Essay

Im Kern kulturrelativistisch

Von Peter Mathews
16.11.2021. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat eine Anthologie herausgegeben, in der die Heroen und Heroinnen der demokratischen Idee aus dem 19. Jahrhundert gewürdigt werden. Aber so sympathisch das Anliegen, man spürt doch die Absicht: Ein Anthologie entpolitisiert die Geschichte, reduziert sie auf Einzelschicksale und stellt alles ins milde Licht der Diversity. Was fehlt sind nicht nur einige Protagonisten wie Ludig Börne oder Ferdinand Lassalle. Was fehlt, sind der Rahmen und auch die Genealogie der problematischen Linien deutscher Politik.
"Die geringe Wertschätzung für unsere Demokratiegeschichte liegt freilich nicht etwa daran, dass die deutsche Erinnerungskultur heute stark von der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus geprägt ist. Im Gegenteil. Die Aufarbeitung der NS-Verbrechen bleibt ein unverzichtbarer Teil demokratischer Selbstbesinnung. Die Gründe liegen vielmehr weiter zurück und sind gerade in jenen historischen Entwicklungssträngen zu finden, die maßgeblich zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts geführt haben." schreibt Frank-Walter Steinmeier im Vorwort  zu dem von ihm herausgegebenen Band über die "Wegbereiter der deutschen Demokratie".

Unbestritten ist, dass die Geschichte der demokratischen Entwicklung auf deutschem Boden im 19. Jahrhundert ein Schattendasein in der öffentlichen Wahrnehmung, in der Forschung und der Vermittlung an Schulen fristet. Kaum ein Abiturient wird mit Fragen der "Presszensur" im Vormärz oder Bismarcks Kulturkampf behelligt, kaum eine der Figuren der 48er Revolution ist als Vorbild präsent. Und auch wird die Ambivalenz des Strebens nach Freiheit und Einheit auf der einen und des Nationalismus auf der anderen selten historisch hergeleitet. Und wer weiß schon, dass der Überwachungsstaat bereits seit den 1830er Jahren von Metternich im Verbund von Österreich, Russland und dem Deutschen Bund installiert wurde und Zensur und Verfolgung  die demokratische Bewegung lähmte.

Umso verdienstvoller erscheint es, wenn der erste Repräsentant unserer Demokratie, der amtierende Bundespräsident sich des Themas annimmt und in einer Anthologie "dreißig mutige Frauen und Männer" der frühen Demokratiebewegung porträtieren lässt. Wenn der Bundespräsident einlädt, ist es nicht irgendein Buch eines Politiker, sondern, so kann man unterstellen, ein bewusstes politisches Statement. Es reiht sich politisch wie terminlich ein in eine Reihe von Aktivitäten, wie die der von Steinmeier initiierten Neugestaltung der Paulskirche in Frankfurt oder dem Gedenken an den dreifachen 9. November. Und wenn der erste Mann des Staates einlädt, kann man sicher sein, dass die erste Reihe der Historikerzunft, Presse und Politik ihren Beitrag liefert. Wir können unter anderem Beiträge von Christopher Clark, Norbert Lammert und Heribert Prantl, sowie einem Dutzend Professoren wie Herfried Münkler oder Paul Nolte lesen. Und so ist auch klar, dass in diesem Buch niemand zufällig gewürdigt oder übersehen wurde. Der Herausgeber beugt trotzdem vor:  "Dieses Buch (...) soll kein Kanon sein." und  "Wer eine demokratische Walhalla voller Heldinnen und Helden erwartet, wird enttäuscht sein."(22). Und doch ist in der Auswahl und im Verzicht auf Personen und Ereignisse eine Absicht herauszulesen, uns eine bestimmte Sicht auf die Geschichte nahezulegen.

Die Demokratiebewegung des 19. Jahrhunderts, gliedert sich in dem Buch in vier Kapitel, die durch Biografien illustriert werden: Die Mainzer Republik von 1793 und frühe Demokraten / Das Hambacher Fest 1832 und der Vormärz / Die Revolution 1848 und das Parlament in der Paulskirche / Reichsgründung 1870 und Kaiserreich. Sicherlich Marksteine der Geschichte.

