Essay

Der Druck der nächsten feinen Sache

Von Florian Kessler
10.09.2014. Neben dem Deutschen Buchpreis wirbt in Frankfurt auch die "Hotlist" der unabhängigen Verlage mit alternativen Lektüren um Aufmerksamkeit: Ein Streitgespräch zwischen Daniela Seel und Axel von Ernst über die Vermittlung von Literatur in Zeiten radikalen Wandels. Moderiert
Das bisschen Feuilletonstreit um den Deutschen Buchpreis ist auch nicht alles. Letztlich berührten die Debattenbeiträge ein viel größeres Thema: Die Frage, nach welchen Grundprinzipien Literatur einer größeren Öffentlichkeit nahegebracht werden soll. Auf der Frankfurter Buchmesse wird Mitte Oktober nicht bloß der Deutsche Buchpreis mit seinem Alleinstellungsanspruch vergeben, sondern auch die vielfältigere "Hotlist" der unabhängigen Verlage vorgestellt. Kann es ein Marketing für Vielfalt geben? Und sollte es das, wirklich?

Ein Streitgespräch mit Daniela Seel, Verlegerin des "Labors für Poesie als Lebensform" kookbooks, und Axel von Ernst, Verleger des auf Entdeckungen unter anderem aus der klassischen Moderne spezialisierten Lilienfeld Verlages. Die Fragen stellt Florian Kessler.

Axel von Ernst, du bist einer der Organisatoren der Hotlist, bei der Internetwähler und eine Jury gemeinsam zehn Bücher nominieren, die in unabhängigen Verlagen veröffentlicht wurden. In diesem Jahr haben bereits 143 Verlage Vorschläge dazu eingeschickt. Erfunden wurde die Liste 2009 als eine Art Konkurrenz zum "Deutschen Buchpreis", der vom Börsenverein vergeben wird. Warum finden derart viele unabhängige Verlage, dass sie sich auf eigene Weise präsentieren müssen?

Axel von Ernst: Die Hotlist wurde nicht als Konkurrenz zum Buchpreis gegründet, sie hat sich beispielsweise nie auf Romane beschränkt. Aber sie sollte signalhaft auf einen Missstand dort hinweisen, nämlich die fast vollständige Dominanz von Konzernverlagen. Das Signal ist seinerzeit auch angekommen: Inzwischen hat es mehrfach Romane aus einem unabhängigen Verlag als Buchpreisgewinner gegeben. Die Umstände, die zu dem Missstand geführt hatten und auch heute noch für ein sehr auffälliges Übergewicht der "Großen" bei der Longlist zum Buchpreis sorgen, sind aber weiterhin da: Die Unabhängigen haben einzeln schlicht nicht das Werbe-, Marketing- und Kontaktmanagementpotenzial, um für ihre Bücher eine "öffentliche Bedeutung" zu generieren, die weit genug vordringt. Die Hotlist ist eines der ganz wenigen Instrumente, um dagegenzuhalten. Und die Verlage, die am Wettbewerb teilnehmen, unterstützen das.

Daniela Seel, das klingt doch sinnvoll, wenn die vielen verschiedenen unabhängigen Verlage den Möglichkeiten der großen Verlagskonzerne gemeinsam etwas entgegensetzen. Du beteiligst dich mit deinem Verlag kookbooks an der Hotlist, hast aber dennoch auch Kritik an ihrer Funktionsweise geäußert. Wo liegt das Problem?

Daniela Seel: Bei ihrer Gründung war die Hotlist ein wildes, anarchisches, humorvolles Ding, das gerade durch die willkürliche, nichtrepräsentative Herangehensweise auch als Kritik wirkte. Zwanzig zufällige Indie-Verlage nominierten zwanzig zufällige Titel aus ihren sehr unterschiedlichen Programmen. Seit es aber darum geht, die Hotlist als ernstes alternatives Instrument zu verstetigen, das auf die Vielfalt und Potenziale der unabhängigen Verlage aufmerksam machen soll, plagt sie sich mit denselben Marktmechanismen wie der Deutsche Buchpreis oder der Preis der Leipziger Buchmesse. Die Titel sollen möglichst breit rezipiert, der Gewinner zum Bestseller werden. Weil es aber keine verschiedenen Kategorien wie Essay, Lyrik, Kinderbuch und so weiter gibt, tendieren die Verlage selbst wie auch die Jury dazu, das vermeintlich Marktgängige einzureichen beziehungsweise auszuzeichnen. Also oft Bücher, die bislang vielleicht zu Unrecht übersehen wurden, die aber genauso gut auf den Listen in Frankfurt oder Leipzig - wo auch Übersetzungen und Sachbücher ausgezeichnet werden und Kurzgeschichten zugelassen sind - stehen könnten. Gewonnen hat immer knackig erzählte Prosa (nur der Melusine-Huss-Preis der Buchhändler ging 2012 einmal an eine illustrierte Fassung von Robert Louis Stevensons "Der Pirat und der Apotheker"). So macht die Hotlist sich selbst zur kleineren Kopie der Großen und trägt mit zur Verengung des Literaturverständnisses bei. Was eigentlich nötig wäre, nämlich auf eine Vermittlung gerade des Sperrigeren hinzuwirken, sich für andere literarische Formen und auch komplexer gestaltete Bücher stark zu machen, die nicht so leicht schubladisiert werden können, findet viel zu wenig statt.

