Essay

Niederträchtige Toleranz

Von Felix Philipp Ingold
14.10.2008. Klar ist doch, dass die Fusion von Kritik und Werbung inzwischen sehr weit fortgeschritten ist. Ein Blick auf den Zustand der Literaturkritik in den aktuellen Leitmedien
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Das alte Lied, immer mal wieder neu intoniert und dennoch wirkungslos geblieben, lautet wie folgt: "Gegen die gewissenlose Tintenklexerei unserer Zeit und gegen die demnach immer höher steigende Sündfluth unnützer und schlechter Bücher sollten die Litteraturzeitungen der Damm sein, indem solche, unbestechbar, gerecht und strenge urtheilend, jedes Machwerk eines Unberufenen, jede Schreiberei, mittelst welcher der leere Kopf dem leeren Beutel zu Hülfe kommen will, folglich wohl neun Zehntel aller Bücher, schonungslos geisselten und dadurch pflichtgemäss dem Schreibekitzel und der Prellerei entgegenarbeiteten, statt solche dadurch zu befördern, dass ihre niederträchtige Toleranz im Bunde steht mit Autor und Verleger, um dem Publiko Zeit und Geld zu rauben."

Einzig die "alterthümliche" Orthographie lässt ahnen, dass es sich bei dem zitierten Text - er entstammt den Notaten "Über Schriftstellerei und Stil" von Arthur Schopenhauer - um ein historisches Dokument aus dem mittleren 19. Jahrhundert handelt. Denn die "Sündfluth" einer obsoleten Buchproduktion und die Unfähigkeit (auch der Unwille) der Literaturkritik, dieser Produktion "gerecht" zu werden, sind heute wie damals zu beklagen, nicht anders als das Gemauschel zwischen Rezensenten und Verlegern oder die unheilige Allianz zwischen Kritik und Publikum, die den allgemeinen Geschmack, mithin den Trend, das Rating zum Qualitätsmaßstab macht.

Kritik und Publikum sind nach wie vor "so einfältig, lieber das Neue, als das Gute zu lesen"; noch immer gilt Schopenhauers prosaische Diagnose, wonach "das Neue selten das Gute" sei, "weil das Gute nur kurze Zeit das Neue" ist, und noch immer hat auch seine Forderung an die "Litteraturzeitungen" als aktuell zu gelten, derzufolge "das Schlechte herabzusetzen Pflicht gegen das Gute" sein müsse, eine Pflicht im übrigen, die ausschließlich "von Leuten" übernommen werden sollte, "in welchen unbestechbare Redlichkeit mit seltenen Kenntnissen und noch seltenerer Urtheilskraft vereint wäre".

Doch wieviele Kritiker solchen Rangs sind hierzuland am Werk? Schopenhauer macht sich darüber keine Illusionen, und er hat sich wohl auch nicht sonderlich beliebt gemacht mit seiner launigen Bestandsaufnahme, die implizit als eine Kampfansage an alles "Platte und Seichte" zu verstehn ist: "Die denkenden Köpfe, die Menschen von richtigem Urtiel und die Leute, denen es Ernst mit der Sache ist, sind alle nur Ausnahmen; die Regel ist überall in der Welt das Geschmeiss ..."


