Vom Nachttisch geräumt

Schwimmen im Lichtmeer

Von Arno Widmann
22.01.2020. Ein Bildband über den Traum (und Albtraum) vom Fliegen im 19. Jahrhundert.
Das Museum für Kunst und Technik in Baden Baden zeigt noch bis zum 8. März 2020 die Ausstellung "Die Welt von oben. Der Traum vom Fliegen im 19. Jahrhundert." Ich war nicht dort. Ich habe nur den Katalog gelesen und mir die Bilder darin angeschaut. Der beginnt mit Goya. Also weniger mit dem Traum als mit dem Albtraum vom Fliegen. Die Wesen, die sich auf Träumer stürzen, wie die, die verängstigte Gesichter durch die Lüfte davontragen, schildern nicht nur Albträume, sie verschaffen dem Betrachter auch welche. Sie erzeugen Angst. Der Horrorfilm hat eine lange Geschichte.

Francisco de Goya, Modo de volar (Eine Art zu Fliegen oder Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg), Blatt 13 aus Los disparates (auch: Proverbios), 1815-1823, Morat-Institut für Kunst und Kunstwissenschaft Freiburg i. B.


Diese Bilder sind weltenweit entfernt von der Vorstellung der grenzenlosen Freiheit des Luftraums, von der spätere und frühere Bilder uns erzählen. Ein klitzeklein wenig davon gibt es bei Goya doch: Die Männer, die in großen Flügel stehen und mit kräftigen Armen womöglich durch die Luft gleiten können. "Eine Art zu Fliegen" betitelte Goya das Blatt aus dem Jahre 1815. Die Ballonfahrten waren damals schon so häufig, dass es womöglich an Überlegungen zu Alternativen nicht fehlte. Die goyasche Radierung lehnt sich ein wenig an Leonardos Überlegungen zu Flugmaschinen an, bei denen sich Menschen Fledermausflügel anschnallten. Leonardos Zeichnungen, darauf weist der Katalog hin, könnten Goya bekannt gewesen sein. Sie waren 1784 veröffentlicht worden.

Das letzte Bild des Katalogs ist ebenfalls Schwarz/Weiß: ein Standbild aus Stanley Kubricks Film "2001 - Odyssee im Weltraum". Dazwischen, neben Hans Thomas Wundervögeln, seinem kleinen, dicken Amor, der auf einem schwarzen Vogel sitzend zwischen Wolken und Erdboden melancholisch durch die Lüfte fliegt, dem fliegenden Dinosaurier, der in Max Klingers Serie den Handschuh entführt, den Ballonfahrern Daumiers, Arnold Böcklins Begeisterung fürs Fliegen - 1909 erschien ein 300-Seiten-Band mit dem Titel "Neben meiner Kunst. Flugstudien, Briefe und Persönliches von und über Arnold Böcklin" - bis zu Otto Lilienthal und den anderen Pionieren, die sich wirklich in die Luft erhoben.

Die Flugpionierin Melli Beese bei der Herbstflugwoche 1911 auf dem Flugplatz Johannisthal im Poulain-Eindecker, 1911, Fotografie, Stiftung Deutsches Technik-Museum Berlin


Die frühen Fliegerinnen haben ein eigenes Kapitel in dem Band. Es hat den Titel "'Im Übrigen sind die Erfahrungen, die wir mit den fliegenden Frauen bislang gemacht haben, die allerbesten.' Geschlechterverhältnisse und -konkurrenzen in der deutschen Luftfahrt der Zwischenkriegszeit". Evelyn Ziegenhagen erinnert daran, dass Frauen nicht berechtigt waren, Fluggäste zu transportieren und dass sie in der zivilen Luftfahrt nicht angestellt wurden. Sie durften zwar fliegen, aber Geld verdienen durften sie damit nicht. Für den Erwerb eines Sportflugscheins mussten Männer 1927 eintausend Mark zahlen. Frauen dagegen 3500 Mark. Begründung: Sie galten als Hochrisikogruppe.

Es ist ein schönes Beispiel, wie die Männergesellschaft eine jede ihrer Bastionen verteidigt. Die Weimarer Verfassung kennt keinen Paragraphen, der auch nur im entferntesten Ähnlichkeit hat mit dem Artikel 3 des Grundgesetzes, in dem es u.a. heißt: "Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin." Wir wissen, dass auch dieser doch unmissverständliche Artikel nichts daran änderte, dass jede bestehende Benachteiligung in langen Kämpfen einzeln behoben werden musste und immer noch muss.

Doch noch einmal kurz zurück zum Traum vom Fliegen. Von Böcklin, dem Maler der mythischen Tiere, gibt es in dem Katalog schön dokumentierte Konstruktionszeichnungen für Flugapparate. Dazu eine eindringliche Beschreibung der Art und Weise wie sich Böcklin mitten in anderer Arbeit und immer wieder von ihr unterbrochen, zum Beispiel die Stützkonstruktion eines Flugzeugschwanzes entwarf.

Georg Christoph Lichtenberg schrieb 1784 in seinen "vermischten Nachrichten über die aerostatischen Maschinen": "Man bedenke auch nur das Atmen der Alpenluft, das Baden, Plätschern und Schwimmen im Lichtmeer und in Gesellschaft der Morgensterne, während die Hälfte der Welt unter einem noch im Schlamm der Nacht ruht."

Die Welt von oben. Der Traum vom Fliegen im 19. Jahrhundert, hrsg. von Matthias Winzen, Athena Verlag, Oberhausen 2019, 384 Seiten mit mehr als 280 Abbildungen, 24 Euro.
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