Vom Nachttisch geräumt

In die schuldlose Luft

Von Arno Widmann
22.01.2020. Senkt sich mühelos in die Gehirne und andere Weichteile seiner Artgenossen: Der DichterWallace Stevens.
Max Webers Wendung von der Entzauberung der Welt wird gerne gebraucht, um die Moderne zu charakterisieren. Man denkt an Statistik und Diagramme und an Novalis: "Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren/ Sind Schlüssel aller Kreaturen/ Wenn die, so singen oder küssen,/ Mehr als die Tiefgelehrten wissen." Dann stoppt man und denkt an die Chronologie. Novalis' Gedicht stammt aus dem Jahre 1800. Max Weber erklärte in seinem 1917 gehaltenen und 1919 veröffentlichten Vortrag "Wissenschaft als Beruf": "Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: dass man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, dass es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, dass man vielmehr alle Dinge - im Prinzip - durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt. Nicht mehr, wie der Wilde, für den es solche Mächte gab, muss man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das. Dies vor allem bedeutet die Intellektualisierung als solche."

Schon das Programm der romantischen Dichtung und Philosophie, mit der die moderne Literatur einsetzt, richtete sich gegen die bereits um 1800 - man denke auch an Schillers "Die Götter Griechenlands" - beobachtete "Entzauberung der Welt". Die moderne Kunst und Literatur ist geradezu definiert durch ihren Willen, der modernen Technik etwas entgegenzustellen. Eine der Hauptschriften der Kunst das zwanzigsten Jahrhundert heißt "Das Geistige in der Kunst". Man könnte sagen, je stärker die "Entzauberung", desto größer das Verlangen nach Verzauberung. Auf die auch politische Ambivalenz dieser Bemühung ging Thomas Mann, den seine Kinder den Zauberer nannten, in seiner 1930 erschienenen Erzählung "Mario und der Zauberer" ein.

Auch vor der Moderne wurde die Welt nicht von magischen Praktiken beherrscht oder doch nicht mehr als das heute der Fall ist. Wallenstein wollte wissen, was die Sterne ihm sagen. Ich glaube nicht, dass heute in der Welt der Generäle und Politiker das Horoskop keine Rolle mehr spielt. Webers 1917 gefallene Bemerkung übersieht, dass der Kampf zwischen Vernunft und Magie immer und überall - auch in jedem Einzelnen - stattfindet. Das ist der Boden, auf dem die Menschheit sich bewegt, der aber auch sie und den sie bewegt.

15 Jahre nach Max Weber wurde dieser Boden radikal erweitert durch die Annahme einer dunklen Materie. Inzwischen gehen viele Wissenschaftler davon aus, dass unsere Zahlen und Figuren für nicht einmal fünf Prozent von allem, was der Fall ist, zuständig sind, während 95 Prozent dunkle Materie und dunkle Energie ausmachen. Das sind freilich auch Zahlen und Figuren. Die größte Verzauberung geht vielleicht gerade von ihnen aus. Der Urknall, das explodierende Weltall - das ist besser als die Geschichte von der Welt, die auf einer Schildkröte steht, die auf einer Schildkröte steht. Es hat keinen Sinn, die beiden gegeneinander auszuspielen, dafür spielen sie zu gerne miteinander. Diese Spiele sind noch nicht beschrieben.

Ich rede Unsinn. Nein, aber ich plappere vor mich hin, als wäre da niemand, der das lesen muss. Die Wahrheit ist: Da ist niemand, der das lesen muss. Vielleicht sollte ich aufhören damit, mir klarzuwerden über die Welt, in dem ich so tue, als erklärte ich sie irgendjemandem. "Das Denken ist beim Malen das Malen" meint Gerhard Richter. Aber ist das nicht mit allem so? Einfach, weil wir nichts tun können, ohne dass wir dabei denken. Beim Kochen ist das Denken das Kochen. Beim Schreiben ist das Denken das Schreiben. In der Schule erklärten uns die Lehrer, wir sollten uns erst überlegen, was wir sagen wollten und dann sprechen. Bis sie uns Kleists Aufsatz "Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden", entstanden 1805/1806, zu lesen gaben. Da verstanden wir, dass man nicht denkt, wenn man nur denkt. Gut, ich höre auf.

Ein Gedicht des amerikanischen Lyrikers Wallace Stevens (1879-1955). "Anekdote vom Pfauenprinzen", bei der man nicht weiß, wer der Pfauenprinz ist und für die eineinhalb Minuten, die es dauert, das Gedicht zu lesen, ist man verzaubert und weiß nicht warum und nicht in wen oder was.

Draußen im Mondlicht
Traf ich Berserker,
Draußen im Mondlicht
Im buschreichen Flachland.
Oh, er war scharf
Wie die Schlaflosen sind!

Und: 'Warum so rot
In dem milchigen Blau?'
Sag ich.
Warum von Sonne gefärbt,
Wie hellwach
Mitten im Schlaf?'

'Ihr, die ihr wandert',
Sagte er,
'Im buschreichen Flachland,
Vergesst so schnell.
Ich aber stell meine Fallen
Mitten im Traum.'

Und daher wusste ich,
Dass der blaue Boden
Übersät war mit Blöcken
Und Sperren aus Stahl.
Ich kannte das Grauen
Des buschreichen Flachlands,

Und auch die Schönheit
des Mondlichts, das
Dort herniedersank
Niedersank
Wie der Schlaf sinkt
In die schuldlose Luft.

(Übersetzung: Durs Grünbein)

Was ist das Grauen des buschreichen Flachlands? Ist es anders als das des buschlosen Flachlands? Das sind die falschen Fragen. Wozu die Wiederholungen? Auch das eine falsche Frage. Aber gibt es falsche Fragen? Nein, es gibt sie nicht. Diese helfen einem zu begreifen, dass Wallace Stevens und Durs Grünbein andere Register ziehen als wir in unseren Unterhaltungen, dass andere Nerven angesprochen werden. Wir lesen diesen Text wie eine Partitur. Erst der Leser bringt ihn zum Klingen. Aber der Autor hat ihn geschrieben. Stevens, im Geldberuf Vizepräsident einer großen Versicherung - also deutlich erfolgreicher als sein Kollege Franz Kafka -, fand Worte, mit denen er Jahrzehnte nach seinem Tod noch sich hineinsenkt in die Gehirne und andere Weichteile seiner Artgenossen. Das gelingt immer wieder und über Jahrtausende hinweg. Es gibt Forscher, die sehen darin die hervorragende Errungenschaft des homo sapiens.

Wallace Stevens: Hellwach, am Rande des Schlafs - Gedichte, hrsg. von Joachim Sartorius, Carl Hanser Verlag, München 2011, 352 Seiten, 24,90 Euro.
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