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Was die Literaturkritik heute - hierzuland wie anderweitig auch - gemeinhin vermittelt, ist vorab das, was der Vermittlung eigentlich gar nicht bedarf, da Verlage, Verteiler, Agenturen, Verkäufer diese Funktion weitgehend selbst übernehmen, indem sie Neuerscheinungen noch vor deren Auslieferung auf dem Markt positionieren und durch entsprechende Werbeslogans auch kotieren. Solche Slogans werden im übrigen vorzugsweise aus Rezensionen früherer Bücher der zu bewerbenden Autoren übernommen, wodurch Reklame und Literaturkritik von vornherein in jene problematische, letztlich unstatthafte Gemengelage geraten, die auch schon Schopenhauer als "Unredlichkeit", ja als "Gaunerei" angeprangert hat. Die Grenz- und Kompetenzverwischung zwischen Werbung und Kritik mag für erstere ein Gewinn sein, für letztere bedeutet sie einen massiven Glaubwürdigkeitsverlust, der an sich schon als Krisenphänomen einzustufen ist. Denn klar ist doch, dass die Fusion von Kritik und Werbung inzwischen sehr weit fortgeschritten ist, klar auch, dass die Werbung dadurch an Effizienz gewonnen, die Kritik an Glaubwürdigkeit und Unterscheidungskompetenz verloren hat: eine positive Rezension liest sich üblicherweise wie ein Vorschau- oder Klappentext, und ein Verriss - noch immer die beliebteste Textsorte in diesem Geschäft - beschränkt sich zumeist darauf, nicht erfüllte Erwartungen oder unerwartete Zumutungen zu benennen, wobei kaum je auf künstlerische Kriterien Bezug genommen wird, fast durchweg aber auf jeweils aktuelle Trends und außerliterarische Prämissen.

Demgegenüber hat eine konsequent textorientierte Kritik, die nicht den neuen Handke oder den neuen Walser besichtigt, sondern - ungeachtet von Rang und Namen - deren jeweils neues Werk unter die Leselupe nimmt, einen denkbar schweren Stand und kann nicht damit rechnen, sich im röchelnden Geraune des Tagesfeuilletons Gehör zu verschaffen. Auch stellt sich (wiewohl man die Antwort längst weiß) immer wieder die naive Frage, weshalb der neue X oder die neue Y gleich in der ersten Woche - wenn nicht schon am ersten Tag - nach Erscheinen in allen Feuilletons besprochen werden muss, egal ob es sich dabei um einen Top oder einen Flop handelt, wohingegen schwierigere, "experimentell" oder auch "elitär" genannte Texte, die auf kritische Vermittlung weit mehr angewiesen wären, oftmals unberücksichtigt bleiben oder sich, sehr viel später erst, mit inadäquater Abfertigung begnügen müssen. Auch dieser Missstand scheint zu Schopenhauers Zeit gang und gäbe gewesen zu sein; jedenfalls spricht der Philosoph mit Blick auf die zeitgenössische Literaturkritik von "Koalitionen schlechter Köpfe zum Nichtaufkommenlassen des Guten" und von Schreiberlingen, die damals unbeirrt "das Vortreffliche getadelt und herabgesetzt" hätten, um statt dessen das jeweils Neueste, das nur ganz selten auch das Beste sei, hochzuloben.


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Wenn Julien Gracq der meinungsbildenden Kritik vor einem halben Jahrhundert vorwerfen konnte, einer "Literatur für den Magen" das Wort zu reden, hat dies noch immer - unter mehreren Gesichtspunkten - für das zeitgenössische Rezensionswesen seine Richtigkeit. Der "Magen" steht hier einerseits für Lebensnähe und Welthaltigkeit, anderseits für Bekömmlichkeit, leichte Verdauung sowie positive Wirkung (etwa als Spaß, Spannung, Unterhaltung, Information, Aufklärung, Überraschung usf.) - weder das eine noch das andre hat notwendigerweise mit Literatur als Kunst zu tun, beides könnte auch durch Textsorten wie Essay, Reportage, Autobiografie geleistet werden.

Doch tatsächlich bewegen sich heute literarische Genres wie die Erzählung, der Roman mehrheitlich auf dem außerliterarischen Terrain der Erfahrungsberichtserstattung und damit "hart an der Wirklichkeit", was nicht allein ihre Authentizität, sondern auch ihren Wahrheitssanspruch erhöht, dies bei gleichzeitigem, eben dadurch bedingtem literarischem Qualitätsschwund. Rezensenten scheint das nicht anzufechten; für viele, die meisten von ihnen besteht ein gutes Erzählwerk schlicht aus (Originalzitat:) "Menschen aus Fleisch und lebendiger Prosa", ist mithin ein hybrider Text-Körper, gleichermaßen durchpulst von Menschenblut und Druckerschwärze.

