Bücherbrief

Ich sah die Quallen schweben

02.06.2010. Laszlo Krasznahorkai lehrt uns das Wesen handwerklicher Meisterschaft, Juan Gabriel Vasquez führt uns ins Bogota der dreißiger Jahre, Daniyal Mueenuddin schickt uns nach Pakistan, aufs Land. Hartmut Köhler erzählt die größte Fantasy-Geschichte des Mittelalters auf Deutsch. Honore de Balzac, Clemens Fürst von Metternich und die SZ überprüfen Napoleons Maximen. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats.
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Weitere Anregungen finden Sie in den älteren Bücherbriefen, der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", unseren Notizen zu den Literaturbeilagen vom Frühjahr 2010, den Leseproben in Vorgeblättert und in den Büchern der Saison vom Frühjahr 2010.


Literatur

Laszlo Krasznahorkai
Seiobo auf Erden
Erzählungen
S. Fischer Verlag 2010, 461 Seiten, 22,95 Euro



Ganz große Literatur. Meisterhaft. Stupendes Wissen. Die Rezensenten scheuen die kräftigsten Attribute nicht, um die Erzählungen des großen ungarischen Autor Laszlo Krasznahorkai anzupreisen. In siebzehn Texten erzählt Krasznahorkai von Shintoismus und muslimischer Baukultur, antiker Bildhauerei und Renaissancekunst, russischer Ikonenmalerei und Barockmusik. Es geht also oft um ganz handfeste Dinge, um Übung, Wiederholung, Sublimierung, kurz: das Erwerben handwerklicher Meisterschaft. In der NZZ schaute Andreas Breitenstein "die Wahrheit des Schönen" und ging in die Knie. In der FAZ hält Nicole Henneberg fest, dass bei Krasznahorkai Schönheit glaubhaft erst "aus Verwirrung und Schmerz entsteht". Große Bewunderung auch bei Judith von Sternburg in der FR, die bei aller Feier der Schönheit auch Krasznahorkais extrem lange Sätze nicht unerwähnt lassen will: auf den ersten 322 Seiten zählte sie 53. Nicht unerwähnt sei - gerade bei diesem Buch - die viel gelobte rhythmische Präzision der Übersetzung Heike Flemmings.

Juan Gabriel Vasquez
Die Informanten
Roman
Schöffling und Co. Verlag 2010, 381 Seiten, 22,90 Euro



Ein bewegendes Epos, das die ganz großen Fragen um Schuld und Sühne, Verrat und Versagen verhandelt, versprechen die Kritiker dem Leser von Juan Gabriel Vasquez' Roman "Die Informanten". Der 1978 geborene kolumbianische Autor blickt darin zurück auf das Bogota der dreißiger und vierziger Jahre, in dem jüdische und kommunistische Flüchtlinge aus Deutschland auf nationalsozialistisch gesinnten Auswanderer treffen. Ein großartiges Gesellschaftspanorama von Kolumbien findet Karl-Markus Gauß (SZ). Barbara von Becker lobt in der FR die ebenso kraftvollen wie detaillierten Bilder, in denen Vasquez erzählt. Und der Leser - er kommt dank Susanne Langes musikalischer Übersetzung in den vollen Genuss von Vasquez' Erzählkunst, versichert Paul Ingendaay in der FAZ.

Daniyal Mueenuddin
Andere Räume, andere Träume
Roman
Suhrkamp Verlag 2010, 289 Seiten, 19,90 Euro



Dieses Debüt des pakistanischen Autors Daniyal Mueenuddin hat die Kritiker in reinste Euphorie versetzt. Mueenuddin arbeitete mehrere Jahre in New York als Anwalt und lebt jetzt wieder auf einer Farm in Khanpur. In acht lose miteinander verknüpften Geschichten zeichnet er, wie die Kritiker einhellig vermerkten, ein ebenso poetische wie komplexe Bild von Pakistans unerbittlichen Großgrundbesitzern. Mitleidslos sieht Mueenuddin seine Helden scheitern, so Shirin Sojitrawalla in der taz. Liebe gibt es nicht, nur Abhängigkeiten, bemerkt Katharina Granzin in der FR. Beides ist wohl nicht als Kritik gemeint, denn der illusionslose Mueenuddin ist ein verteufelt raffinierter Erzähler - da sind sich die Rezensenten einig. "Mehr davon!", ruft Wieland Freund in der Welt. (Hier unsereeine Geschichte wurde im New Yorker abgedruckt.)