Aber wenn die Ursachen für die Katastrophen des Landes, wie Nationalismus , Antisemitismus, Überwachungsstaat et cetera  aufgearbeitet werden sollen, fehlen Ereignisse wie das problematische und ambivalente Wartburgfest von 1817, wo erstmals unter anderem über die Einheit der Nation gestritten wurde und die Farben Schwarz-Rot-Gold auftauchten, die später in Hambach und im Frankfurter Bundestag als wichtig erachtet wurden. Warum nicht ein Kapitel über die Karlsbader Beschlüsse von 1819, die die jahrelange sogenannte "Demagogenverfolgung" zur Folge hatten? Warum fehlen so ganz die Aktiven des Jungen Deutschland und Jungen Europas um 1834, die über den Nationalstaat hinaus, und als erste europäisch dachten? Kein Beitrag über das Mainzer Informationsbureau ab 1833, mit dem Metternich den Deutschen Bund als Überwachungsstaat etablierte, der über das Kaiserreich, des NS-Staat bis zur Stasi Nachfolger fand. Warum nichts über den Kulturkampf, um die heute noch aktuelle Frage der Trennung von Staat und Kirche zu diskutieren, warum nichts über die Veränderung von Arbeit, die Wirkungen der Industrialisierung auf die Entwicklung von Bürgertum und Arbeiterschaft?  

Stattdessen die Reduzierung der Geschichte auf bemerkenswerte Frauen und Männer. Ohne Zweifel, jedes Porträt dieses Buches ist berechtigt, jede Biografie beeindruckend, auch wenn mancher Beitrag staubtrocken lexikalisch daherkommt. Die Spannweite der Porträtierten ist enorm.  Von dem Weltreisenden und Kopf der Mainzer Republik Georg Forster hat man schon gelesen, wie auch von Robert Blum, Georg Herwegh, August Bebel, weniger von Gabriel Riesser, den Anwalt der Rechte der Juden, oder den Parlamentarier Ludwig Windthorst (1812-1891) , den Norbert Lammert in seinem Beitrag als "schärfsten politischen Kopf" im Reichstag charakterisiert. Besonderer Wert wurde bei der Auswahl auf die Frauen gelegt. Die von Barbara  Sichtermann entdeckte zigarrenrauchende und hosentragende Louise Aston (1805-1877) gehört dabei zu den politisch Unkorrekten,  bei den anderen ist es fast rührend zu lesen, wie sie von den Porträtierenden jede für sich zur Begründerin der Frauenbewegung ernannt  werden.

Da der Band dreißig Personen aus 130 Jahren auswählt, gibt es neben den inhaltlichen Doppelungen - die Mainzer Republik erscheint darin wie ein WG-Ereignis -  natürlich auch große Lücken. Vielleicht hätte der Herausgeber, oder ein Historiker mit Überblick wie Jürgen Osterhammel ("Die Verwandlung der Welt - Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts"), die Sache moderieren müssen und die Personen in den zeitlichen wie politischen Kontext stellen sollen, um die Figuren nicht so verloren dastehen zu lassen. Oder, der Gedanke kommt beim Lesen,  es ist so gemeint. Es soll  so die Vermutung, um die gute Sache Demokratie gehen, aber bitte nicht um die Verhältnisse, das System von Herrschaft.

Als Kritiker kommt man leicht in den Verdacht der Besserwisserei, wenn man Fehlstellen benennt. Aber wer die deutsche Demokratiebewegung würdigen will und, um nur einige zu nennen, Heinrich Heine, Ludwig Börne, Georg Büchner, Harro Harring, Friedrich Ludwig Jahn, E.T.A. Hoffmann, Ferdinand Lasalle aus welchen Gründen auch immer übergeht, der gibt ein Mosaik heraus, bei dem die wesentlichen Teile fehlen. Es fehlen nicht nur Personen, sondern es fehlt der Rahmen, der das Ganze zu einem sinnhaften und komplexen Panorama der Zeit und der demokratischen Bewegung macht. Und damit sind wir wieder ganz am Anfang, der Politik, die mit solchen Büchern mittelbar gemacht wird. Das Ergebnis solcher Politik ist der Widerschein von Vielfalt, will sagen, hier die Vieldeutigkeit von Zusammenhängen.

