Vom Nachttisch geräumt

Vorverdaut und abgepackt

Von Arno Widmann
24.04.2017. "1 Kilo Kultur" präsentiert viel Fleißarbeit von Florence Braunstein und Jean-Francois Pépin zum Wissen der Welt.
"1 Kilo Kultur" heißt das Buch. Das ist gelogen. Die Waage des Buchhändlers meines Vertrauens zeigte 1573 Gramm. Man bekommt also mehr für sein Geld als die Verpackung verspricht. Das kann man selten sagen. Der Untertitel lautet "Das wichtigste Wissen von der Steinzeit bis heute". Wieder gelogen. Das früheste, das in diesem Band zur Sprache kommt, ist der Urknall. Also wieder mehr als die Verpackung verspricht? Vielleicht. Vor allem aber etwas ganz anderes. Das Buch sammelt nämlich nicht das Wissen der Steinzeit, das Wissen der Griechen und Römer, des Mittelalters usw. Sondern es stellt zusammen, was die Autoren für das wichtigste Wissen halten, das wir heute von den damaligen Zeiten haben. Wer den Hinweis auf diesen Unterschied für kleinliche Beckmesserei hält, weil man ja schon wisse, was gemeint sei, dem wird womöglich auch der Rest des Buches gefallen.

Es sind 1296 Dünndruckseiten Weltgeschichte. Also das, was man sich wünscht: Alles einmal durch einen Kopf und präsentiert von einem, dem ein solcher Parforceritt Vergnügen macht. Leider stimmt das nicht. Florence Braunstein gab, so der Klappentext, 25 Jahre Studium-Generale-Kurse an großen Pariser Universitäten. Wir haben es also nicht mit der Frucht einer Liebesbeziehung, sondern mit dem Ergebnis eines langen Berufslebens zu tun. Schade. Ko-Autor ist Jean-Francois Pépin. Das ist nicht das erste Großprojekt, das die beiden in die Welt gesetzt haben. Ihre Weltgeschichte für die Kinder des Jahres 2000 verkaufte sich, so der Klappentext der deutschen Ausgabe von "1 Kilo Kultur", 200 000 Mal. Man wünscht den Autoren und den Verlagen für so viel Arbeit ähnliche Erfolge.

Bis man beginnt das Buch zu lesen. An keiner Stelle spürt man einen zupackenden Intellekt, nirgends beginnt ein Herz enthusiastisch zu schlagen, weil es etwas Neues erfährt. Es sind 1200 Seiten - die französische Ausgabe soll 1700 Seiten haben - Referat. Hübsch abgepacktes, vorverdautes Wissen. Eine Zeitreise in eine Prä-Humboldtsche Wissenschaftswelt. Man wird nicht an der Entstehung von Wissen beteiligt, sondern man bekommt es tot, eingelegt in das Formaldehyd einer von allen Kontroversen gereinigten Prosa. Nehmen Sie den Abschnitt über William Shakespeare: "Man unterscheidet gewöhnlich mehrere Perioden des umfangreichen Schaffens von William Shakespeare (1564-1616): Die wichtigsten Jugendwerke (1588-1593) sind Verlorene Liebesmüh; Zwei Herren aus Verona; Heinrich IV.  Die reifen Stücke sind durch Beschwingtheit, Glanz, Liebe und Patriotismus bestimmt: Der Kaufmann von Venedig; Richard III.; Romeo und Julia; Viel Lärm und Nichts. In der Zeit von 1601 bis 1608 dominieren der Pessimismus und ungestüme Leidenschaften. Ein Teil der in dieser Phase entstandenen Stücke orientiert sich an der Antike, z.B. Julius Cäsar; Coriolanus; Antonius und Kleopatra. Es ist auch die Zeit der großen Meisterwerke: Hamlet, der nicht den Mut hat, sich der Aufgabe zu stellen, die ihn verzehrt; Othello, eine Studie über die Eifersucht; Macbeth; König Lear. In der letzten Periode, eine Zeit des Alters und der Abgeklärtheit (1608-1613) haben die Stücke nun einen gämzlich anderen Tonfall, sind durchdrungen von Sanftheit und Menschlichkeit: Der Sturm verquickt voller Optimismus Phantasie und Philosophie."

Wem dergleichen gefällt, der wird seinen Spaß an dem Buch haben. Wen diese hilflose Aneinanderreihung nichtssagender Epitheta an die schrecklichsten Momente seiner Schulzeit erinnert, den wird das Buch anwidern. Mit Kultur hat dergleichen nichts zu tun. Hier werden Curricula zurückgelegt. Hier wird abgeheftet und hinter sich gebracht. Dass dabei im Shakespeare-Abschnitt dessen Sonette verloren gehen, erfreut deren Liebhaber. Auch die so verhackstückt zu sehen, hätte sie zu sehr geschmerzt.

Wissenschaft und Technik spielen hier keine Rolle. Sie gehören offensichtlich nicht zur Kultur. Wahrscheinlich, weil sich über sie nicht so glatt hinwegreden lässt. Die "Originalausgabe wurde für die deutsche Ausgabe gekürzt und bearbeitet", wird uns mitgeteilt. So erklären sich zwar nicht die 500 fehlenden Seiten, aber sie werden wenigstens nicht verschwiegen. Der Bearbeitung haben wir wahrscheinlich den den Rahmen sprengenden Umfang der Darstellung von deutscher Literatur, Film und Musik des 20. Jahrhunderts zu verdanken. Das Buch erstickt seine möglichen Gegenstände im Namedropping. Wie Schüler, die im Examen zeigen wollen, was sie alles gelernt haben, zählen die Autoren seitenweise Menschen auf, zu denen sie nichts zu sagen haben. Und schon gar nichts Eigenes. Ich behaupte: Jeder Wikipedia-Eintrag ist intelligenter als diese hilflose Kompilation.

Mir ist schleierhaft, was den C.H. Beck-Verlag, der in jedem Frühjahr, in jedem Herbst großartige Bücher herausbringt, geritten hat, dieses Dokument einer völlig sterilen Wissensverbreitung übersetzen zu lassen. Ich hoffe, er hat das nicht auf eigene Kosten getan.

Braunstein, Florence / Pépin, Jean-François:  1 Kilo Kultur - Das wichtigste Wissen von der Steinzeit bis heute, C.H. Beck Verlag,  München 2017, unter Mitarbeit von Alexander Kluy für die deutsche Ausgabe, aus dem Französischen von Nikolaus de Palézieux, 1296 Seiten, 28,00 Euro.