Wo die Lebenswirklichkeit so nah ist, ist auch der literarisch versorgte "Magen" nicht fern, und es darf vom "Sahnehäubchen" oder von der "Kraftnahrung" geredet werden, welche dieser Autor, jene Autorin anzubieten hat, von einem gewaltigen Roman, den man - als Rezensent wie als Leser - "begierig wie kräftigen Mokka schlürft", von grandiosen Erzählungen, die "eindeutig Suchtpotential haben" oder von einer großartigen Autorin, die "eine Sprache für alle Sinne" schreibt, so dass man - Leser oder Rezensent? - "die Klänge auf der Zunge riecht, schaut, fühlt, hört und spürt". So nah am Magen wird keineswegs nur in der literarischen Provinz geschrieben; so liest man's bei wortführenden Kritikern in den großen deutschen Feuilletons. Aber mit der Zunge Klänge zu schauen - soviel Synästhesie ist da wie dort sicherlich zuviel des Guten.

Unmissverständlich lässt sich aus derartigen kulinarischen Empfehlungen schließen, dass die dafür einstehenden Kritiker nur noch über ihren "Geschmack" zu Urteilen kommen, doch sind Geschmacksurteile, wie man weiß, bloße Meinungsäußerungen und als solche nicht zu widerlegen. Jedermann hat, bis zur Geschmacklosigkeit, seinen eignen Geschmack, jeder mag sich seines Geschmacks sicher sein und sich daran erfreuen, aber eine Literaturkritik, die den Geschmack zu ihrem zentralen Kriterium macht und sich damit jeglicher argumentativen Verantwortung entzieht, steht wohl tiefer in der Krise als jene allzu "schwierige" Literatur, die dem rezensentischen Durchschnittsgeschmack nicht zu entsprechen vermag.


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Ich werde mich nachfolgend auf den angestammten Wirkungsbereich der Literaturkritik beschränken, also auf die Presse (Tagesfeuilleton, Literaturbeilagen, Magazine u.a.m.) und auf die dort vorzugsweise eingesetzten Textsorten (Rezension, Sammelbesprechung, Glosse, Jubiläumsartikel usf.). Es geht mir dabei keineswegs um eine objektive Bestandsaufnahme, sondern darum, anhand von aktuellem Beispielmaterial die heute geläufigen Wertvorstellungen, Erwartungen, Forderungen, Präferenzen und Tendenzen deutschsprachiger Literaturkritik repräsentativ zu vergegenwärtigen. Anhand von Dominanten versuche ich, den theoretischen und pragmatischen Status literarischer Kritik auf den Punkt zu bringen, stets im Bewusstsein, dass ich mit Zitaten und nicht mit integralen Texten operiere, in der Überzeugung aber auch, dass die angeführten Fragmente das Textganze (Argumentation, Stil, Kriterien usf.) zumindest ahnen lassen. Wenn ein gutmeinender, originell sich dünkender Rezensent in einem Erzählwerk den "cellobraunen Rumor eines Turboladers" oder den "Geschmack eines kräftigen Bouillons" wahrzunehmen glaubt, ist mit solchen Halbsätzen seine Realitätsnähe ebenso klar belegt wie seine Literaturferne, und man wird sich leicht vorstellen können, unter welchen Prämissen und mit was für Wertvorstellungen hier gearbeitet wird.

Mit Rückgriff auf das überregionale deutschsprachige Feuilleton, dem ich die nachfolgenden Zitate entnehme, würde ich die aktuelle Literaturkritik auf Grund ihres Habitus, d.h. nach ihrer Haltung, ihren Kriterien, ihrer Rhetorik vorläufig in vier Sektionen einteilen.

