Bücherbrief

Meilenstein der literarischen Evolution

09.10.2009. Roberto Bolano spürt einer grauenvollen Mordserie in Mexiko nach. David Grossman beschreibt eine Zeit magischen Denkens. Kurt Kaindl fotografiert Landschaften entlang des Eisernen Vorhangs. Liao Yiwu stellt Fräulein Hallo vor. Chris Anderson macht alles kostenlos. Dies und mehr in den besten Büchern des Monats Oktober.
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Weitere Anregungen finden Sie in den älteren Bücherbriefen, der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", unseren Notizen zu den Literaturbeilagen vom Frühjahr 2009, den Leseproben in Vorgeblättert und in den Büchern der Saison vom Herbst 2008.


Literatur

Roberto Bolano
2666
Roman
Carl Hanser Verlag, München 2009, 1096 Seiten, 29,90 Euro

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Abenteuer-, Künstler- und Historienroman, Psychothriller, Sozialstudie und nebenbei noch Reportage und Recherche über eine grauenhafte Mordserie in Mexiko, die tatsächlich stattgefunden hat. Die Rezensenten sind überwältigt. Roberto Bolano ist an diesem tausendseitigen Roman gestorben, schreibt Maike Albath in der FR, denn er hat eine Lebertransplantation verschoben, um ihn zu beenden. Die vielen Erzählstränge werden nicht einfach realistisch, aber doch narrativ erzählt, erklärt Andreas Breitenstein in seiner (übrigens ebenfalls epischen) NZZ-Kritik, und gibt Entwarnung: es ist nicht langweilig, nicht zerzaust, es ist lesbar. Die Kritiker der anderen Zeitungen sekundieren: Ein "Meilenstein der literarischen Evolution", so Ijoma Mangold in der Zeit, ein "großes, unvollkommenes, überschäumendes Werk", so Lothar Müller in der SZ.


David Grossman

Eine Frau flieht vor einer Nachricht
Roman
Carl Hanser Verlag, München 2009, 728 Seiten, 24,90 Euro

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Auch wenn man nicht wisse, dass der israelische Autor den Roman verfasste, während sein Sohn als Soldat im zweiten Libanonkrieg kämpfte, in dem dieser schließlich umkam, kann man sich der "schmerzlichen Intensität" der Lektüre nicht entziehen, betont Sigrid Löffler in der FR. Buch und Leben wirken ineinander Grossman beschreibt eine Frau, die sich den drohenden Tod ihres Sohns durch Sprechen und Erzählen vom Leibe halten will, und Grossman schreibt in seinem Nachruf, dass er etwas von diesem magischen Denken beim Schreiben selbst empfand. Ein "wahrhaft großer" Roman ist "Eine Frau..." auch für Meike Fessmann in der SZ, die bewundert, dass der Autor ohne Pathos auskommt. Verwiesen sei auch auf Carolin Emckes Grossman-Porträt in der Zeit: "So schreibt er nicht allein um sein Überleben, sondern um unseres."


Noemi Kiss
Was geschah, während wir schliefen
Erzählungen
Matthes und Seitz, Berlin 2009, 182 Seiten, 19,80 Euro

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Alle sechs Erzählungen scheinen zwei Dinge gemeinsam zu haben: Sie handeln von Sex. Und sie enden mit einer Leiche. Vorher aber geht es um Frauen mit recht zerbrechlichen Lebensentwürfen und ihrer Suche nach der "fortdauernden Ekstase" (im Original lautet der Titel mehrdeutig "Trans"), schreibt Judith Leister in der NZZ. Ein wenig erschöpfend findet die Rezensentin den Hang der Autorin zum Paradox und zur größzügigen Rhetorik, verzeiht dies aber als "Kinderkrankheiten einer wagemutigen Schriftstellerin". Und Stefanie Peter hat in der FAZ eine "neue aufregende Stimme im Männergesangverein der ungarischen Literatur" wahrgenommen.