Sinan Antoon
Irakische Rhapsodie
Roman
Lenos Verlag 2009, 133 Seiten, 17,50 Euro



Nur vereinzelte Besprechungen haben wir zu Sinan Antoons "Irakischen Rhapsodie" gefunden, die aber durchaus aufhorchen lassen. Der 1967 geborene, seit 1991 in den USA lebende Antoon erzählt von einem Anglistikstudenten im Irak, der zur Zeit des ersten Golfkriegs wegen regimefeindlicher Äußerungen verhaftet und im Gefängnis systematisch vergewaltigt und gefoltert wird. Kersten Knipp beeindruckte besonders die Nüchternheit und Detailtreue, mit der Antoon seine beklemmende Geschichte erzählt, wie er in der FAZ schrieb. Und in der NZZ bescheinigte Angela Schader dem Roman "bitteren Witz und erinnerungswürdige Szenen", in denen der Autor weniger die Gewalt als die psychischen Deformationen schildere, denen der Irak unter Saddam Hussein ausgesetzt war.

Dante Alighieri
La Commedia. Die Göttliche Komödie
I: Inferno / Hölle
Philipp Reclam jun. Verlag 2010, 562 Seiten, 27,95 Euro



Dantes "Commedia" wurde schon oft übersetzt, aber diese Übersetzung von Hartmut Köhler ist eine Übertragung in Prosa. Und siehe da, freut sich Gustav Seibt in der SZ, ohne den Reimzwang fließt Dantes Text auch in der deutschen Version: "frei wird der innig-einfache Untergrund einer Vulgärsprache, deren Ton auf Plätzen und Straßen und nicht zuletzt bei den Frauen abgelauscht ist". So kann man die Commedia wieder als das lesen, was sie eben auch ist: "die größte Fantasy-Geschichte des Mittelalters". Das italienische Original steht in dieser zweisprachigen Ausgabe neben der Übersetzung, so dass der Rhythmus nicht verloren geht. Unten auf den Seiten sind die gelehrten Anmerkungen untergebracht, und auch darüber ist Seibt sehr glücklich: denn genau dort braucht man sie schließlich.


Gedichte

Marion Poschmann
Geistersehen
Gedichte
Suhrkamp Verlag 2010, 126 Seiten, 17,80 Euro



In Marion Poschmanns Gedichten geht es, wie der Titel "Geistersehen" andeutet, um das nicht Greifbare, das in seinem Realitätsstatus Unklare, auch ums Ungefähre, hält Wulf Segebrecht in der FAZ fest. Doch scheint Poschmann dies an durchaus greifbaren Objekten zu durchdenken. Segebrecht erwähnt Quallen und zitiert: "ich sah die Quallen schweben, / sah ihren Körper kaum, ein blasser Sack, nicht mehr / erkennbar als ein Ding des Wassers. gläsern, leer / der blanke Hintergrund, an dem Gedanken kleben, / als käme Klarheit auf. als öffneten sich Fenster / auf das, was war, auf nichts. Erinnerungsgespenster, / zu ungreifbar, zu zart. die Blicke scheitern hier." Hier spricht kein überwältigtes Ich, sondern ein mitdenkendes und -redendes, lobt der beglückte Rezensent. In der NZZ sieht Michael Braun es ähnlich: Aufregend findet er es, wie die Autorin der Lyrik die "Erfahrungsnaivität austreibt".


Comic

Christophe Blain
Gus
Band 2: Schöner Bandit
Reprodukt Verlag 2010, 80 Seiten, 15,00 Euro



Wie schon im ersten Band von "Gus" erzählt der in Cherbourg geborene Chrisophe Blain auch hier von den Abenteuern dreier Freunde - Clem, Gratt und eben Gus - im Wilden Westen. Gus stiehlt hier zum ersten Mal Geld, um bei seiner Angebetenen, einer Bankangestellten, ein Konto eröffnen zu können. Es geht bei Blain eben nicht um die typischen Westernmotive, um Freiheit, wilde Schießereien und Kuhherden, sondern um Frauen, so Christian Gasser (NZZ), der das außerordentlich erfrischend findet. Dazu kommt noch Humor und ein schneller, das Wesentliche einfangender Strich - für Gasser ragt Blain damit deutlich aus dem französischen Mainstream heraus.