Erstens: Rezensentinnen, Rezensenten, die sich die Erwartungen und Bedürfnisse literarischer Normalverbraucher zueigen machen und diese gegenüber (oft auch entgegen) den Autoren durchzusetzen versuchen. Vorrangig ist hier der Unterhaltungs- und Spaßfaktor, das heißt die anstrengungsfreie Rezeption von lebensnahen Stoffen mit breitem Identifikationsangebot, wogegen alles Ungewöhnliche, Anspruchsvolle, Experimentelle, Elitäre, Hermetische als zu schwierig abgewiesen wird.
Die Autoren werden als Lieferanten betrachtet, die das Publikum - die zahlende Kundschaft und als solche auch das Elektorat für die Bestseller-Ratings - im Rahmen eines vorgegebnen Erwartungshorizonts zu bedienen haben. Die Erfüllung solcher Erwartungen wird mit Lob bedacht, die Nichterfüllung als Zeichen mangelnder Aktualität und Realitätsnähe getadelt.

Zitate: "NN mischt sich ein. Er benennt Missstände und spricht Wahrheiten aus; sein zentraler Begriff dabei heißt Gerechtigkeit." - "Wer dieses Buch zuklappt, muss kein anderes mehr zum Thema lesen. Alles andere verblasst neben diesem grandiosen und furchterregenden Roman." - "In NN's Roman fängt sich wie in einem Erinnerungsnetz die Welt." - "Wann immer ein guter Schriftsteller in Erscheinung tritt, wird ein neues Fenster zum Leben geöffnet. Das ist hier geschehen." - Im Idealfall begegnen dem Rezensenten die literarischen Figuren vorab schon im Leben: "Dieser Roman enthält ein paar der liebenswertesten und witzigsten Gestalten, die mir je im Leben begegnet sind." - Gut investiert: "Die still-vergnüglichen Lesestunden mit diesem fabulösen Roman wird man nicht bereuen." Und zur Beruhigung des zahlenden Lesers: "NN gehört zu jenen Autoren, die wissen, worüber sie schreiben."

Zweitens: Rezensenten, Rezensentinnen, die auf Gefühliges ansprechen und ihr Angerührtsein als ein "Wunder" kolportieren. Texte dürfen, ja sollen angesichts einer technisch und bürokratisch organisierten Lebenswelt neuerdings wieder "wundersam", "wunderbar", "geheimnisvoll", "märchenhaft", sogar "magisch" sein, woraus dann ihre zutiefst beglückende, ihre unvergessliche, einmalige, stupende oder auch bloß eindrückliche Wirkung auf den Leser sich ergibt, die von Erschütterung bis Verzauberung alle Gemütsregister umfasst.

Zitate: "NN beschreibt nicht, sondern verdichtet in einer melodiösen und wunderbar anschaulichen Sprache." - "NN's Poesie scheint aus einem atmenden Körper heraus geschrieben, man spürt den Leib aus den Versen, seine Trauer, seine Hoffnung, sein Entsetzen, seinen Zorn, jawohl, Gedichte haben mit Emotionen, mit Leidenschaften, mit Fleisch und Blut zu tun." - Ein Großkritiker zu einem Lyrikdebut: "Ungemein bildhaft zarte Gebilde kontemplativer Schauung der Liebe und des Naturschönen." - Oder: "Dieser Roman ist phantastisch erzählt, dabei außerordentlich komisch und vor allem: er besitzt Seele." Ein Roman, der "Seele besitzt"? Ist in der Tat "komisch"! - "NN's Werk ist wie eine Bibel, man kann es über Jahre hinweg mit sich herumtragen, es umspannt die Seele mit sehnsüchtiger Trauer." - "NN entwirft in seinen Büchern eine magische Welt in der Welt - in einer wunderbar poetischen Sprache." - "Zärtlich, sensibel und voll warmem Humor."

Drittens: Rezensenten, die statt mit Argumenten mit Vergleichen operieren. Es handelt sich dabei um eine eher intellektuelle Spezies von Kritikern, welche sich nicht lang bei der Würdigung einzelner Texte aufhalten, sondern gleich zur literarhistorischen Rubrizierung der Autoren übergehn. Dies kann geschehn durch schwerlich widerlegbare Feststellungen wie: "Seit Thomas Mann wurde nicht mehr so elegant erzählt wie bei NN.". - "Seit Hemingway hat man Geschichten von solcher Prägnanz nicht mehr zu lesen bekommen." - "Mit der Detailversessenheit Lichtenbergs, mit der Witterung Canettis für das Uralte im Neuen beobachtet NN die Bereiche, wo Sprache und Seele durcheinanderfluten."

