Vom Nachttisch geräumt

Das tägliche Brot

Von Arno Widmann
16.07.2019. Rahel Levin Varnhagen zeigt sich in ihren Tagebüchern als begeisterte Anhängerin des Saint-Simonismus.
Gleich auf Seite 15 eine Beobachtung, die ich noch in keinem Lehrbuch der Soziologie fand: "In Gesellschaft muss keine Rangordnung sein… Die Auseinandersetzung des Worts Gesellschaft sollte uns schon darauf aufmerksam machen: Es ist eine Gesellschaft zur Freude oder dergleichen; kein Meister ist darunter, lauter sich gleiche Gesellen; und da steht es Niemanden an, Meister zu sein." So Rahel Levin Varnhagen (1771- 1833) in ihren von Ursula Isselstein herausgegebenen Tagebüchern.

Der Eintrag ist nicht datiert, soll aber wohl zu den frühen von 1795 zählen. Die letzten Worte des Tagebuchs lauten: "Böses altes Kind". Da war sie nicht einmal 43 Jahre alt. Der Band hat über 1000 Seiten. Die Tagebücher selbst füllen nur gerade mal 500 Seiten. Die Anmerkungen füllen dreihundert Seiten, dann gibt es noch Notizen, Exzerpte, Vorlesungsmitschriften. U.a. auch ein Gespräch zwischen Rahel Varnhagen und Friedrich von Gentz, dem intellektuellen Oberhaupt der europäischen Reaktion nach 1815, dem Berater des Fürsten Metternich. Es geht darin unter anderem über die "Briefe über Lucinde", die als sehr frivol galten und Gentz ist ungehalten nicht nur darüber, dass Rahel sie gelesen hat. Er will auch wissen, wie sie sich verschafft habe.

Der Leser befindet sich mit dieser Edition noch in der Vor-Duden-Epoche. Die Orthografie ist noch nicht festgelegt. Die Schreiber sehen auch keinen Grund, selbst an einer Schreibweise festzuhalten. Auch die Eigennamen waren nicht festgelegt. So schreibt Rahel Varnhagen Genz statt Gentz. Aber womöglich schrieb sich auch Gentz manchmal Genz. So wie Goethe sich nicht genierte, auch mal als Göthe zu unterschreiben. Für so viel Freiheit muss der heutige Leser sich erst einmal fit machen.

Das Nachwort der Herausgeberin stellt die Tagebücher in Rahel Varnhagens Lebensgeschichte. Es ging in ihren Salons nicht nur um die Entwicklung schöner Seelen, die kritische Philosophie spielte eine wichtige Rolle und "in ihren letzten Lebensjahren empfiehlt sie Freunden die frühsozialistische Zeitschrift Le Globe der Saint-Simonisten, 'le pain quotidien, welches man haben muss', das 'erschütternd, auch zerreißend, auch beglückend auf mich wirkt: es trifft einen ganz lebendigen, geordneten Vorrat in mir an.' Gegenüber Heinrich Heine nennt sie den Saint-Simonismus 'das neue, groß erfundene Instrument, welches die große alte Wunde, die Geschichte der Menschen auf der Erde, endlich berührt.'"

In diesem langen Zitat könnte der Name der saint-simonistischen Zeitschrift Le Globe leicht überlesen werden. Sie war bereits 1824 gegründet worden. Goethe hatte sie abonniert. Ab 1830 war sie das Zentralorgan der Saint-Simonisten. 1832 wurde sie geschlossen. Heute leben wir in der Globalisierung. Es gibt zwar Tausende Zeitungen auf der Welt, die einen Städte- oder Landesnamen oder gar das Wort national in ihrem Titel tragen, aber ich kenne keine Zeitung, die Le Globe heißt, auch keinen Globus. Dafür gibt es Le Monde oder Die Welt. Das ist zwar eher sogar mehr, aber man hat nicht die Weltkugel vor Augen. Es fehlt also die Anschauung des Ganzen.

Zurück zu Rahel Varnhagen. Es gibt immer wieder begeisterte Loblieder auf Goethe und immer wieder denkt sie nach über Religion, über den Glauben an ein Höchstes, ein Absolutes. Von selbst käme der Mensch nicht drauf, meint sie, er käme nicht einmal auf "Sittlichkeit". "Könnte ein persönliches Wesen je darauf kommen, dass es seine Persönlichkeit aufgeben, und die eines Andern höher stellen sollte als seine eigene?" Es muss uns von einer anderen, einer höheren Instanz etwas gegeben worden sein, das unserer Selbstliebe entgegentritt. Das egoistische Gen ist Rahels Gottesbeweis.

Rahel Levin Varnhagen: Tagebücher und Aufzeichnungen, hrsg. von Ursula Isselstein, Wallstein Verlag, Göttingen 2019, 1064 Seiten, 98 Euro.
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