Außer Atem: Das Berlinale Blog

Aufzeichnungen über Grenzen und Säume

Von Thierry Chervel
05.02.2015. Wim Wenders ist ein mutiger Regisseur. Was nervt an ihm, ist auch gut. Er nimmt sich Zeit und Raum. Die Berlinale-Hommage bietet Gelegenheit, einige seiner wichtigsten Filme in neuen Kopien wiederzusehen.
Reminiszenz



"Im Lauf der Zeit" habe ich damals gesehen. 1976 war das Jahr, in dem ich Abitur machte. Er lief in der Lupe in Braunschweig, nur ältere Leute wissen noch, wo das war. Ich glaube, ich habe den Film dann als Student nochmal gesehen, seitdem nie wieder, bis zu diesem Artikel zur Wenders-Hommage bei der Berlinale. Damals ging man noch zur Bundeswehr. Im Sommer - dem heißesten seit Menschengedenken - musste ich die Schlaghose ablegen und mir die Haare abschneiden lassen und marschierte mir in der Grundausbildung einen Wolf.

Der Film war erst ab 18 zugelassen, obwohl er eigentlich völlig harmlos ist. Ich weiß auch, warum. Wegen zwei Einstellungen, die mir bis heute in Erinnerung blieben. Sie haben mich schockiert! In der einen Einstellung geht Rüdiger Vogler zum Straßenrand. Auf einem weitläufig einzusehenden, aber menschenleeren Gelände knöpft er sich die Latzhose auf (ein Requisit damaliger Zeit!), legt den Hintern frei und begibt sich in die Hocke. Man sieht ihn seitlich, wie er in aller Seelenruhe eine beachtliche Wurst in den Sand setzt und sich dann abwischt. An Tempo-Taschentücher hatte er zum Glück gedacht.

In der zweiten Szene geht Rüdiger Vogler, der den Kinomechaniker Bruno Winter spielt, in den Vorführraum eines Provinzkinos. Ein Porno wird projiziert, aber das Bild ist in der Mitte recht dunkel. Bruno will wissen, warum. Es stellt sich heraus, dass der Vorführer mit einem kleinen Spiegel das Bild ableitet, um sich einen runterzuholen. Und das tut er tatsächlich. Bruno amüsiert sich.

Es gibt noch einen dritten Moment, der mir neben den langen Fahrten und dem langen Schweigen in den Zonenrandgebieten in Erinnerung blieb. Bruno erklärt einem unbedarften Vorführer das Malteserkreuz, die Vorrichtung im Projektor, die das Bild 24mal in der Sekunde stoppt. Da begriff ich zum ersten Mal, dass die Bilder erst stehen lernen mussten, um laufen zu lernen.

Frauen



Der größte Nachteil an Wenders-Filmen ist, dass er nichts mit Frauen anfangen kann. Sie wirken statuarisch, peinlich deplatziert. Zwei Frauen, in die er verliebt war, hat er spielen lassen. Lisa Kreuzer mit ihrem schön ermüdeten Mädchengesicht spielt in seinen frühen Filmen. Alles was sie sagt, wirkt aufgesagt. In "Alice in den Städten" ist sie dennoch überzeugend. Sie wirkt so hundertprozentig aus der damaligen Zeit geschnitten! Bedrückend ist die Geschichte von Solveig Dommartin. Sie hat wirklich alles, was sie konnte, in den "Himmel über Berlin" hineingesteckt, monatelang am Seil trainiert, um die Trapezkünstlerin spielen zu können. Und sie macht es erstaunlich gut. Aber wirklich spielen konnte sie nicht, auch sie wirkt statuarisch. Wie soll sie auch anders bei dem Kunstquark, den Peter Handke da für Wenders angerührt hat. Nur ausgebuffte Theaterprofis wie Bruno Ganz finden ohne Machete da durch. Claude Chabrol hat einmal gesagt: Wenn Schauspieler gut spielen, dann ist es ihre Kunst. Wenn sie schlecht spielen, ist es das Versagen des Regisseurs.

"Bis ans Ende der Welt" war das große Projekt, das Dommartin und Wenders gemeinsam nach dem Erfolg von "Himmel über Berlin" verwirklichten, künstlerisch und kommerziell ein Flop, wie so viele teure Filme von Autorenfilmern, die nach einem Erfolg ein bisschen Geld hatten. Später hat Dommartin kaum noch Rollen bekommen. 2007 starb sie, noch nicht fünfzigjährig, an einem Herzinfarkt.

