Vom Nachttisch geräumt

Trinke dich satt in deiner Vase

Von Arno Widmann
22.01.2020. Trakl, Heym, Benn - Rowohlt hat mit der Lyrikanthologie "Menschheits- dämmerung" von 1919 einen Klassiker wiederveröffentlicht.
"Die Menschheitdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung" erschien das erste Mal 1919. Herausgeber war der Lektor, Dramaturg und Journalist Kurt Pinthus (1886-1975). Er überlebte im Exil in den USA. Wie die meisten der nach dem Zweiten Weltkrieg Geborenen las ich diese Anthologie expressionistischer Texte das erste Mal Anfang der 60er Jahre im Rowohlt-Taschenbuch. Die neue prächtige Leinenausgabe kommt mir verkehrt vor: vornehm statt wild.

Mit "Weltende" von Jakob van Hoddis (1887- 1942) beginnt die "Menschheitsdämmerung". Danach gleich "Umbra Vitae" von Georg Heym (1887-1912). Das war damals in der BRD noch kein Schulstoff. Jedenfalls nicht für 14-jährige. "Dachdecker stürzen ab und gehen entzwei" - wie wir das liebten! Auswendig lernte ich Georg Heyms "Der Krieg":

Aufgestanden ist er welcher lange schlief.
Aufgestanden unten aus Gewölben tief.
In der Dämmrung steht er, groß und unbekannt,
Und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand
.

Zu den Schönheiten dieses Gedichtes gehört die kleine Jahreszahl 1911 über ihm. Sie erinnert daran, dass Heym den Krieg kommen sah. Wie viele. Nicht präziser als sie. Aber doch immerhin auch. Kannte er Goyas "Koloss"? Das Gemälde assoziierte ich damals mit Heyms Gedicht. Es soll, heißt es inzwischen, gar nicht von Goya, sondern von seinem Schüler Asensio Juliá sein.

Mein Held vor fast sechzig Jahren aber war Georg Trakl (1887-1914) So beginnt "Der Herbst des Einsamen":

Der dunkle Herbst kehrt ein voll Frucht und Fülle,
Vergilbter Glanz von schönen Sommertagen.
Ein reines Blau tritt aus verfallener Hülle;
Der Flug der Vögel tönt von alten Sagen.


Diesem Sang ergab ich mich damals und seitdem immer wieder völlig wehrlos. Keine Erinnerung behielt ich an den den Band mit vielen Gedichten bestückenden Theodor Däubler (1876-1934). Gottfried Benns (1886-1956)  "Kleine Aster" dagegen eroberte mich damals und gab mich nie wieder frei:

Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt.
Irgendeiner hatte ihm eine dunkelhellila Aster
zwischen die Zähne geklemmt.
Als ich von der Brust aus
unter der Haut
mit einem langen Messer
Zunge und Gaumen herausschnitt,
muss ich sie angestoßen haben, denn sie glitt
in das nebenliegende Gehirn.
Ich packte sie ihm in die Brusthöhle
zwischen die Holzwolle,
als man zunähte.
Trinke dich satt in deiner Vase!
Ruhe sanft,
kleine Aster!


Dass ich, dass meine Freunde damals beides lieben konnten und dazu noch Hugo von Hofmannsthals (1874 1929) "Der Tor und der Tod", das zeigt weniger die Offenheit als vielmehr das Liebes- und Schönheitsbedürfnis der Jugend. Das Verlangen nach einem Ausweg aus der Sprache, in der wir aufgewachsen waren, die uns auferlegt worden war, in der wir uns verständigen mussten. Hier lernten wir, dass es Menschen gegeben hatte, die ihre eigene Sprache, die einen eigenen Ausdruck gefunden hatten. Hier waren keine Regeln befolgt worden, hier wurden sie gebrochen.

Heute beim Lesen in der Anthologie fällt mir auf, wen ich alles nicht wahrnahm damals. Franz Werfel (1890-1945) nicht und Wilhelm Klemm (1881-1968) nicht. Johannes R. Becher (1891-1958) las ich. Ich erinnere mich an seine Ausrufezeichen. Viel zu viele, befand ich damals. Heute warte ich darauf, diese Gedichte einmal aufgeführt zu sehen auf einer Bühne. Rudolf Leonhards (1889-1953) "Prolog zu jeder kommenden Revolution" würde am Gorki für Furore sorgen. Ich fürchte, heute würde niemand mehr lachen, wie ich es damals tat, über die letzten, gewaltig orgelnden Zeilen:

Uns sang das Blut.
Wir strebten, ein Akkord.
Dein Mund, Dein Scheitel, - dass die Flamme aufwärts speit!
Wir stöhnten, wie die Menschheit in uns schreit,
jubelten: Menschheit! Liebe! Und das Donnerwort:
Gerechtigkeit!
"

Der Chef des Rowohlt-Verlages Florian Illies hat diesen Klassiker des Verlages neu herausgebracht. 1000 Dank. Ich hätte nicht wieder in dem alten Taschenbuch geblättert, und ich hätte nicht gemerkt, wie gut die Knöpfe, die damals das erste Mal berührt wurden, noch immer - oder wieder? - Empfindungen abrufen. Damals ging ich mit dem Taschenbuch hinaus ins Grüne, brüllte die Gedichte über die Felder, flüsterte sie, als wäre da ein Ohr, dem ich sie Wort für Wort einträufeln konnte. Diesmal las ich sie leise, körperlos. Hinter ihnen die Tastatur des Computers. Auch eine Geschichte des Verfalls.

Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung, hrsg. von Kurt Pinthus, Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2019, Abbildungen, mit einem Nachwort von Florian Illies, 423 Seiten, 34 Euro.