Aber wie könnte denn Sperriges aus 143 unabhängigen Verlagen gleichermaßen angemessen vermittelt werden? Muss man nicht Kompromisse in Kauf nehmen, wenn man eine größere Öffentlichkeit anstrebt?

Daniela Seel: Man erreicht ja keine größere Öffentlichkeit, indem man einfach ein Preis-Schild aufklebt. Sondern man muss Anregungen schaffen, sich mit etwas auseinandersetzen zu wollen. Kontexte, in denen ein Text anwendbar wird, nicht bloß konsumierbar. Überhaupt wieder zeitgenössische Kriterien dafür entwickeln, was Literatur heute tun kann, außer halt eine Geschichte erzählen. Vielen Buchhändler*innen, Kritiker*innen, Leser*innen, auch Leuten in den Verlagen, fehlt schlicht der Umgang mit weniger oder anders narrativen Texten. Kritiken sind oft nicht viel mehr als Nacherzählungen, Klappentexte nichtssagende Lobplapperei, Empfehlungen beruhen auf Algorithmen. Das alles trägt zu einer furchtbaren Verharmlosung von Literatur bei. Statt also bloß eine weitere Kauf-mich-Liste hinzustellen, müsste man viel weitreichender zugleich neugierig machen und zum Weiterdenken anregen. Das könnten Interviews mit Übersetzer*innen sein oder die Vorstellung von Gestaltungskonzepten, Rechercheberichte der Autor*innen, Einblicke ins Lektorat, Streitgespräche, Analysen, ein Videotagebuch der Jury und völlig andere, unverhoffte Formate - oder auch ganz einfach die Frage: Was kann ich damit tun in meinem Leben? Der Hotlist-Blog ist hierfür ein guter Anfang, aber eben erst ein Anfang.

Axel von Ernst: Seit 2009 ging es bei der Hotlist darum, dauerhaft ein möglichst offenes Instrument zu schaffen, das Qualität und Vielfalt präsentieren soll. Dafür haben wir einen Verein gegründet, neutrale Gremien und demokratische Formen geschaffen - viel Arbeit für wenige Menschen, die sich die Zeit dafür nehmen. Als das Schwierigste erweist es sich dabei fortwährend, aus den Köpfen zu bekommen, dass die Hotlist mit dem Deutschen Buchpreis zu tun hätte. Die Hotlist ist keine Shortlist, sondern ganz einfach DIE Hotlist, eine vielgestaltige Auswahl der besten Bücher des Jahres aus unabhängigen Verlagen. Unser Ziel ist dem des Buchpreises vollkommen entgegengesetzt: Es geht nicht um die verkaufsanregende Bewerbung eines einzelnen Titels, sondern um die Präsentation der Qualität und Vielfalt eines großen Teils der Buchwelt, der zu sehr im Schatten eines aufgeplusterten Marktes liegt. Nichts gegen Kauf-mich-Listen also, vielleicht braucht es bloß noch mehr in vielfältigen bisher nicht gelisteten Kategorien. Und Verkaufen schließlich empfinde ich in unseren sehr bescheidenen Kreisen ganz und gar nicht als Schande. Im Grunde betreiben wir Independents doch meistens nichts weiter als Crowdfunding gegen Buchabgabe für das Überleben des Verlages und den Druck der nächsten feinen Sache.

