Vom Nachttisch geräumt

Heimarbeiter und Malerfürsten

Von Arno Widmann
23.10.2017. Welcher Künstler braucht welches Atelier für welche Kunst? Ein Blick in die Ateliers von Beuys, Kiefer, Bacon und anderen.
Im Verlag Schirmer/Mosel ist ein Bildband herausgekommen: Beuys Düsseldorf-Oberkassel. Drakeplatz 4. Ein Buch mit Aufnahmen von Eva Beuys, die sie auch erläutert über jene mit den Jahren immer größer werdende Wohnung, die sie zusammen mit Ehemann und zwei Kindern 1961 in Düsseldorf bezog, als Joseph Beuys (1921-1986) zum Professor für monumentale Bildhauerei an die Kunstakademie in Düsseldorf berufen worden war. Es ist eine Wohnung mit Atelier. Alles sehr klein. Beuys war ein Heimarbeiter. Kochen, Kunst, Essen, Kindererziehung, Gäste, Liebe und was immer man sich vorstellen mag - zum Beispiel auch die Auseinandersetzungen mit Kollegen, Schülern, Besuchern - spielte sich alles auf wenigen Quadratmetern ab. Die wahrscheinlich doch einflussreichste deutsche Kunstproduktion der sechziger und siebzigster Jahre fand hier statt.

Wie bescheiden Beuys lebte, auch als er es nicht mehr musste, macht ein Blick in einen anderen Schirmer/Mosel-Band deutlich: Anselm Kiefer Ateliers. Die Dokumentation beginnt mit zwei Fotos, die die Vermutung nahelegen, das Atelier des jungen Anselm Kiefer in Karlsruhe im Jahre 1969 sei nichts gewesen als ein Esstisch. Aber schon die nächsten Aufnahmen zeigen ihn 1971 - 1982 als Besitzer eines ehemaligen Schulgebäudes im Odenwald. Dann kommt eine Industriehalle, dazu gesellt sich eine ehemalige Ziegelei. Alle im Odenwald.



Wer schreibt mal ein Buch über die Ateliers im Odenwald? Dann noch einmal ein Sprung. Kiefer arbeitet in einer ehemaligen Seidenspinnerei und in Lagerhallen. "Ein Zimmer für sich allein" klagte Virginia Woolf ein. Anselm Kiefers Hallen sind nicht "Hallen für sich allein". Kiefer braucht sie, weil er gerade nicht "für sich allein" arbeitet. Man sieht das nicht. Denn Danièle Cohns großartiger Band zeigt die Ateliers nicht als Arbeitsorte, sondern als verlassene Industrielandschaften. Sie sehen aus wie von Kiefer gemacht.

Was einem den Gedanken aufdrängt, dass zwar schon viele Untersuchungen über die Rolle des Raums in der Malerei, in der Bildhauerei angestellt wurden, dass ich aber keine größere Abhandlung darüber kenne, welche Räume welche Künstler für welche Kunst brauchen. Wer Riesenleinwände füllen oder gar schwere Stahlplatten bewegen möchte, der kommt natürlich nicht aus mit einem Schreibtisch. Er braucht ja auch z.B. Kräne, um seine Produkte zu bewegen. Er braucht auch ganz andere Gerätschaften, um die von ihm verwendeten Materialien zu bearbeiten. Er wird viele Mitarbeiter haben. Künstler und Techniker. Aber es kann auch sein, dass ein Künstler der riesige "Skulpturen" schafft, gar nicht mehr selbst Hand anlegt. Er kann die Produktion outsourcen. Bei Kunststoff-Materialien ist das meistens der Fall.

Dann schrumpft das Atelier womöglich wieder. Aber Wohnung und Atelier sind nicht nur Orte, an denen man bestimmten Tätigkeiten nachgeht. Sie sind auch so etwas wie selbstgefertigte Spiegel. Wir schaffen Räume, in denen wir uns wohlfühlen oder uns gerade nicht wohlfühlen, weil wir nur so arbeiten können. Es sind Räume, die wir ausfüllen mit uns. Es sind Räume, in die wir uns zurückziehen, um ganz mit uns allein zu sein.

