Bücherbrief

Hundert Austern und vier Flaschen Vouvray

06.06.2011. Najem Wali erinnert an die vertriebenen Juden von Bagdad, Albert Ostermaier schildert eine katholische Erziehung, Ingeborg Bachmann schreibt eine Soap opera, Florian Klenk mischt sich unter die Flüchtlinge am Ende der Welt, Anke Muhlstein beobachtet Honore de Balzac beim Schlemmen - dies und mehr in den besten Büchern des Junis.
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Weitere Anregungen finden Sie in den älteren Bücherbriefen, den Büchern der Saison vom Frühjahr 2011, unseren Notizen zu den Literaturbeilagen vom Frühjahr 2011, der Krimikolumne "Mord und Ratschlag" und den Leseproben in Vorgeblättert.


Literatur

Najem Wali
Engel des Südens
Die Bücher von Amaria
Carl Hanser Verlag 2011, 512 Seiten, 24,90 Euro



Najem Wali führt den Leser in "Engel des Südens" zurück in ein Bagdad seiner Kindheit und vielleicht auch seiner Träume. Unter anderem erinnert er an die Rolle, die die längst vertriebenen Juden in der Stadt spielten: Wie alle arabischen Länder war der Irak vor der Phase des arabischen Nationalismus ein Flickenteppich von Identitäten. Sabine Berking liest den Roman in ihrer sehr positiven Besprechung in der FAZ als nationale Tragödie, beginnend mit britischer Besatzung, endend mit Saddam Hussein. Ähnlich sieht es Irena Binal in der NZZ, die aber trotz der Beschwörung der Vergangenheit in dem Roman eine Änderung in Walis Stil vom "Geheimnisvoll-Träumerischen" zur nüchternen, ja harten Schilderung beobachtet. Er erzähle die Geschichte eines gebeutelten Landes in all ihrer Düsternis als "Chronik des Schreckens". In der FR hat Wali vor einigen Monaten einen schönen Artikel über das Haus des ehemaligen Finanzministeres des Irak, Sassoon Eskell, veröffentlicht, der ein bisschen in die Atmosphäre des Romans einführt.

Albert Ostermaier
Schwarze Sonne scheine
Roman
Suhrkamp Verlag 2011, 287 Seiten, 22,90 Euro



"Überbordend, ekstatisch, verschwenderisch", "wütende, verzweifelte Sprache", "Mut zum Pathos, zum Narzissmus und zur Metapherntrunkenheit" - so klingen schon mal die Charakterisierungen von Albert Ostermaiers Stil, der die Rezensenten durchaus beeindruckt hat. Auch das Thema - Traumatisierung durch eine katholische Erziehung und vor allem ihre Lehrmeister - entbehrt nach all den Missbrauchsdebatten der letzten Zeit ja nicht einer gewissen Aktualität. Die Rezensenten in der Zeit, der SZ und der FAZ lassen sich von der Schilderung der Verstrickung in die katholische Logik und der Lösung (mithilfe einer protestantischen Freundin) trotz einer Neigung zum Kitsch mitreißen. Alle lesen den Roman auch als autobiografisches Werk.

Stefanie Sourlier
Das weiße Meer
Erzählungen
Frankfurter Verlagsanstalt 2011, 170 Seiten, 19,90 Euro



Ohne großes Aufhebens schleicht sich die junge Schweizerin an die deutschsprachige Literatur heran, dafür aber gleich mit zwei höchst positiven Besprechungen in großen deutschen Zeitungen. Hans-Peter Kunisch beschreibt den Band als "Familienroman in Form von Erzählungen". Geschichten von einer "atemnehmenden Traurigkeit" hat die FR-Redakteurin Judith von Sternburg darin gelesen, atmosphärisch dichte, lose miteinander verwobene Schicksalsstudien. Sternburg stellt sich glatt die besorgte Frage, "wie es nach einem solchen Debüt weitergehen soll". Im Netz ist von Sourlier leider nichts zu lesen.