Daniela Seel: Schon das Label "beste" - beste Bücher, bester Roman, was auch immer - finde ich eine fahrlässige Abkürzung. Solche Attribute haben ihre Qualitätskerne eingebüßt. Sie sind heute Zeichen von Boulevardisierung, markieren Interessenkonflikte und Lobbyismen. Man kann das nicht zurückholen. Im Sinne einer Demokratisierung von Beurteilung ist das natürlich gut, es erfordert aber auch eine neue Kriterienentwicklung, und genau solche Auseinandersetzungen müssen wir führen. Um es noch mal grundsätzlicher zu fassen: Wir erleben zurzeit eine unglaubliche Erosion gewachsener Infrastrukturen und Instrumente von Vermittlung. Aber Literatur versteht sich eben oft nicht von selbst. Schon gar nicht Literatur, die anderes will als eine Geschichte erzählen. Für Vereinfachungen und Kapitalisierungen braucht es uns nicht, die finden ohnehin statt. Es braucht uns gerade für das Widerständige, Sperrige, nicht unmittelbar Zugängige, das nicht schon Gewusste und Bekannte. Wenn wir dafür heute keine erneuerten Anwendungen vorstellen können, wird es verschwinden.

Axel von Ernst: Wenn es nur das wäre. Leider ist längst viel mehr betroffen als nur das wirklich Schwierige, das ja immer schon besonderen Beistand brauchte. Aber ich kann nicht alles gleichzeitig erreichen. Wenn es durch die Hotlist gelingt, für Bücher Aufmerksamkeit zu erregen, die auf anderen Listen einen Platz verdient hätten, ihn aber nicht bekamen, nur weil vielleicht der Verlag nicht in aller Munde ist, dann ist schon Gutes erreicht. Wie schon gesagt, geht es dabei nicht nur um "Sieger". Dass sich Markt und Presse darauf konzentrieren, ist aber auch nichts Schlechtes. Eher geht es um den Erfahrungsprozess, dass sich Gutes auch verkaufen, unterbringen, besprechen lässt, weil tausende Menschen entgegen den Klischees, mit denen im Kopf die Kulturwelt vorauseilend an ihren eigenen Ästen sägt, Gutes haben und lesen wollen. Ich bin allerdings etwas im Zweifel, ob die dreißig Jahre alten Prosastücke eines norwegischen Selbstmörders zum Thema Depression (dafür wurde der Droschl Verlag 2012 ausgezeichnet) oder die kurze und einzige veröffentlichte Erzählung eines russischen Kunstwissenschaftlers aus den 1940er Jahren (Hauptpreis an den Weidle Verlag 2013) wirklich von Markt und Medien als "marktgängig" und "knackig" angesehen werden, wie du das beschreibst, Daniela. Aus der Sicht der Lyrikverlegerin sind sie es, aus meiner Sichtweise heraus auch - aber sehr viele müssen davon erst überzeugt werden. Auch eine Aufgabe der Hotlist. Die Hotlist könnte mit ihrem wachsenden Erfolg eine Grundlage sein, von der aus insgesamt mehr probiert wird, wie du das forderst: mehr Aktion, mehr Hervorhebungen von Besonderem, vielleicht als weitere Preise, vielleicht auf andere Art. Aber wer tut es? Schöne Vorschläge und leicht indignierte Forderungen erhalte ich regelmäßig. Und meine Antwort ist immer die gleiche: Die Hotlist wird bereits jetzt fast ohne finanzielle Mittel (wir erhalten nur eine "Großspende" von 3.000 Euro im Jahr, schon der Hauptpreis ist aber 5.000 Euro schwer) und extrem selbstaufopfernd von zu wenigen Menschen betrieben. Mehr als das, was wir mit Hängen und Würgen jedes Jahr auf die Beine stellen, ist nicht zu machen. Aber: Die Hotlist ist kein exklusiver Club! Kommt mit Euren Ideen und baut sie an! Wir freuen uns über jeden Zuwachs, jede Neuerung, jede Verbesserung, jede weitere Aktion!

Geht es bei dieser Diskussion nicht auch darum, was für eine Öffentlichkeit überhaupt erreicht werden soll? Aus immer neuen Nischen hört man die Klage über eine Mangelleistung gewachsener Infrastrukturen und Vermittlungsinstrumente - ist solches Klagen nicht einfach nur entlastend, solange nicht dazugesagt wird, dass längst viel mehr Möglichkeiten von Vermittlung dazugekommen sind? Gerade das Auftauchen der vielen neuen hochspezialisierten Independent-Verlage mit jeweils eigenem Fachpublikum ist doch ein Beweis für diesen doch wohl auch begrüßenswerten Strukturwandel?