Sehen Sie sich das Atelier von Francis Bacon an! Da ist kein Millimeter mehr Platz für etwas, das nicht Francis Bacon ist. 1988 wurde Bacons Atelier in der Reece Mews Nr. 7, South Kensington, London, abgebaut, nach Dublin transportiert und in der Dublin City Gallery The Hugh Lane wieder aufgebaut. Wenn Sie nicht reisen wollen, gehen Sie ins Internet und geben Sie "Francis Bacon Atelier" ein. Nie wieder werden Sie zu Ihrem Kind sagen können "räum' Dein Zimmer auf!", ohne lachen zu müssen und daran zu denken, dass ein Künstler von dem Format eines Francis Bacon dieses Messy-Paradies brauchte, um arbeiten zu können.

Der schöne Band "Künstlerhäuser" zeigt Wohnhäuser und Ateliers von Künstlern von Mantegna bis Mondrian. Ein Buch, das Sie bedenkenlos Ihren Kindern zeigen können. Alles wunderbar aufgeräumte Häuser und Zimmer. Viele von ihnen sind heute Museen. Deren didaktischer Auftrag bringt einen - sagen wir mal - zögerlichen Umgang mit der Wahrheit des Wahnsinns der künstlerischen Produktion mit sich. Die Villa Stuck in München, Monets Haus, Atelier und Garten in Giverny, aber auch das winzige Zimmer, in dem van Gogh in Saint-Rémy arbeitete - wenn er es nicht draußen tat.

Die einen Künstler waren allein, andere standen Clans vor - Lukas Cranach zum Beispiel -, die nächsten waren in Kopf und Kunst revolutionär, lebten aber in einer Kleinfamilie. Magritte war ein ordentlich angezogener Bürger, dessen Hut zur Weltkunst wurde. Bodo Plachta schreibt über die Behausung eines der wichtigsten Künstler des 20. Jahrhunderts: "Seit Juli 1930 lebte und arbeitete René Magritte (1898 - 1967) in einer Drei-Zimmer-Wohnung mit Küche, Bad und Flur im Erdgeschoss eines unscheinbaren Reihenhauses in der Esseghemstraat 135 in Jette, einem Vorort im Norden Brüssels. Hier verbrachte der Maler die längste Zeit seines Lebens in demonstrativ bürgerlicher Schlichtheit, hier entstand über die Hälfte seines Werks, und hier befand sich das Hauptquartier des belgischen Surrealismus - Künstler, Literaten, Musiker -, die sich wöchentlich, meistens samstags oder am Sonntagabend, bei Magritte trafen, debattierten, Pläne schmiedeten oder subversive Aktionen ausheckten."

Ein Blick auf dieses Haus und man weiß, die wirklichen Revolutionen finden in den Köpfen statt. Der Einzelne mag es groß brauchen oder klein, er mag auf Gefährten angewiesen sein oder nicht, er mag ein Heim brauchen oder er mag es hassen - große Kunst kann in einer Fabrikhalle ebenso entstehen wie auf einem Küchentisch oder ganz im Freien.

Martin Heidegger erklärte 1951 am Ende seines Vortrages "Bauen Wohnen Denken": "Die eigentliche Not des Wohnens besteht nicht erst im Fehlen von Wohnungen. Die eigentliche Wohnungsnot ist auch älter als die Weltkriege und die Zerstörungen, älter auch denn das Ansteigen der Bevölkerungszahl auf der Erde und die Lage des Industrie-Arbeiters. Die eigentliche Not des Wohnens beruht darin, dass die Sterblichen das Wesen des Wohnens immer erst wieder suchen, dass sie das Wohnen erst lernen müssen."

