Bücherbrief

Romantischer Taugenichts

13.02.2012. Christian Kracht lässt seinen Helden Augustus Engelhardt die Vorzivilisation kosten. Nicholson Baker schickt uns ins Stöhnzimmer. Krisztina Toths Heldin sehnt sich nach dem unerreichbaren Westen. Stephen King verhindert einen Anschlag. Und Daniel Jütte entführt uns ins Zeitalter des Geheimnisses. Dies und mehr in den besten Büchern des Februar.
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Weitere Anregungen finden Sie in den älteren Bücherbriefen, den Leseproben in Vorgeblättert, der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", den Büchern der Saison vom Herbst 2011, unseren Notizen zu den Literaturbeilagen vom Herbst 2011.


Literatur

Christian Kracht
Imperium
Roman
Kiepenheuer und Witsch Verlag 2011, 256 Seiten, 18,99 Euro



Christian Krachts Roman über den Nürnberger Gottsucher und Lebensreformer August Engelhardt, der Ende des 19. Jahrhunderts das Heil auf einer Kokosnussplantage in der Südsee suchte, hat die Rezensenten so beeindruckt, dass sie den Roman noch vor dem Erscheinungstag am 16.2. besprochen haben. Nacktwandern, Vegetarismus und Kokosnussanbettung scheinen bald zu Regression und Kannibalismus unter den Anhängern Engelhardts zu führen. Er selbst beginnt wieder am Daumen zu lutschen, der ihm jedoch bald auf Grund einer Leprainfektion abfällt, lesen wir gebannt in der FAZ. Deren Rezensentin Felicitas von Lovenberg hat sich ebenso wie Zeit-Rezensent Adam Soboczynski bestens amüsiert. In der Welt ruft Paul Michael Lützeler das Buch gar zum Meisterwerk aus: "Was an 'Imperium' überzeugt, ist vor allem Krachts Schilderung sozialer Konstellationen und zwischenmenschlich-psychologischer Entwicklungen im Kontext des wilhelminischen Platz-an-der-Sonne-Kolonialismus." Nur in der taz will Andreas Fanizadeh nicht in das Lob einstimmen: Er empfand die Lektüre als "qualvoll".

Nicholson Baker
Haus der Löcher
Roman
Rowohlt Verlag, Reinbek 2011, 320 Seiten, 19,95 Euro

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Keiner weiß so gut wie Baker kindliche Logik mit den schmutzigen Fantasien der Erwachsenen zu kombinieren, freut sich Ina Hartwig in der SZ. Gern lässt sie sich also vom Autor entführen ins reichlich surreale Haus der Löcher, in dem die Samenkandidaten vor Betreten des Stöhnzimmers in die Peniswaschanlage müssen. Ähnlich sieht es Verena Lueken in der FAZ. Auch Bakers zahlreiche - und von Eike Schönfeld hervorragend ins Deutsche übersetzte - Wortneuschöpfungen für das männliche Geschlechtsteil haben die Kritikerin bestens amüsiert. Nur Iris Radisch winkt in der Zeit ab und findet Bakers Fantasien kindisch und allzu harmlos. Eins ist seltsam: Werden pornografische Bücher ausschließlich von Frauen besprochen?

Krisztina Toth
Strichcode
Roman



"Strichcode" ist ein Rückblick in das Ungarn vor dem Mauerfall. Der "Strichcode" war für das Kind, das Protagonist dieser Erzählungen ist, ein geheimnisvolles Zeichen aus einer besseren Welt - dem seinerzeit unerreichbaren Westen. Die Geschichten hängen lose zusammen, lassen sich aber auch als Ganzes lesen, schreibt ein faszinierter Georg Renöckl in der NZZ. Sie sind unheimlich, traurig, so Renöckl weiter. Aber sie entbehren nicht der Komik. Für Renöckl ist Toth, die in Ungarn vor allem als Lyrikerin bekannt ist, eine Entdeckung.

Stephen King
Der Anschlag
Roman
Heyne Verlag, München 2012, 1056 Seiten, 26,99 Euro

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Was wäre passiert, wenn Kennedy nicht ermordet worden wäre? Über tausend Seiten hat diese merkwürdige Zeitreise. Dass der neue Stephen King in ganzseitigen Essays gewürdigt wird, wäre vor ein paar Jahren noch undenkbar gewesen. Aber nun scheint er den Aufstieg in den Kanon geschafft zu haben. Und die Rezensenten waren namhaft: Für die taz schrieb Stephan Wackwitz, Autor und einstiger Chef des Goethe-Instituts von New York, über die spezifischen Wurzeln der "unheimlichen Geschichte" in Amerika, die viel mit den "vormodernen Einwanderermilieus und Subkulturen" zu tun habe. "Kennedys Rettung macht die USA nicht besser ", lernt Cora Stephan in der Welt aus dem Roman. Und doch liest sie ihn als "ebenso zarte wie überströmende Liebeserklärung" an Amerika. Nur Andrian Kreye in der SZ findet den "Anschlag" überfrachtet.