Nichts als flutende Phrasen, fürwahr; und es gibt sie auch in zeitperspektivischer Umkehrung, vorzugsweise als unbedarfte Prognosen: "dieser Autor setzt Maßstäbe für Jahrzehnte", "mit dieser Autorin wird zweifellos zu rechnen sein", "dieses Buch, daran ist nicht zweifeln, wird so leicht keinen Staub ansetzen"; "einer der allerersten Erzähler nicht nur der deutschen, sondern der europäischen Literatur" - doch um solches behaupten zu können, müsste sich der Rezensent vorab in all diesen Literaturen etwas umgesehn haben, was ihn aber vom Schreiben derart erhabener Sätze sicherlich abgehalten hätte.

Viertens gibt es Rezensentinnen, Rezensenten, die sich primär durch eigenwillige Metaphernbildungen auszeichnen; die mit Bildern zu brillieren versuchen, wo klare kritische Begrifflichkeit gefragt wäre. Auch dazu wären Zitate in beliebiger Anzahl beizubringen; es sind Formulierungen, die in Vorschau- und Klappentexten ebenso oft und ebenso regelmässig wiederkehren wie in der Buchkritik: "NN gelingt es, die Welt aus den Angeln zu heben und die freie Sicht auf das Poetische zu öffnen." Wobei freilich unklar bleibt, was nun mit der (welcher?) aus den Angeln gehobnen Welt geschieht und wie sich "das Poetische" in "freier Sicht" präsentieren mag? - Der Film als Metapher für ein zu besprechendes Buch: "Großes Kino! Prädikat 'besonders wertvoll'." Doch wo bleibt die Literatur? Offenbar kann man lesend statt auf die Kinoleinwand auch in den Gewitterhimmel blicken und dabei einen Eindruck wie diesen gewinnen: "NN's Texte haben stets etwas Elektrisches, Flackerndes, wie ein Wetterleuchten, das sich plötzlich verdichtet und blitzartig den Raum erhellt."

Und so hat man denn auch das Gelesne ohne jede Anstrengung ganz "plötzlich" begriffen. Wozu also bräuchte man noch die vermittelnde Beihilfe der Literaturkritik? Und wozu überhaupt Literatur, da solche Kritik letztlich auch ohne real existierende Werke auskäme und damit durchaus dem Ideal des SF-Autors Stanislaw Lem entspräche, der als Aufgabe der Literaturkritik nicht die Besprechung, sondern die Erfindung von "Originaltexten" vorsah ...


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Die hauptsächliche kritische Einstellung gilt bei der Rezension dem Verhältnis zwischen Autor und Leserschaft, der Frage nämlich, ob und inwieweit der Autor, die Autorin den Publikumserwartungen, den Trends und Anforderungen des Literaturbetriebs zu entsprechen vermag; das zu begutachtende literarische Werk ist dafür lediglich ein Indikator und wird deshalb, als solches, nur beiläufig wahrgenommen.

Ich verkenne nicht, dass der subjektive Faktor in der Tageskritik seine Berechtigung hat; denn die eigne Leseerfahrung ist als solche naturgemäß nicht falsifizierbar und kann durchaus auch für Außenstehende von Interesse sein - nur sollte sie nicht, in Form von Privatmeinungen und Geschmacksurteilen, als ästhetisches Kriterium zur Umgehung analytischer Anstrengung eingesetzt werden. "Unsre Aktivität", so gibt's der Kritiker Jean Rousset zu bedenken, "gehört zu denen, welche das zugreifende Subjekt schlecht zu trennen wissen vom zu ergreifenden Gegenstand." Objektivität ist demgegenüber nur dann - zumindest in der Annäherung - zu erreichen, wenn der Kritiker, statt von sich als Person auszugehn, vom jeweils vorliegenden "Gegenstand" ausgeht, wobei dessen Eigenart (Konstruktion, Intention usf.) Vorrang haben sollte vor subjektivem Gefallen, Mitgefühl, Ärger und sonstigen Emotionen. "Das Eigenthümliche liegt dabei im Objekt", betont schon Schopenhauer: "Daher das Buch wichtig sein kann, wer auch immer der Verfasser sei." Was an dem zu besprechenden Werk objektiv fassbar ist, sind seine sprachliche Materialität und literarische Machart, deren kritische Bestandsaufnahme das Verständnis, die Würdigung, die Wertung des Werks überhaupt erst ermöglicht.