Langsamkeit



Wim Wenders ist ein mutiger Regisseur. Was nervt an ihm, ist auch gut. Er nimmt sich Zeit und Raum. Am mutigsten ist vielleicht seine Peepshow-Szene mit Nastassja Kinski aus "Paris Texas". Sie kam mir nie so peinlich vor wie andere Szenen mit seinen Protagonistinnen. Kann sein, dass Kinskis Schönheit mit allem versöhnt. Aber man muss Wenders eben auch lassen, dass er den Mut zu diesen Szenen hat, zu dieser Dauer, zum verlegenen Schweigen. Es ist ein Kennzeichen von Autorenfilmen, dass sie Imperfektionen stehen lassen.

Wenders ist kein Autorenfilmer wie Fellini oder Truffaut, keiner, der alles aus den Schauspielern holt. Zu Antonioni ist die Affinität größer: Antonioni hatte 1960 mit "L"Avventura" in Cannes einen Riesenskandal ausgelöst, weil der Film sich in der Mitte sozusagen auflöste. Das Verschwinden von Lea Massari, die fruchtlose Suche auf der Insel, die Verweigerung jeder Erklärung. So stapft auch Harry Dean Stanton in "Paris Texas" durch die Wüste. In "L"Avventura" dauert das eine halbe Stunde oder mehr, in der in dem Film so gut wie nichts passiert. Das Publikum buhte sich die Seele aus dem Leib. Im gleichen Jahr lief in Cannes "La dolce vita", mit ähnlichen Zeitverlusten. Hiervon muss Wenders gelernt haben, auch wenn er zwar eine ähnliche Weite der Räume und Langsamkeit der Bewegung hat wie Antonioni, aber nicht die glasklare Präzision der Choreografie und leider auch nicht die Grazie des Moments, die in "L"Avventura" explodiert, als Monica Vitti einen Schlager mitsingt. Bei Wenders stecken die Melancholiker eine Single in den tragbaren Plattenspieler. Daraus tönt jene Art von Rockmusik, die auch Handke so liebte, mittlere und späte Sechziger, nicht unbedingt bekannte Bands. Trost für einsame Jungs.

Grenzen



Diese Musik passt zu den Zonengrenzlandschaften im "Lauf der Zeit". Rüdiger Vogler rasiert sich im Rückspiegel seines alten Möbellasters. Sonst ist da niemand, bevor nicht Hanns Zischler mit seinem Käfer in die Elbe plumpst. Auch dann wird noch ausdauernd geschwiegen.

"Im Lauf der Zeit" und "Himmel über Berlin" dokumentieren ein Deutschland und Berlin, die durch den Mauerfall verschwunden sind. Warum geht Wenders hier an die Grenzen? Kein Mensch hat sich in den Siebzigern mehr für die Grenze zwischen den beiden Deutschland interessiert, in den Achtzigern war es ein bisschen anders, der morbide Reiz der Mauerlandschaft wurde damals schon wahrgenommen und inszeniert, vor allem durch die Graffiti an der Innenseite.

Ich glaube nicht, dass sich Wenders wirklich für das interessierte, was jenseits dieser Grenze war. Im "Himmel über Berlin" gibt es zwar eine kleine Fahrt durch Ost-Berlin. Meiner Erinnerung nach hatte er um eine Drehgenehmigung in Ost-Berlin nachgesucht und keine bekommen. Die kleine Fahrt drehte er heimlich. Aber so gern man seine Fahrten durch Ost-Berlin gesehen hätte: Man ist eher dankbar dafür, dass er seinen Film nicht um Ost-Berlin erweiterte. Was hätte Handke wohl in die Köpfe der Ost-Berliner notiert? Denn der Film besteht ja darin, dass die Engel Damiel (Bruno Ganz) und Cassiel (Otto Sander) hören können, was die Menschen denken. Da wäre ein noch grauenhafterer Kitsch rausgekommen als schon im Westen. Ich kann mir auf Teufel komm raus nicht vorstellen, was die beiden in dieser Zeit der "friedlichen Koexistenz" für die auf der Rückseite formuliert hätten: eine politische Forderung nach Öffnung der Mauer? Undenkbar. So etwas brachte damals nur Ronald Reagan.