Rene Halkett
Der liebe Unhold
Autobiografisches Zeitporträt von 1900 bis 1939
Edition Memoria, Köln 2011, 488 Seiten, 36 Euro

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Laut Klappentext bietet Albrecht von Fritsch alias Rene Halkett ein Ein-Mann-Panorama des frühen 20. Jahrhunderts: "Halkett war Kadett und Soldat im Ersten Weltkrieg, unsteter Wandervogel und Student in Gießen, Heidelberg und Frankfurt/Main, Freikorpskämpfer und KPD-Sympathisant, Mitglied der Bühnenwerkstatt am Bauhaus in Weimar und Mitarbeiter der 'Roten Bühne' in Berlin, Segelflugpionier im ostpreußischen Rossitten" und so weiter und so weiter. Und er war ein deutscher Emigrant in Großbritannien. Für die Rezensenten hat's funktioniert. Für Uwe Pörksen in der SZ ist Halkett ein Querschnitt aus romantischem Taugenichts und einem Felix Krull mit enormen Verwandlungsfähigkeiten und unbändiger Neugier - und vor allem kennt er die dunkelsten deutschen Passionen und weiß sie hellsichtig zu analysieren. Pörksen dankt ausdrücklich dem Verlag und der Übrsetzerin. Ähnlich sieht es Walter Hinck, selbst großer Kenner von Exilliteratur, in der FAZ.

John Kennedy Toole
Die Verschwörung der Idioten
Roman
Klett-Cotta Verlag, Suttgart 2011, 461 Seiten, 22,95 Euro

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Ein klassischer amerikanischer Schelmenroman aus den sechziger Jahren, der endlich in Neuübersetzung vorliegt und ein höchst amüsantes Panorama von New Orleans in dieser von Bürgerrechtsbewegung und Jugendkultur geprägte Zeit bietet. Die Rezensenten loben den "grandiosen szenischen Witz" und den Figurenreichtum, der von Toole aber stets meisterhaft beherrscht werde. Keine soziale Schicht, keine Randgruppe bleibe vom Witz des Autors verschont, der seinen Figuren allein deshalb ein Happy End gönne, weil er es eben so haben wolle, freut sich etwa der mit dieser Lektüre rundum glückliche Frank Schäfer in der taz.


Sachbuch

Ilja Ilf, Jewgeni Petrow
Das eingeschossige Amerika
Eine Reise mit Fotos. 2 Bände
Die Andere Bibliothek/Eichborn, Frankfurt am Main 2011, 693 Seiten, 65 Euro

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In schöner Ausgabe erscheint dieser ausführliche Reisebericht zweier sowjetischer Stars der Literatur, die trotz des offiziellen Auftrags mit offenen Augen durch die USA der Depressionszeit gefahren sind. "Ihr mausgraues Ford-Automobil brachte sie 16.000 km durch mehrere hundert Städte", heißt es im Klappentext. Hingerissen ist Karl Schlögel in der NZZ von diesem Reisebericht. Er schätzt die sowjetischen Reporter als genaue Beobachter, die nicht nur die überwältigenden Sehenswürdigkeiten in den USA bewundern, sondern auch den Alltag erforschen. Spürbar ist für ihn die Faszination, die das Land - bei aller Skepsis - auf Ilf und Petrow ausübt. Auch Susanne Klingenstein ist in der FAZ rückhaltlos begeistert.

Robert Capa, John Steinbeck
Russische Reise
Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main 2011, 304 Seiten, 19,90 Euro

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Karl Schlögel hat "Das eingeschossige Amerika" zusammen mit seinem Gegenstück, der "Russischen Reise" von John Steinbeck und Robert Capa besprochen, die für ihn einen lesenswerten Einblick in das zerstörte Russland nach dem Zweiten Weltkrieg gab. In einer Mischung aus Empathie und Distanz beschreiben sie die immer noch eindrucksvolle Vitalität des Landes ebenso wie verkrampfte Intelligenzija-Debatten, lobt Schlögel. In der FAZ ist Kerstin Holm besonders beeindruckt von John Steinbecks Haltung, die sich durch Objektivität, Neugier, Nüchternheit und Humor auszeichne.

Daniel Jütte
Das Zeitalter des Geheimnisses
Juden, Christen und die Ökonomie des Geheimen (1400-1800)
Vandenhoeck und Ruprecht Verlag, Göttingen 2011, 420 Seiten, 54,95 Euro



Daniel Jütte scheint einen faszinierenden Einblick in einen unbekannten Asekt der frühen Neugeschichte zu liefern. Es war die Zeit der Entdeckungen - und seltsamerweise auch der Gehimniskrämerei. Und sehr häufig, so scheint es, spielten Juden darin eine Rolle, vielleicht weil sie von Geheimnisträgern als besonders verschwiegene Übermittler und Händler der Geheimnisse angesehen wurden. Am konzentriertesten blickt Jütte dabei auf den "Hofingenieur, Mathematiker, Alchemisten, Pulverhersteller, Kryptologen, Magus und Händler von Luxusgütern" Abramo Colorni, einem legendären "professore de' secreti" im 16. Jahrhundert, erfahren wir aus der Rezension Urs Hafners in der NZZ. Hafner lobt wie David Motadel in der SZ die höchst angenehme Lesbarkeit des (leider nicht ganz billigen) Buchs und nimmt daraus eine "Neubewertung des Verhältnisses von christlichen und jüdischen Wissenskulturen" in der europöischen Geschichte mit. Da Daniel Jütte stark aus venezianischen Quellen schöpft, sei an dieser Stelle noch Peter Ackroyds Biografie der Stadt Venedig empfohlen, die laut Hans-Albrecht Koch in der NZZ lebendig geschrieben, aber leider allzu oberflächlich dokumentiert ist.