Joseph Beuys hörte nie auf damit, es zu üben. Eine seiner berühmtesten Aktionen war "I like America and America likes me". Vom 21. bis zum 25. Mai 1974 lebte er in einem Raum der Galerie René Block in New York zusammen mit einem Kojoten. Bei Wikipedia wird das so beschrieben: "Die Aktion begann mit dem Abflug in Düsseldorf und endete mit der Ankunft in Düsseldorf. Am John F. Kennedy Airport angekommen, ließ sich Beuys komplett in Filz einwickeln, weil, wie er sagte, 'er nichts von Amerika sehen und von der Außenwelt isoliert sein wolle'. Anschließend wurde er von einem Ambulanzwagen in die Galerie gefahren, wo er in einem Raum der Galerie mehrere Tage mit einem Kojoten namens 'Little John' verbringen wollte. Bei der Aktion spielte Beuys mit dem Kojoten, ließ sich, verkleidet wie ein Schäfer mit Hirtenstock und Filzumhang, den Mantel von dem Tier herunterreißen und stapelte während der Aktion die Ausgaben der Tageszeitung Wall Street Journal. Das ausgelegte Stroh, vorgesehen für den Kojoten, wurde nicht angenommen. Das Tier machte es sich lieber auf den Zeitungen gemütlich, wobei es ab und an auf dieselben pinkelte. Für Beuys blieben nur noch das Stroh, die Filzbahnen, der besagte Hirtenstock und eine Triangel, die er hin und wieder betätigte. Der anfangs aggressiv-verängstigte Kojote gewann während der Aktion zunehmend an Vertrauen, so dass sich eine Beziehung zwischen Mensch und Tier aufbaute. Zum Abschied drückte Beuys den Präriewolf an sich und verstreute das Stroh, auf dem sich die beiden das Lager geteilt hatten, im Raum. Anschließend ließ sich der Künstler erneut in Filz einwickeln und wurde im Ambulanzwagen zum Flughafen zurückgebracht, ohne dass er auch nur einen einzigen Blick auf Amerika geworfen hatte - mit Ausnahme des Kojoten, der Ausgaben des Wall Street Journals und des Galerieraums. Beuys sagte später, dass er außer diesem Koyoten nichts habe sehen wollen, weil dieses von den Weißen verhasste Tier auch als ein Engel angesehen werden könne." Demonstratives Wohnen auch das. Im Internet kann man ein wenig davon sehen.

Beuys Düsseldorf-Oberkassel. Drakeplatz 4., Schirmer/Mosel, München 2016, Gespräch Friedolin Reske, Dieter Hülsmanns mit Joseph Beuys. Geschrieben von Joseph Beuys, Fotos und Texte zu ihnen von Eva Beuys, hrsg. und mit einem Vorwort von Lothar Schirmer. 63 Duotone-Tafeln, 144 Seiten, 28 x 36 cm. Hardcover mit Schutzumschlag, 49,80 Euro..

Joseph Beuys: Coyote, Vorwort Caroline Tisdall, Schirmer/Mosel, München 2008, 160 Seiten, s/w Abbildungen, 19,80 Euro.

Margarita Cappock: Francis Bacon - Spuren im Atelier des Künstlers, Knesebeck Verlag, München 2005, 239 Seiten, zahlreiche Abbildungen, gebundene Ausgabe, 79,80 Euro. (ZVAB)

Danièle Cohn: Anselm Kiefer - Ateliers, Schirmer/Mosel, München 2013, aus dem Französischen von Saskia Bontjes van Beek. 296 Seiten, 300 teils farbige Abbildungen. Format: 24,8 x 31 cm, Hardcover mit Schutzumschlag, 78 Euro.

Martin Heidegger: Bauen Wohnen Denken, Vortrag von 1951 (pdf).

Bodo Plachta: Künstlerhäuser - Ateliers und Lebensräume berühmter Maler und Bildhauer, Fotografien von Achim Bednarz, Reclam, Stuttgart 2014, 289 S., 200 Farbfotografien, Format 23 x 29 cm, gebunden mit Schutzumschlag, 39,95 Euro.