Sibylle Berg
Der Mann schläft
Carl Hanser Verlag, 2009, 19,90 Euro



"Der Mann schläft" ist mittlerweile Sibylle Bergs sechster Roman und glaubt man Kristina Maidt-Zinke in der Zeit dann ist er von allen der "niedlichste Roman" (allerdings im Sinne des lateinischen nitidus als proper und ansehnlich). Dabei ist die Protagonistin eine ausgesprochene Misanthropin, die vom Verfassen von Gebrauchsanweisungen lebt und Sehnsucht hat nach einer Liebe, an die sie nicht glaubt. In der NZZ jedenfalls ist man hingerissen vom "gepflegten Lebensüberdruss". Kolja Mensing vermutet in der FAZ gar ein kleines Meisterwerk das zwischen trockenem Zynismus und unerfüllter Sehnsucht changiert. Schließlich hat auch die Zeit etwas übrig für Bergs "sanft melancholische, moderat maliziöse Bilder". Und bei druckfrisch gibts noch eine Bootstour mit der Autorin.


Reportagen

Peter Hessler
Über Land
Begegnungen im neuen China
Berlin Verlag, Berlin 2009, 24 Euro



Peter Hessler war für mehrere Jahre als Korrespondent des New Yorker in China. In seinen Reiserepotagen "Über Land" schildert er, wie er unter anarchistischen Bedingungen das Autofahren lernte und Tausende von Kilometern die Große Mauer entlang und durch die dünn besiedelten Provinzen fuhr. Entdeckt hat er dabei nicht nur ein Land in rasendem Umbruch, sondern auch Orte mit solch klingenden Namen wie "Schlachtet die Hu ab!". In der NZZ lobt Ludger Lütkehaus die Reportagen als kenntnisreich und witzig. Der begeisterte Nils Minkmar hat in der FAS den vielen Episoden aus dem chinesischen Dorfleben einen vielversprechenden Trend entnommen: "Das Kuschen kommt aus der Mode."


Liao Yiwu
Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
S. Fischer Verlag, 2009, 22,95 Euro



Über Liao Yiwu, der in China bereits mehrmals im Gefängnis saß und zumindest für die BBC "der meist zensierte Autor Chinas" ist, wurde im Feuilleton der letzten Wochen viel geschrieben, weil dem Autor die Ausreise zur Frankfurter Buchmesse verweigert worden war. Warum, das versteht man vielleicht am besten, wenn man Yiwus Reportagenband "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser" liest. Hier zeichnet Yiwu das Leben von Randfiguren der chinesischen Gesellschaft nach. Zu den Porträtierten gehören unter anderem eine Prostituierte, ein Klomann, eine Falun-Gong-Anhängerin, ein Feng-Shui-Meister. Für Susanne Messmer (taz) erweist sich Liao Yiwu als einer der "radikalsten, manischsten und brillantesten" Archäologen und Archivare der Erinnerungskultur". Alex Rühle sprach in der SZ dem Band das Prädikat "epochal" zu. In der NZZ würdigt Ludger Lütkehaus das Buch als Dokument ebenso wie als literarischen Text. Hier noch Michael Meyers Besprechung in der New York Times. Und hier eineaus der Lettre 2007.


Sachbuch

Mohammed Abed Al-Jabri
Kritik der arabischen Vernunft
Die Einführung
Perlen Verlag, Berlin 2009, 19,80 Euro

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Die "Kritik der arabischen Vernunft" ist das gewaltige Werk des marokkanischen Philosophen Mohammed Abed Al-Jabri, der Tradition und Geschichte des arabischen Denkens und seiner Gelehrtenkultur analyisert und kritisiert. Nun ist eine Einführung in dieses Werk erschienen, und die Rezensenten können dies gar nicht verdienstvoll genug finden. Martin Riexinger lobt in der taz den ganz und gar unpolemischen Ansatz des einstigen Marxisten al-Jabri, der mittlerweile zu allen weltanschaulichen Lagern gleichermaßen Abstand halte. Stefan Weidner (NZZ) gewann verblüffende Erkenntnisse zur islamisch-arabischen Wissenskultur, etwa "dass in der arabisch-islamischen Kultur die Texte ihre Leser lesen, nicht umgekehrt". Eine sehr eingehende, aber auch kritische Rezension findet sich im Blog Glanz und Elend.


