Efeu - Die Kulturrundschau
Sagte sie 'Samarkand' zur Scheidewand
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Bühne

SZ-Kritikerin Christine Dössel lässt sich am Theater Bonn von Volker Lösch und Christine Lang in ein "House of Horror" treiben, in die Keller eines Theaterbetriebs, der Frauen auf der Bühne am liebsten vergewaltigt, vergiftet, ersticht, missbraucht, opfert, in den Selbstmord oder den Wahnsinn treibt. "75 Prozent aller Stücke an deutschen Theatern sind von männlichen Autoren, 70 Prozent aller Inszenierungen von männlichen Regisseuren, 78 Prozent der Theater haben männliche Intendanten", lernt sie. "Und die Frauen? Auch Frauen haben geschrieben, erfahren wir in Löschs feministischem Lehrtheater, nur wurde ihr kulturelles Vermächtnis ausgelöscht. Von 'geistigem Genozid' ist die Rede. ... So interessant und berechtigt dieser Diskurs ist - die Fakten und Thesen in chorischer Deklamation vor den Latz geknallt zu kriegen, ist schon auch penetrant und hat etwas unangenehm Agitprophaftes. Mehr von den komischen, spielerischen Szenen hätten dem Abend gutgetan."
Wenn im Theater die Abrechnung mit den Männern aussieht, wie in Katja Brunners Stück "Die Hand ist ein einsamer Jäger", das Pınar Karabulut in der Berliner Volksbühne inszeniert hat, dann möchte NZZ-Kritiker Bernd Noack davon lieber nichts wissen. "Da leuchteten rosa Turnhöschen, und der böse Scholli kriegte sein Fett ab; da wurde das Bulimie-Speiben zur Abrechnung mit allem, was nach Unterdrückung riecht, und weil frau sie so liebhat, sagte sie 'Samarkand' zur Scheidewand. Im Groben und Ganzen war das schlicht und gipfelte grüblerisch im Sinnsträubenden: Steht nicht jeder Stern dort oben am Himmelszelt für eine in der Ehe geschlagene Frau? Nein, steht er nicht! Aber Karabulut zelebrierte das trotzdem wie ein überdrehtes Weiber-Weihespiel für fünf dem Chaos ergebene junge Darsteller (zwei davon Männer mit Damenfrisur), die sich zwischen Psychedelic und Klamauk so wohl fühlten wie im Möbelhaus-Kinderland." Stefan Puchers Inszenierung der "Lulu", ebenfalls an der Volksbühne, hat ihm auch nicht besser gefallen.
Besprochen werden außerdem Enis Macis "Mitwisser" und der Mülheim-Gewinner "atlas" von Thomas Köck bei den Berliner Autorentheatertagen (taz, FR) - gegen letzteres hat in Berlin eine Gruppe asiatisch-deutscher KünstlerInnen, die aber anonym bleiben wollen, in einem offenen Brief gegen ein Berliner Gastspiel des preisgekrönten Theaterstücks "Atlas" des Schauspielhauses Leipzig protestiert, berichtet Marina Mai in der taz. Das Stück erzählt die Geschichte einer vietnamesischen Migrantenfamilie über drei Generationen vor dem Hintergrund der Leipziger Wendeereignisse. "'Das Stück wurde ausschließlich von weißen Menschen geschrieben, inszeniert und gespielt', heißt es in dem Protestbrief - sowie Massenets "Don Quichotte" und Verdis "Rigoletto" an der Deutschen Oper und der Staatsoper Unter den Linden in Berlin (FAZ).
Musik
Auch SpOn-Kritiker Andreas Borcholte ist entsetzt: "Die Zeiten, in denen Madonna musikalische Untergrund- oder Szenetrends mit ihrer Pop-Allmacht in den Mainstream katapultierte, sind vorbei", seufzt er. "Es braucht keine Superstars wie Madonna mehr, die als weltmusikalische Empfänger und Verstärker fungieren. Wenn Madonna sich also auf einigen Stücken von 'Madame X' einen kurios vernuschelten Trap-Rap-Singsang mit Autotune-Effekt aneignet, wie es im aktuellen afroamerikanischen Pop gerade üblich ist, dann entlarvt sich diese altgediente Methode des kulturellen Samplings als anmaßend und überholt, wenn nicht gar lächerlich."
Was Klarheit angeht und Formulierungskunst, sind Madonnas Botschaften den Journalistentexten allerdings überlegen. Nachdem die New York Times sie für ihr Magazin unter der Überschrift "Madonna mit Sechzig" porträtiert hatte, erklärte Madonna auf Instagram, sie fühle sich vergewaltigt, meldet CNN: "'The journalist who wrote this article spent days and hours and months with me and was invited into a world which many people dont get to see, but chose to focus on trivial and superficial matters such as the ethnicity of my stand in or the fabric of my curtains and never ending comments about my age which would never have been mentioned had I been a MAN!' Madonna wrote. 'Women have a really hard time being the champions of other women even if. they are posing as intellectual feminists. Im sorry i spent 5 minutes with her. It makes me feel raped. And yes I'm allowed to use that analogy having been raped at the age of 19. Further proof that the venerable N.Y.T. Is one of the founding fathers of the Patriarchy. And I say--DEATH TO THE PATRIARCHY woven deep into the fabric of Society. I will never stop fighting to eradicate it.'"