Daniela Seel: Das hast du treffend formuliert: "immer neue Nischen". In dieser Wahrnehmung ist schon angelegt, dass es sich ja nur um Tätigkeiten von ein paar Abseitigen handelt, nichts gesellschaftlich Relevantes, nichts, womit "ich" mich beschäftigen müsste. Und das ist eine absolut fatale Entwicklung. Dass viele Indie-Verlage - oder auch Indie-Autor*innen - erfolgreich eigene Formate und Orte von Vermittlung aufgebaut haben und ihre Communities pflegen, ist nicht nur Selbstermächtigung, sondern auch Selbstverteidigung aus Not. Das einfach begrüßenswerten Strukturwandel zu nennen, verkennt die damit verbundene Prekarität. Diese Communities stellen heute Inhalte, Veranstaltungen, Feuilletons, Märkte, Kritik und so weiter selbst her und organisieren sie - meist völlig unbezahlt. Und ich meine hier hoch kompetente, gut ausgebildete Leute. Die Branche, überhaupt die Gesellschaft hat auf diese Entwicklung noch kaum Antworten gefunden. Die Abdrängung in "Nischen" ist durchaus ein Symptom von Verdrängung im doppelten Sinn. Dabei steht die Erosion traditioneller Literaturvermittlung, durch Zeitungskritik, Buchhandel, Schullektüre und so weiter, ja gerade erst am Anfang. Vielleicht wird es in zehn Jahren kaum noch Auflagen über 1000 Exemplare geben oder Kritiken mit einer höheren Reichweite, und die verbliebenen Gewinne landen fast vollständig bei Onlinekonzernen und Geräteherstellern. Umso wichtiger wäre es, jetzt alternative, zukunftsfähige Instrumente zu erfinden und ins Gespräch zu bringen - überhaupt als Akteure in diesem Wandel zu handeln statt sich von ihm treiben zu lassen - , gerne auch mit erweiterten Hotlist-Werkzeugen. Weiter bloß die gerade publizierten Bücher möglichst vielen Menschen verkaufen zu wollen, riecht jedenfalls nach Paralysierung durch Panik und greift nach allen Seiten zu kurz. Und gerade die Indie-Verlage als Fachstellen für Inhalte und Sperriges haben hier doch Kompetenzen einzubringen, die viele größere Verlage in ihren ökonomischen Rückzugsgefechten und ihrer Konzentration auf Marketingfragen schon längst eingebüßt haben.

Die Bezeichnung "Nische" für Erweiterungen des etablierten Raumes finde ich erstmal überhaupt nicht schlimm. Als letzte Frage würde mich jetzt aber interessieren: Was gab es denn in den letzten Jahren neben der Hotlist an in euren Augen gelungenen Vermittlungsideen? Habt ihr Beispiele?

Daniela Seel
: Ich bin großer Fan des Literaturhauses Lettrétage in Berlin, dessen Projekte - etwa das internationale Festival "SOUNDOUT! New Ways of Presenting Literature" im Frühjahr oder aktuell "¿Comment! Lesen ist schreiben ist lesen" - immer wieder begeisternd und wegweisend sind. Und ganz elementar bleiben natürlich die Schreibwerkstätten für Jugendliche - etwa Schreibzimmer in Frankfurt, open poems in Berlin, die bundesweiten Workhops von lyrix -, weil sie Räume und Anlässe schaffen, um ohne Bewertungsdruck über Schreiben und Lesen nachdenken, sich austauschen und sie eigenständig aktiv statt bloß konsumierend oder paukend einüben zu können.

Axel von Ernst: Mir fällt als Beispiel der Indiebookday ein, eine erfolgreiche Erfindung des mairisch Verlags, und das Independence Dinner in Leipzig, ein Zusammentreffen wechselnder unabhängiger Verlage mit Medienmenschen. Mein Hauptziel in nächster Zeit ist aber die notwendige Erweiterung des Förderkreises der Hotlist. Für fünf Euro im Monat garantiert man das Überleben der Sache, vor allem aber unterstützt man auch meinen heimlichen kleinen Lieblingspreis der Hotlist: Alle Förderkreismitglieder, zurzeit sind es nur 60, erhalten als Jahresgabe ein unabhängiges Buch, das der Verein einkauft. Das ist durchaus auch eine Art pragmatische Verkaufsankurbelung, aber solche kleinen Schritte führen eben zur nächsten großen Sache.