9punkt - Die Debattenrundschau
Die Substanz von Demokratie und Rechtsstaat
Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Politik
"Wie sehen meine Tage aus? Meine letzten hundert Tage? Wie die Hölle. Jeder einzelne davon", schreibt Alon Nimrodi, Vater des Soldaten Tamir, 18, der am 7. Oktober als Geisel genommen war, in der Jüdischen Allgemeinen: "Ich weiß, dass drei gute Freunde, mit denen er sich auf der Militärbasis die Stube geteilt hat, vor seinen Augen erschossen wurden. Und dann wurde er zusammen mit zwei anderen, Ron Sherman und Nik Beizer, verschleppt. Vor etwa einem Monat hat die Armee in einem Hamas-Tunnel die Leichen von Ron und Nik gefunden. ... Verzeihen Sie, aber ich weine einfach, ich wehre mich nicht mehr dagegen. Ich weine den ganzen Tag. Wenn ich weine, dann weine ich ... Ron und Nik sind erstickt. Die Terroristen haben sie getötet, indem sie einfach die Lüftung abgestellt haben."
Trumps Sieg bei der Vorwahl in Iowa ist für den Wahlausgang nicht besonders relevant, meint Stefan Kornelius in der SZ, offenbart aber "viel über den Zustand der Republikaner und des ganzen Landes": "Trump hat es vermocht, sein Bild von Amerika in die Köpfe zu pflanzen. Zu sehen ist ein Land in wirtschaftlicher Not, am weltpolitischen Gängelband und unter höchstem Migrationsdruck. Zu sehen sind der Niedergang eines guten alten Amerika und der Aufstieg einer progressiv-liberalen Gutmenschenclique, die Werte verhökert und Arbeiter verhöhnt. Zu sehen sind zwei Amerikas, aufgeladen und hochaggressiv, die sich am Ende dieses Wahljahres wohl gar zwischen Bürgerkrieg und Emigration entscheiden müssen. ... Das dystopische Bild einer untergehenden Gesellschaft beherrscht die Köpfe gerade der Trump-Wähler, die sich nichts weniger ersehnen als eine Erlösung. Diese apokalyptische Schwingung wird im Laufe des Jahres zunehmen, sie wird bei den Trump-Gegnern zu gewaltiger Mobilisierung führen, und sie wird das Land in eine große Krise stürzen. Am Ende werden die USA nicht vor die Frage gestellt, ob sie Joe Biden für zu alt und seine Wirtschaftspolitik für zu einseitig halten. Sie werden nur eine Frage beantworten müssen: Wollt ihr diesen Trump?"
Gesellschaft
Die Bauernproteste der letzten Tage haben gezeigt, wie zäh sich romantisierende Bilder von der Landwirtschaft halten, schreibt Michael Miersch bei den Ruhrbaronen. Und die Politik macht mit, will unbedingt die Familienbetriebe retten. Aber die Romantisierung ist falsch. "Beispiel Tierwohl: In Museumsdörfern kann man sich ansehen, wie Tiere früher gehalten wurden. Milchkühe standen oftmals lebenslang angekettet in dunklen Ställen. Die Schweinekoben waren zuweilen kaum größer als das Schwein selbst. Die Vorstellung vom romantischen Bauernhof, der einem Streichelzoo ähnelt, stammt aus Kinderbüchern, nicht aus der Realität vergangener Tage. Die schlechte Behandlung von Tieren begann nicht mit der Industrialisierung und Rationalisierung des Agrarsektors. Daher sollte man die Verbesserung des Tierwohls nach vorne denken und nicht rückwärts."
Statt eines AfD-Parteiverbots schlägt Volkan Agdar in der taz einen "Masterplan Antifaschismus" vor, um alle anzuprangern, die seiner Meinung nach eine "faschistische Wahl" treffen: "Auf diese Menschen muss ab sofort und im Sinne der unantastbaren Würde aller Menschen ein hoher Anpassungsdruck ausgeübt werden. Maßgeschneiderte Gesetze gegen Nazis wären eine Möglichkeit dafür. Viel effektiver erscheint es jedoch, diese Menschen in allen gesellschaftlichen Bereichen unter Druck zu setzen, sie im Alltag in der Schule, im Verein, am Arbeitsplatz, auf der Straße und in der Kneipe als Nazi oder Naziunterstützer:innen zu outen und auszugrenzen. Damit es möglichst unattraktiv für dieses Klientel ist, in Deutschland zu leben. Wer faschistische Ideen unterstützt, soll geächtet werden und sich dafür schämen müssen. Denn niemand wird als Nazi geboren. Und es gibt kein Recht auf Nazipropaganda." Würde das auch für sich selbst als Linke Lesende gelten, die die Hamas unterstützen?
"Bilde ich mir das nur ein, oder stehen in letzter Zeit alle auf der Verliererseite", fragt der israelische Schriftsteller Etgar Keret in der SZ. Alle haben starke Meinungen und sind überzeugt, das Richtige zu tun, beobachtet er, aber alle verlieren: "Nicht nur ich und du - alle anderen auch. Sogar die unaufgeklärten Idioten, die du nicht ausstehen kannst. Ja, selbst die, denen es irgendwie gelang, Wahlen zu gewinnen, die wir hätten gewinnen müssen, was wir nicht verstanden, und die dann umgekehrt nicht verstehen konnten, wie wir danach ihnen den Wahlsieg wegschnappten. Wo man auch hinblickt: Republikaner, Demokraten, in Gaza bombardierte israelische Geiseln, in Gaza bombardierte palästinensische Zivilisten, Evakuierte, Flüchtlinge - ist irgendjemand auf dieser Welt zufrieden damit, wie die Dinge gerade laufen? Wladimir Putin, Benjamin Netanjahu, António Guterres, Wolodimir Selenskij, Jahia Sinwar von der Hamas: Sieht ein Einziger von ihnen zufrieden aus?
Ideen
Medien
Überwachung
Europa
Für den Historiker Ulrich Herbert muss man die AfD hingegen ganz klar als "rechtsextrem" und demokratiegefährdend einstufen, wie er im SZ-Interview mit Peter Laudenbach sagt. Der zukünftige Umgang mit der Partei ist in jedem Fall eine Herausforderung: "Die demokratischen Parteien sind in einer schwierigen Situation. Es gibt drei Möglichkeiten: Entweder man grenzt sich klar ab und die AfD klar aus, wie bisher. Das zeigt bis jetzt wenig Wirkung und ermöglicht es der AfD, sich als einzige wahre Opposition zu inszenieren. Oder man geht auf sie zu, bis hin zu Koalitionen oder Tolerierungsbündnissen; so wie es in einigen europäischen Staaten schon geschieht. Das geht an die Substanz von Demokratie und Rechtsstaat. Das konnte man in Polen sehen, das kann man in Ungarn sehen, man wird es auch in Italien erleben. Oder man verbietet die AfD und ihre Nebenorganisationen und geht gegen sie vor, in aller repressiven Konsequenz. Das könnte vermutlich nur eine konservative Regierung durchsetzen. Es würde zu einer enormen Polarisierung im Lande führen. Ich bin mir nicht sicher, welche der drei Optionen man sich wünschen sollte."