Hier das neue Video zum Reinhören:
Bei den Münchner Konzerten von Frank Peter Zimmermann und Hilary Hahn verfällt SZ-Kritiker Reinhard J. Brembeck ins Philosophieren darüber, welche Bedeutung der Bekleidung eines Musikers für den Abend beikommt: "Anzug und im höheren Maße das Abendkleid sind eine Maske, die den Musikermenschen und seine Verletzlichkeit vor der Neugier des Publikums schützen soll. Dies steht im Widerspruch zum heute gängigen Musikverständnis, das ja vom Interpreten fordert, dass er sein Eigenstes und Intimstes vermittels einer nicht von ihm komponierten Musik ins gleißende Licht der Öffentlichkeit katapultieren soll. Dieser Anspruch ist verkehrt, weil er die völlige psychische Entkleidung des Musikers fordert, um Erfolg haben zu können."
Eigentlich muss man Morrissey dafür dankbar sein, dass er nach seinem langen, im Grunde schon in den 80ern eingeschlagenen Weg von Linksaußen nach Rechtsaußen heute nun endlich frei von der Leber weg zu seinen Positionen steht, meint Dennis Pohl in der Spex. Denn was dem Musiker damit hervorragend glückt: Zu "zeigen, wie krude die Argumente, wie fehlerhaft die Logik und wie selbstgerecht die Haltung hinter der selbsternannten Rebellion ist. ... Wer den Weg der öffentlichen Person Morrissey verfolgt, kann also die Entwicklungen einer ganzen Gesellschaft im Kleinen nachvollziehen. Und dabei lernen, dass es sich hier keinesfalls um ein Auflehnen gegen irgendein Establishment handelt, sondern um die Befriedigung eines kollektiven Märtyrer-Syndroms. Um keine Rebellion, sondern um das Beweinen eines fiktiven Gestern."
Weitere Artikel: Unter anderem die Presse meldet den Tod der Blueslegende Dr. John. Sein größter Hit war "Right Place Wrong Time":
Besprochen werden Erykah Badus Berliner Auftritt (taz, Tagesspiegel), ein Konzert der Smashing Pumpkins (Berliner Zeitung, Tagesspiegel), Piotr Beczalas Konzert mit Pianist Helmut Deutsch im Wiener Musikverein (Standard), ein Konzert von Udo Lindenberg (FR), das neue Album von Caetano Veloso (Presse), das Zürcher Konzert der Eagles (NZZ) und die von Steve Goodman, Toby Heys und Eleni Ikoniadou herausgegebene Aufsatzsammlung "Audint - Unsound : Undead", die taz-Kritiker Julian Weber in höchste, glückselige Aufregung versetzt: "Spannender wird der Popdiskurs diese Saison nicht."
Architektur
Literatur
Weitere Artikel: Oliver Jungen berichtet in der FAZ von Kathrin Rögglas Auftakt als Translit-Dozentin in Köln: Die Autorin "erklärte in einem dichten, tänzerischen Vortrag den Elefanten im Raum zu ihrem Hauptforschungsinteresse, also das inmitten der 'Quasselgesellschaft' Unaussprechliche, Angstbesetzte, aber doch mit träger Masse der freien Rede im Weg Stehende."
Besprochen werden Hélène Cixous "Meine Homère ist tot..." (SZ), Marc Augés "Das Glück des Augenblicks. Liebeserklärung an den Moment" und Michel Serres' "Was genau war früher besser? Ein optimistischer Wutanfall" (NZZ), die Ausstellung ""Lachen.Kabarett" im Literaturmuseum der Moderne in Marbach (FAZ) sowie Ursula Otts "Das Haus meiner Eltern hat viele Räume" (FAZ).
Film
Wie wirkt sich eine radikal verschiebende Medienlandschaft auf die Ausbildung an den Filmhochschulen aus? Um solche Fragestellungen kreist das große FAZ-Gespräch mit Thomas Schadt, dem Direktor der Filmakademie Baden-Württemberg. Natürlich sind die öffentlich-rechtlichen Sender immer noch ein aussichtsreicher späterer Auftraggeber, erklärt er, aber "die Streamingdienste setzen ein unglaubliches Geld frei, das zum Teil (...) auch bei uns, in Europa und Deutschland, landet. Dieses System funktioniert ganz anders. Es gibt kein Redaktionswesen, alles erscheint zunächst einmal vollkommen frei und führt im Idealfall zu einem Film wie dem Oscar-Gewinner 'Roma'. Das scheint mir aber der Einzelfall zu sein. In der Breite, wenn man sich die Programmprofile anschaut, erkennt man jedoch Merkmale für Serien und Filme, die wesentlich formatierter gefasst sein können als im öffentlich-rechtlichen System."
Besprochen werden Lee Chang-dongs "Burning" (Presse, FAZ, mehr dazu bereits hier), Dominik Grafs von Arte online gestellter Film "Hanne" mit Iris Berben (Berliner Zeitung, Tagesspiegel, Hanns-Georg Rodek verspricht in der Welt ein Remake von Agnès Vardas "Cleo"), Tommy Gulliksens Dokumentarfilm "War of Art" (Welt) und der neue "X-Men"-Superheldenfilm (Tagesspiegel, SZ).
Kunst

Weiteres: Michael Wurmitzer berichtet im Standard von der Debatte über moralisches und unmoralisches Kunstsponsoring, die derzeit in den USA und Großbritannien geführt wird. Sophia Zessnik berichtet in der taz von einer Diskussion über Netzfeminismus mit Annekathrin Kohout und Kathrin Weßling im Berliner Kindl Zentrum für zeitgenössische Kunst.
Besprochen werden eine Ausstellung der pakistanischen Künstlerin Bani Abidi im Berliner Martin-Gropius-Bau (Tagesspiegel) und die Ausstellung "Le modèle noir" im Pariser Musee D'Orsay (taz).