"Diversität ist der Königsweg zu einer gerechten Gesellschaft" sagte Bundespräsident Steinmeier sinngemäß auf der Jahrestagung des Humboldt-Forums im Juni 21. Diversität / Vielfalt ist das angesagte Deutungsnarrativ unpolitischer Politik. Wo alles erlaubt, möglich, gewünscht ist, da kann man den oder die Einzelnen loben, ihre Lebensleistung anerkennen, ohne Zusammenhänge analysieren zu müssen. Von Demokratie bleibt dann nicht viel mehr als eine moralische Instanz.  

Im gleichen diversen Sinne äußerte sich die amtierende Bundeskanzlerin Angela Merkel bei  einem Besuch im Auswandererhaus in Bremerhaven als sie das Ausstellungskonzept des Museums lobte, das Einzelbiografien als Leitfaden der Ausstellung inszeniert. "Sie rücken jeden einzelnen Menschen in den Vordergrund". Was zunächst als sowohl beim Buchkonzept des Bundespräsidenten wie auch in der Rede der Bundeskanzlerin als zutiefst human erscheint, ist im Kern kulturrelativistisch, zwiespältig. Es war, wenn man dieses Konzept zu Ende denkt, nicht die zaristische Despotie, die die Juden aus Russland vertrieb, es war nicht Metternichs Polizei, die Carl Schurz in die USA zu flüchten zwang, es war nicht das Patriarchat, das Frauen an den Herd fesselte, es war nicht der IS, die die Syrer nach Deutschland flüchten ließ -  wir haben es immer nur mit menschlichen Einzelschicksalen zu tun. Um die wir uns kümmern müssen, an die wir uns erinnern sollen.

Es geht in dieser Art von Darstellung nicht mehr um gesellschaftliche Strukturen und Verhältnisse. Vielleicht entsteht die Lücke auch durch das Konzept einer Anthologie. Alles wird heruntergebrochen auf das Einzelschicksal, den Einzeltäter, das einzelne Opfer, den Menschen. So wird Politik moralisiert, der Zusammenhänge und der Tradition beraubt und entpolitisiert. Da wirken dann die mutigen Frauen und Männer wie historische Anziehpuppen vor einer weißen Wand. Das befreit die Politik von der Last der Verantwortung und wird die Erinnerung zur Anekdote. Fazit: Ein Buch wie eine Sonntagsrede. Gut gemeint und schön gesagt.

P.S. Im Schlusswort zieht der Bürgerrechtler Werner Schulz einen kühnen Bogen von Georg Büchner zu Barbara Bohley, von der gescheiterten 1848er zur erfolgreichen 1989er Revolution, "Was 1848/49 scheiterte, gelang 1989: eine friedliche Revolution für Freiheit und Einheit. " Schulz beklagt die folgende Geringschätzung der Leistung der demokratischen Kräfte des Ostens durch den Westen, das Versäumnis, eine deutsche Identität auch durch Symbole zu schaffen. Die schwarz-rot-goldene Trikolore sei ein solches Zeichen, das von Hoffmann von Fallersleben als "Trinklied" ersonnene Lied der Deutschen, die aktuelle Nationalhymne, eher nicht. Er plädiert im letzten Satz des vom Bundespräsidenten herausgegebenen Bandes für eine neue Nationalhymne von Beethoven und Brecht. Ein Schelm wer dies für Zufall hält.
    
Peter Mathews

Frank-Walter Steinmeier (Hg.): Wegbereiter der deutschen Demokratie - 30 mutige Frauen und Männer 1789-1918. München, C.H.Beck  2021. (Bestellen bei eichendorff21)