Chris Anderson
Free. Kostenlos
Campus Verlag, Frankfurt am Main 2009, 39,90 Euro

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Mit seinen Überlegungen zu den Vorzügen der Internet-Ökonomie für Spartenprodukte "The Long Tail" hat sich Wired-Chefredakteur Chris Anderson einen großen Namen gemacht. Sein neues Buch "Free" stößt bei den meisten Kritiker auf nicht ganz so viel Gegenliebe, wird aber intensiv diskutiert. Anderson beschreibt darin am Beispiel von Google oder verschiedener Musikbands, wie geschäftsfördernd die Bereitstellung kostenloser Inhalte sein kann. In der FAZ glaubt Thomas Thiel, dass dieses Modell nur in einem Starsystem funktioniert, und fürchtet im Zuge der Geschenkökonomie einen wachsenden Marktmonopolismus. Im Guardian bedauert Cory Doctorow, dass es Anderson bei den freien Inhalte nur um Gewinnsteigerung geht, weswegen er etwa den Free-Software-Pionier Richard Stallman als Antikapitalisten ignoriert. Auch in Carta setzt sich Matthias Schwenk ausführlich mit dem Buch und der von ihm angestoßenen Debatte auseinander. Hier Malcolm Gladwells Kritik aus dem New Yorker.


Raffaele Cantone
Allein für die Gerechtigkeit
Antje Kunstmann Verlag, 2009, 19,90 Euro



Raffaele Cantone ist in Giugliano bei Neapel aufgewachsen. Von 1999 bis 2007 war er als leitender Staatsanwalt an allen großen Prozessen gegen die Camorra-Clans beteiligt. In seinem Buch "Allein für die Gerechtigkeit" erzählt er von seinem mühseligen und frustrierenden Alltag als Antimafia-Ermittler. In der FR lobt Rudolf Walther die Sachlichkeit, mit der Cantone die Mängel im System beschrieb. In der SZ schaudert Henning Klüver vor dem "schrecklich Alltäglichen", von dem Cantone berichtet. In der NZZ beschreibt Maike Albath Raffaele Cantone als Gegenstück zu Roberto Saviano: Statt literarischem Furor begegnete ihr hier staatsbürgerliches Ethos, aber auch eine viel niederschmetterndere Bilanz in Bezug auf die gesellschaftlichen Abwehrkräfte: Nachbarn hatten eine Unterschriftenaktion gestartet, um zu verhindern, dass Cantone in ihr Viertel zieht.


Hörbuch

Leo Tolstoi
Krieg und Frieden
54 CDs, Audio Verlag, 2009, 199 Euro



Mit 3.618 Minuten Laufzeit hat das Hörbuch zu Leo Tolstois "Krieg und Frieden" berechtigten Anspruch auf den Titel des "längsten aller Roman-Hörbücher", so Wolfgang Schneider in der FAZ, lobt aber gleichzeitig die Kurzweiligkeit der Aufnahmen. Wochen und Monate hat ihn dieser Roman fortgetragen, schwärmt Schneider, und ist erfreut, dass man den historischen Gesellschaftsroman über die Zeit zwischen 1805 und 1812 ungekürzt übernommen hat. Im Deutschlandradio ist man etwas zurückhaltender: Wer setzt sich schon 67 Stunden für ein Hörbuch hin, fragt Hartwig Tegeler. Hm, Perlentaucherleser?


Bildband

Kurt Kaindl
Reisen ins Niemandsland
Von Lübeck bis Triest. Fotografien entlang des ehemaligen Eisernen Vorhangs
Otto Müller Verlag. Salzburg 2009, 104 Seiten, 34,00 Euro

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Der Band ist erst einmal besprochen, dabei ist es ein schönes Projekt. Um den Klappentext zu zitieren: "Von beiden Seiten - aus dem Osten und dem Westen - nähert sich Kurt Kaindl dem früheren Eisernen Vorhang: Er besucht die in diesem ausgedehnten Niemandsland entstandenen Landschaften, zeigt Veränderungen in den Städten und Dörfern und fotografiert vor allem Menschen, die immer noch - oder jetzt erst wieder - an dieser ehemals unüberwindlichen Grenze leben." Dreitausend Kilometer ist Kaindl so abgeschritten. Kaindl beschönigt nichts, so Ilma Rakusa in der NZZ. Die Atmosphäre der Fotos schildert sie immer noch als verwunschen, teilweise überraschend idyllisch - aber es sind doch versehrte Landschaften, mit Spuren der Geschichte. Einige der Fotos kann man auf der Website des Volkskundemuseums in Wien betrachten.