Ingeborg Bachmann
Die Radiofamilie
Suhrkamp Verlag 2011, 411 Seiten, 24,90 Euro



Ingeborg Bachmann hat doch glatt an einer Soap opera mitgearbeitet! Für das von den Alliierten in Österreich betriebene Radio Rot-Weiß-Rot schrieb sie an der Serie "Radiofamilie" über eine bürgerliche Familie mit, in der die Zeitläufte und die jüngste Nazigeschichte humoristisch und volkspädagogisch wertvoll reflektiert wurden. Ina Hartwig hat die Skripte für die Zeit gelesen und findet, dass sich Bachmann ihrer höchst versierten Arbeit aus der Zeit, als sie noch nicht die Bachmann war, keineswegs schämen müsse. Auch Ruth Klüger, die die Beiträge in der Welt im einzelnen untersuchte, zeigte sich fasziniert: Bachmann hatte ein feines Gespür für Dialoge.

Milan Kundera
Eine Begegnung
Carl Hanser Verlag 2011, 206 Seiten, 18,90 Euro



Einer der größten lebenden Autoren der europäischen Literatur (und seltsamer Weise wird er nie als Kandidat für den Nobelpreis gehandelt!) Alain Finkielkraut hatte in Frankreich mit höchstem Respekt über diesen Band geschrieben und besonders auf Kunderas Rehabilitation des Autors Anatole France verwiesen. Frances Revolutionsroman mit dem großartigen Titel "Les dieux ont soif" hat ihn auf eine lebenswichtige Spur gebracht: Dass der Tragik der historischen Umstände nur mit erzählerischer Leichtigkeit zu begegnen sei. Besonders diesen Aspekt hebt auch Andreas Kilb in seiner FAZ-Kritik hervor. Lothar Müller liest die Essays in der SZ als "indirekte Autobiografie" ihres Autors.


Reportage

Florian Klenk
Früher war hier das Ende der Welt
Reportagen
Zsolnay Verlag 2011, 172 Seiten, 17,90 Euro



Florian Klenk hat sich für seine Reportagen, die zuerst im Wiener Stadtmagazin Der Falter erschienen sind, in die östlichen Randbereiche der EU begeben, wo Flüchtlinge, die versuchten, in die EU einzuwandern, zwischengelagert und ganze Dörfer zu Bordellen umfunktioniert werden. Georg Renöckl beschreibt Klenk in der NZZ als "exzellenten Enthüllungsjournalisten". Die Reportagen sind ihm etwas zu kurz, was dem ursprünglichen Veröffentlichungsort geschuldet ist, aber er empfiehlt sie als aufrüttelnd und durchaus auch komisch. Im Interview mit dem ORF beklagt Klenk, dass es in Österreich kaum investigativen Journalismus gebe: "Ich lese keine Reportage über die Himmelstraße, in der die reichsten Menschen Wiens wohnen oder über die Billakassiererin, die um halb vier Uhr früh aufsteht. Wie sieht es heute in einer Hauptschule, in einem Gerichtssaal, in einem Gefängnis aus? Wie funktionieren Scheidungsprozesse? Das lese ich alles nicht."


Krimi

James Sallis
Der Killer stirbt
Roman
Liebeskind Verlag 2011, 256 Seiten, 18,90 Euro



James Sallis ist Literaturwissenschaftler, Drehbuchautor, Atemtherapeut, Übersetzer, Biograf und Krimiautor. Sein neuer Roman "Der Killer stirbt" ist "ein Kriminalroman, wie es noch keinen gab", verspricht Georg Schmidt im Deutschlandradio. Die Handlung, so es denn überhaupt eine Handlung gibt, kreist um einen todkranken Auftragsmörder und einen Jungen, der sich hauptsächlich im Internet aufhält. Kein klassischer Krimi, so Schmidt, aber "auf jeden Fall große Literatur". Auch Tobias Gohlis ist in der Zeit einfach hingerissen: eine Geschichte wie diese hat er noch nie gelesen.


Sachbuch

Anka Muhlstein
Die Austern des Monsieur Balzac
Eine delikate Biografie
Arche Verlag 2011, 189 Seiten, 19,90 Euro



Solange Honore de Balzac an einem Roman schrieb, wurde strengste Disziplin geübt, war er fertig, wurde geprasst: Dann verputzte Balzac auf einen Schlag hundert Austern, die er mit vier Flaschen Vouvray herunterspülte - um dann zum Hauptgang überzugehen: zwölf Lammkoteletts, zwei gebratene Rebhühner und eine Seezunge. Unter anderem diese Anekdote entnimmt Jörg von Uthmann Anka Muhlsteins Buch "Die Austern des Moniseur Balzac", mit dem er sich, wie er in der Welt schreibt, bestens unterhalten hat. Muhlstein, die schon sehr schöne Porträts über die beiden Königinnen Elizabeth I. und Maria Stuart oder über Napoleon in Moskau verfasst hat, verbindet ihre Biografie des zur Völlerei neigenden Schriftstellers mit der Geschichte der Pariser Esskultur, die mit der französischen Revolution unter anderem deshalb erblühte, weil die arbeitslos gewordenen Köche des Adels neue Beschäftigung brauchten. In der SZ zeigte sich Joseph Hanimann hellauf beglückt von der Idee, die Comedie humaine als Restaurantführer zu lesen. Der Nouvel Obs empfahl die französische Ausgabe mit dem utopischen PR-Spruch: "Schlemmen, ohne dick zu werden."

