vatikanischen Konzils". Der theologisch schlecht ausgestattete Zeitgenosse wird sich die Augen reiben, weil er sich gar keine andere als eine sündige Kirche vorstellen kann. Das hat nicht nur mit all dem zu tun, was man ja seit Jahrtausenden und nicht erst seit den Enthüllungen der vergangenen Jahre kennt. Eine Kirche ist eine Organisation von Sündern - wie soll sie frei von Sünde sein?

Rahner stellt sich diese Frage, und er konstatiert, dass in der Kirchengeschichte, in der Geschichte des Nachdenkens über das, was Kirche sei, immer gar zu schnell auf die "Heiligkeit" ihrer Institutionen, auf die Segensgaben ihrer Märtyrer und Heiligen verwiesen wurde. Rahner erinnert daran, dass bei Augustin und einem Großteil der lateinischen Väter die realexistierende Kirche keineswegs als heilig betrachtet wurde. Heilig werde sie erst am Ende der Zeiten werden. Inzwischen aber werde die Kirche, so Rahner, "'hypostasiert', sie ist fast so etwas wie eine selbständig existente 'Größe', die dem Volk Gottes als Lehrerin und Leiterin gegenübersteht". Diese Haltung hatte Rahner schon 1947 kritisiert. Damals schrieb er. "Die Kirche ist eine sündige Kirche - das ist eine Glaubenswahrheit, nicht eine primitive Erfahrungstatsache".


Giotto di Bondone, Allegorie des Gehorsams, Fresko aus der Basilika San Francesco in Assisi, Italien. Bild: Wikimedia

In dem hier zitierten Beitrag aus dem Jahre 1964 kritisiert er das Kirchendekret des 2. Vatikanums, weil es die Frage nach der sündigen Kirche nicht mit einem klaren Ja beantwortet. Es wird vielmehr so getan, als sei die Kirche eine "heilige Heilsanstalt", die von Sündern aufgesucht werde. So kann dieses Dekret von der Kirche als der "indefectibiliter sancta" sprechen. Und damit so tun, als gebe es einen Bereich in ihr, der frei von Sünde sei. Ein verhängnisvoller Irrtum, meint Rahner: Die Kirche "wäre nicht das reale Volk Gottes, sondern eine rein ideologische Größe, die beinahe mythologischen Charakter hätte, würde man meinen, die Sündigkeit ihrer Glieder bestimme nicht auch sie selbst."

"Die Partei, die Partei, die hat immer recht", denkt der ältere Zeitgenosse. Er schlägt nach und stellt fest, dass als Rahner 1947 von der sündigen Kirche schrieb, Louis Fürnberg sein Lied der Partei noch gar nicht geschrieben hatte. Aber wir haben es mit erschreckend ähnlichen Problematiken zu tun. Die einzelnen Parteimitglieder sind fehlbare, also irrende Menschen. Die Partei aber irrt nicht. Sie weiß nicht nur, was ist. Sie weiß auch, was zu tun ist. So wie die Kirche nicht nur weiß, wie alles entstanden ist und wodurch es sich erhält, sondern auch weiß, was Gut und Böse, was zu tun und was zu unterlassen ist. Partei und Kirche sind beide Transportmittel, die nicht nur die realexistierende Welt, sondern auch den realexistierenden Menschen in eine neue Welt, in einen neuen Menschen verwandeln. Man tut dem Leninismus unrecht, wenn man ihn nur aus den Auseinandersetzungen einer nicht einmal einhundertjährigen sozialistischen Geschichte hervorgehen sieht. Er hat viel ältere Traditionen im Gepäck. Vielleicht ist es richtiger zu sagen, dass ähnliche Problemlagen ähnliche Auswege schaffen. Immer wieder. Die Organisationsfrage hat sich immer wieder gestellt. Und ohne Beamen lassen sich neue Welten nicht erreichen. Das Martyrium ist der angesehenste Beam-Mechanismus der frühen Kirche. Wir verstehen ihn besser, wenn wir die Bedeutung nicht verdrängen, die er heute im Islamismus hat.

Wir sind nicht daran gewöhnt, die Probleme anderer wahrzunehmen. Sie erscheinen uns oft auch da völlig fremd, wo sie uns beängstigend nahe sind. Man könnte auf die Idee kommen, dass wir uns schützen wollen vor der Einsicht, dass die verfeindeten Brüder einander viel ähnlicher sind, als sie beide sich oder gar uns eingestehen wollen. Da hilft die Rahner-Lektüre ein wenig.

Karl Rahner: Sämtliche Werke, Band 21, Erster Halbband: Das Zweite Vatikanum - Beiträge zum Konzil und seiner Interpretation, hrsg. Von Günther Wassilowsky, Herder Verlag, Freiburg, Basel, Wien 2013, 582 Seiten, 90 Euro