Gustave Flauberts hochfahrender Hinweis, wonach im Roman "der einfachste Satz für den ganzen Rest unendliche Auswirkung hat", mag zumindest andeuten, welch bestimmende Funktion sprachlichen Formalien in Bezug auf das Textganze zukommt. Solche Formalien sind nicht Karosserie, sie sind Motor des literarischen Gebilds, Motor sowohl für dessen Entstehung wie auch für dessen Rezeption. Allerdings ist dieser Motor - ich bleibe kurz noch bei der Metapher - kein Automat und auch nicht etwas immer schon Vorgegebnes; gegeben sind seine sprachlichen Bauelemente, doch deren Zusammensetzung erfordert ein strukturierendes Bewusstsein, einen kompositorischen Zugriff, ein subtiles Arrangement, das sich seinerseits leiten lässt von der Eigenart und den Eigenschaften der vorhandnen Versatzstücke. Dieses formale Verfahren ist in der Poesie vorab auf der Mikroebene wirksam (Wortlaut, Wortfolge nach klanglichen, rhythmischen Kriterien), während es in der Erzählliteratur eher für die Grobstruktur (Handlungsaufbau, Kapitelfolge, Personenkonstellation) bestimmend wird.

Die Wechselbeziehung zwischen "Form" und "Stoff" kommt in der kritischen Rezeption kaum je adäquat zum Tragen, da das rezensentische Interesse fast durchweg auf den Stoff, den Inhalt, den Problemzusammenhang, die zeitgeschichtliche Aktualität der besprochnen Texte beschränkt bleibt, somit auf außerliterarische Kriterien wie "interessant", "spannend", "lebensnah", "anrührend", "überzeugend" oder eben "wunderbar", "grandios", "hinreißend". Dass das Publikum (um hier nochmals Schopenhauer anzuführen:) "seine Theilnahme sehr viel mehr dem Stoff als der Form" zuwendet, ist ein altbekannte Tatsache; dass aber auch die Kritik "diese Vorliebe für den Stoff im Gegensatz der Form" kultiviert und damit die Literatur als Kunst ihrer wesentlichen Dimension beraubt, ist leider gleichermaßen wahr. Nach Schopenhauer ist die Qualität eines Literaturwerks nicht anhand seines Stoffs zu fassen, vielmehr kommt es dabei auf die "Bearbeitung des Stoffs" an. Die Stoffe, Inhalte Gegenstände eines Werks "können solche sein, welche allen Menschen zugänglich und bekannt sind: aber die Form der Auffassung, das Was des Denkens, ertheilt hier den Werth ... Hieraus folgt, dass das Verdienst eines lesenswerthen Schriftstellers um so grösser ist, je weniger es dem Stoffe verdankt ..."

Diese paar wenigen Hinweise und Fallbeispiele, aufgereiht am Leitfaden Arthur Schopenhauers, können - versteht sich - das fortdauernde Malaise der Literaturkritik in keiner Weise beheben; sie sollen aber, wenn auch vorwiegend ex negativo, einen konstruktiven Impuls dafür geben. Es ist mir klar, dass dieser Impuls merklich verstärkt werden müsste; einerseits durch differenziertere und weiterführende methodologische Anforderungen, anderseits durch Vorschläge zur möglichen Entflechtung von Tageskritik und Verlagswerbung.


Felix Philipp Ingold