Alain Ehrenberg
Das Unbehagen in der Gesellschaft
Suhrkamp Verlag 2011, 531 Seiten, 29,90 Euro



Beschwerliche, aber nahrhafte Kost versprechen die Kritiker mit Alain Ehrenbergs "Das Unbehagen in der Gesellschaft". In seiner berühmten Vorgängerstudie "Das erschöpfte Selbst" hatte der französische Soziologe beschrieben, wie die Depression als großes Leiden an den Umständen an die Stelle der Neurose trat. Neurosen waren die Folge eines repressiven Kapitalismus, die Depression die Kehrseite einer Gesellschaft, die das Individuum zur Selbstverwirklichung zwingt. In seinem neuen Buch versucht Ehrenberg nun, das schwächelnde Ich zu stärken. Dafür setzt er dem französischen das amerikanischen Gesellschaftsmodell entgegen, das im Individuum nicht nur das Produkt des gesellschaftlichen Zerfalls sieht, sondern Ursprung und Grund für sinnvolles soziales Handeln. Groß, wichtig, brillant findet Elisabeth von Thadden diese Studie in der Zeit. Harry Nutt in der FR und Stephan Speicher in der SZ äußern sich zwar verhaltener, setzen sich aber nichtsdestotrotz sehr intensiv mit dieser Studie auseinander.

Jens Thiel
Ja-Sager oder Nein-Sager
Das Hamburger Streitgespräch deutscher Autoren aus Ost und West 1961
Eulenspiegel Verlag 2011, 288 Seiten, 19,95 Euro



Dieser Band von Jens Thiel lässt den bösen Verdacht aufkommen, dass sich in den vergangenen fünfzig Jahren nicht viel verändert hat in den Debatten um künstlerische und moralische Selbstbehauptung: "Ja-Sager oder Nein-Sager" dokumentiert ein Treffen deutscher Autoren aus Ost und West, das 1961 auf Initiative der Zeit in Hamburg zustande kam. Während sich das Gros der Schriftsteller ernst gemeinten Debatten über die Dekadenz Tolstois hingab, engagierten sich die wenigsten - namentlich Hans Magnus Enzensberger und Marcel Reich-Ranicki - für die in der DDR inhaftierten, angefeindeten oder totgeschwiegenen Autoren. Sehr gelobt wird diese Dokumentation in FAZ und Zeit auch dafür, dass sie Vorgeschichte und Nachwirkungen der Begegnung so sorgfältig rekapituliert. In der FR empfiehlt Arno Widmann, das Buch vor allem mit Blick auf unser Verhältnis zu China zu lesen.

Fredrik Sjöberg
Der Rosinenkönig
oder: Von der bedingungslosen Hingabe an seltsame Passionen
Galiani Verlag 2010, 237 Seiten, 18,95 Euro



Fredrik Sjöberg ist von Beruf und Passion Insektenforscher, besonderes Augenmerk richtete er bisher auf das Leben der Schwebfliegen. Doch Sjöberg verfügt auch über großes schriftstellerisches Talent und sorgt mit seinen verspielten Porträts vergessener Forscher für großes Leseglück bei den Rezensenten. In seinem neuen Buch "Rosinenkönig" erzählt er unter anderem vom Leben des Universalgenies Gustav Eisen, der sich Verdienste erwarb in der Regenwurmforschung, Rosinenzüchtung und Glasperlensystematik. Berückt zeigte sich Michael Adrian in der SZ und sieht Sjöberg mit seinen Erkundungen der Poesie des Lebens ein gewaltiges Stück nähergekommen. In der Zeit empfiehlt der Autor Andreas Maier, selbst hochbeglückt, das Buch nachdrücklich. Sehr gelobt wird auch die kunstvolle Übersetzung Paul Berfs.