Der "Himmel über Berlin" ist also ein "Himmel über West-Berlin", ein Film, der sich bildlich am Reiz dieser übrig gelassenen und aus der Zeit gefallenen Halbstadt delektiert. Man ist Wenders und Henri Alekan dankbar für diese Bilder. Die Luftaufnahmen mit ihren seltsamen schrägen Schwenks sind großartig und unglaublich elegant. Im Grunde wünschte man sich beim heutigen Sehen (wie so oft bei alten Filmen) viel mehr Doku und viel weniger Fiktion.

Das Jenseits West-Berlins aber wird nur in einem höchst bizarren Moment angetastet.

Dafür hat Wenders in Moabit, das damals fast so abgeranzt aussah wie Ost-Berlin, die Mauer mit Mauerstreifen nachbauen lassen. Das Wesen der Engel ist ja, dass sie durch Wände gehen können. Damiel entscheidet sich ausgerechnet auf dem Mauerstreifen, also in unmittelbarer Nähe von Grenzsoldaten, zum Menschen zu werden. Das Bild wird farbig. Er wird sichtbar für die Menschen und ist für die Soldaten nur durch einen Wachturm verdeckt. Der politisch offenbar etwas wachere Cassiel trägt ihn durch die Mauer zurück ins sichere West-Berlin. Ist das nicht unglaublich verschmockt?

Melancholie und Nostalgie



Ich habe den Eindruck, dass Wenders sich für die Grenzlandschaften im "Lauf der Zeit" nicht wegen ihrer Versehrtheit interessierte - die später den Charme West-Berlins ausmachte -, sondern wegen ihrer Intaktheit. Diese Landschaft zeigt er als eine Art wahres Deutschland, das noch nicht durch die banale Moderne der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit verunstaltet war. Die Kleinstädte in dem Film wirken allerdings ebenso aus der Zeit gefallen wie später West-Berlin. Die Stadt Wolfsburg, von der einmal die Rede ist, wird bezeichnenderweise nicht gezeigt. Sie passt vielleicht nicht ins Bild, das dominiert wird von der unbegradigten, naturbelassen dahinfließenden Elbe.

Die Narbe pocht nicht. Die Grenzanlagen kommen nur einmal ins Bild. Nur einmal hört man von ferne die Hunde bellen, aber die Protagonisten nehmen sie nicht zur Kenntnis: Sie sind zu sehr mit ihrer Innerlichkeit beschäftigt. Allenfalls pflegen sie noch die incomunicabilità mit ihren Eltern. Die Grenze wird nicht als Teilung eines Landes wahrgenommen. Da ist kein Trennungsschmerz. Wenders war vielleicht der einzige junge Filmer, der sich damals für sie interessierte, aber sie war für ihn ein bloßes Symbol, ein ästhetischer Reiz, das Außenbild eines inneren Zustands. Der Film ist darum doppelt Dokument: einer Landschaft, aber auch einer Wahrnehmung, die typisch war für das damalige West-Deutschland. Der Osten interessierte Leute wie Wenders nicht die Bohne.

Der Reiz liegt auch in den Utensilien. Rüdiger Vogler hantiert im "Lauf der Zeit" nicht nur mit dem würdevollen alten Projektionsgerät. So gut wie jedes Telefon, mit dem Vogler und Zischler im "Lauf der Zeit" hantieren, ist ein "Tischapparat W 48" (danke, Wikipedia, dass man dich für solche Recherchen benutzen kann), ein altes Bakelit- oder nach Bakelit aussehendes Telefon, das schon in den Sechzigern durch die "graue Maus" ersetzt worden war. Telefone des Modells W 48 hatten nur noch Kunden der Bundespost, die seit Jahren nicht mehr mit diesem Laden kommuniziert hatten. Ähnlich in "Alice in den Städten". Auch hier liegt der ganze Reiz des Ruhrgebiets in den vor dem Abriss stehenden Arbeitersiedlungen einer zu Ende gehenden Industriekultur. Im "Amerikanischen Freund" wohnt Bruno Ganz in einem Hamburger Abrisshaus vor Hafenkulisse, und er fährt nicht irgendeinen Käfer, sondern einen mit ovalem (aber nicht geteiltem!) Rückfenster, wie sie in den Fünfzigern gebaut wurden.

In den Siebzigern setzte in der Bundesrepublik die "Nostalgie-Welle" ein. Studenten sammelten an Sperrmülltagen die Gründerzeitmöbel der Neckermann-Kunden ein. Wenders war in dieser Zeit ein Avantgardist der Nostalgie.