Sachbuch

Francois Walter
Katastrophen
Eine Kulturgeschichte vom 16. bis ins 21. Jahrhundert
Philipp Reclam jun. Verlag 2010, 392 Seiten, 29,90 Euro

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Staub zu Staub, Asche zu Asche: Dieser Band ist angesichts des Eyjafjallajökull-Ausbruchs und unserer von ihm in Erinnerung gebrachter Hinfälligkeit hochaktuell. Der Genfer Historiker Francois Walter untersucht vom Vulkanausbruch bis zu Nuklearunfällen oder den Anschlägen vom 11. September, wie unterschiedlich Gesellschaften mit den jeweiligen Katastrophen umgegangen sind, erklärt der Rezensent Urs Hafner in der NZZ, der in dem Band eine beunruhigende Entdeckung macht: Bis heute reagieren die Menschen auf Katastrophen nicht unbedingt rational - sondern mit einem Bedürfnis nach Spiritualität. Diese sehe Walter auch in einer quasireligiösen "alarmistischen Ökologie" am Werk. Ähnlich resümiert es Jenni Roth in der Welt: "Die Geschichte der Katastrophen lehrt, dass die Welt, um mit Max Weber zu sprechen, nicht entzaubert ist. Im Gegenteil: Die Welt wird neu verzaubert." (Hier eineaus dem Buch.)

E.M. Cioran
Über Frankreich
Suhrkamp Verlag 2010, 104 Seiten, 17,80 Euro



Es ist ein früher und - wenn man Klappentext und Rezension glauben darf - noch recht wild mäandernder Text des später für seine Kühle und seinen präzisen Pessimismus berühmt gewordenen rumänisch-französischen Philosophen Emil Cioran. Frankreich dürfte für ihn immer schon ein Orientierungspunkt gewesen sein: Er schaffte es später, das typisch französische Ideal der clarte mit einer finsteren Weltsicht in Einklang zu bringen. "Während bei den Deutschen Banalitäten als ordentlicher Stoff für Unterhaltungen durchgehen, ziehen Franzosen eine ansehnliche Lüge jeder dürftig formulierten Wahrheit vor", heißt es in den ersten Sätzen des Buchs, die im Klappentext zitiert werden. NZZ-Rezensent Martin Meyer entdeckt im kurzen Text noch manche pompöse nietzscheanische Aufwallung, aber er empfiehlt ihn trotzdem wegen seines Ideenreichtums.

Napoleon Bonaparte
Maximen und Gedanken
Matthes und Seitz 2010, 144 Seiten, 18,80 Euro



Nicht schlecht: ausgewählt und mit einem Vorwort von Honore de Balzac und mit einem biografischen Essay von Clemens Fürst von Metternich. In der SZ hat Gustav Seibt, selbst Autor eines hinreißenden kleinen Buchs über Goethe und Napoleon den vorliegenden Band besprochen. Napoleon ist demgemäß kein Systematiker. Aber aus seinen Maximen lässt sich manches über die Mechanik der Macht lernen, bekennt fröstelnd der Rezensent. Metternichs Essay lobt der Konservative Seibt erwartungsgemäß als glänzend und schlägt eine Edition der Schriften Metternichs vor.


Bildband

Eric Karpeles
Marcel Proust und die Gemälde aus der Verlorenen Zeit
DuMont Verlag 2010, 352 Seiten, 34,95 Euro

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In Wirklichkeit handelt Prousts "Recherche" nicht von Erinnerung, sondern von Kunst, denn sie ist es, die allein Erinnerung aufheben kann. Das gilt bei Proust für alle Künste: Literatur, Kunst, Musik (und zwar in dieser Reihenfolge, aber das wäre einen anderen Band wert). Natürlich spielen auch einige Gemälde eine Schlüsselrolle in der "Recherche". Das berühmteste ist die "Vue de Delft" von Vermeer. Suchen Sie hier den "petit pan de mur jaune", den kleinen gelben Fleck auf einer Mauer, der eine Offenbarung für den Ich-Erzähler ist und der den Schriftsteller Bergotte tot zusammenbrechen lässt. Aber auch Monet, Botticelli und viele andere Maler sind für Proust wichtig. Der Kunsthistoriker Eric Karpeles hatte die gute Idee, alle Gemälde aus der "Recherche" zusammenzustellen. Tobias Schwartz lobt die Idee in der taz als genial, besonders auch, weil Karpeles die Handlungszusammenhänge der Bilder stets erläuternd mitgibt. Eine andere Einführung in diesen wunderbaren Roman!