Dennoch: Der Blick auf die Moderne ist bei ihm gebrochen, aber das nimmt ihr nicht die Verheißung. Unvergesslich sind im "Amerikanischen Freund" die Bilder des nagelneuen Défense-Viertels in Paris, die den Eiffelturm von außen in den Blick nehmen, als erstes Monument der Moderne, nicht als letztes des alten Paris. Und die Türme des World Trade Centers schimmern von ferne im kaputten New York der Siebziger.

Wenders" Hommagen



Am leichtesten wird Wenders, wenn es nicht der eigenen, sondern der Kunst der anderen gilt. Wenders ist ein Dokumentarist und als Dokumentarist ein Mann der Hommagen. Der sympathischste und filmisch zugleich überzeugendste Zug an ihm ist seine Liebe zu anderen Künstlern. Schon seine Spielfilme sind immer auch Hommagen. Im "Amerikanischen Freund" ist kaum eine Nebenrolle nicht von einem Regisseur besetzt, von Samuel Fuller und Nicholas Ray über Peter Lilienthal bis Jean Eustache. Wem hat Wenders nicht alles seine Liebe erklärt! Ozu, Nicholas Ray, Pina Bausch, BAP, dem Buena Vista Social Club, zuletzt Sebastião Salgado.

Kein Wenders-Film hat mich je mehr gerührt als der kleine Filmessay über Yohji Yamamoto, "Aufzeichnungen zu Kleidern und Städten", wohl auch wegen der Unwahrscheinlichkeit der Begegnung. Solveig Dommartin hatte Wenders auf Yamamoto gebracht. Als Pariserin wusste sie schon Bescheid. Yamamoto hatte hier ein paar Jahre zuvor mit einem winzigen Laden in der Rue du Dragon angefangen und die Vogue zu Spezialnummern über Japan inspiriert. Seine und Rei Kawakubos Kleider waren in der Geschichte der Mode, was New Wave für Pop war. Sie waren die Künstler der nach außen gedrehten Nähte, der Asymmetrie und Dekonstruktion, einflussreich bis heute. Das rote Kleid, das Dommartin in der Barszene im "Himmel über Berlin" trägt, ist von Yamamoto.

Das Tolle an Wenders" Film, ist, dass Wenders Yamomoto geradezu verfällt. Der kleine sanfte Mann und der große schwere Deutsche. Ich erinnere mich an Szenen an einem Billardtisch, die diesen Gegensatz fast grotesk erscheinen lassen. Yamamoto ist der stärkere, denn er ist ein seines Körpers absolut bewusster Mann der Anmut und fließend präziser Bewegungen. Und so ist auch seine Mode, konstruiert und anmutig. Aber Wenders hat rührende Strategien der Annäherung. Er dreht nicht mit Film, sondern mit Video. So kann er viel näher herangehen und distanziert sich doch wieder, denn Video war 1989 noch ein erstaunlich flaues Material. Es entsteht eine durch Unschärfe gemilderte Intimität. Wenders schweift auch ab, reflektiert über Tokyo, und wendet sich Yamamoto wieder zu. Das Videomaterial lässt die Schönheit von Yamamotos Entwürfen durchscheinen, bricht aber die Hochglanzästhetik der Mode, an der Yamamoto übrigens auch nie gelegen war.

Ich erinnerte mich noch fast Bild für Bild und Ton für Ton an eine Sequenz, die ich zufällig gleich als erste bei Youtube wiedergefunden habe. Vielleicht ist sie tatsächlich der Höhepunkt des Films. Sie zeigt Yamamoto bei einer Probe zu den Schauen in Paris. Es geht um eine Reihe schwarzer Kleider, die zugleich locker am Körper sitzen und eine romantische Silhouette bieten wie die der Passantin von Baudelaire – und dann doch wieder wie Anstaltskleider aussehen. Dazu dudeln zwei avantgardistische Klarinetten. Yamamoto beobachtet seine Choreografie.

Aber dann geschieht etwas, ein rauschhafter Moment. An die Stelle der dudelnden Klarinetten tritt eine grandios barockisierende Elektronik mit treibendem Bass. Wenders geht näher ran und zeigt nur noch Säume und Füße. Und plötzlich tritt Farbe ins Bild. Wie Unterröcke lupfen Innensäume in Regenbogenfarben unter den schwarzen Silhouetten hervor. Kellerfalten und Schlitze öffnen sich zu leuchtend orangem Untermaterial. Yamamoto muss selber lachen. Es ist hinreißend, dass Wenders bei der Kunst der anderen keine Angst hat vorm Effekt.