Essay

Ratlos: Deutsche Lyrik in der sexuellen Kampfzone

Lesenotizen zur aktuellen deutschen Liebeslyrik Von Felix Philipp Ingold
24.12.2008. Heutige Lyrik ist in Liebesdingen hinter dem Standard heutiger sexueller Normalverbraucher weit zurück, attackiert Tabus, die längst gebrochen sind, und findet keine Sprache für die Geheimnislosigkeit des Pornopanoptikums, das sich im Internet ausbreitet.
Sexy - zu deutsch "geil" - ist derzeit alles, was "Spaß macht" und außerdem materiell "etwas bringt". Sexyness ist folglich auch das, was von aller Werbung unbedingt "herübergebracht" werden muss. Sexy kann, sexy soll eine Waschmaschine ebenso wie ein Sportwagen sein, die jeweils jüngste Duftlinie ebenso wie das jeweils neueste Notebook oder der teuerste Turnschuh. Wer Sex hat, dem bleibt - wie das Wort selbst, auf Einsilbigkeit reduziert, es klar macht - bloß noch ein Stummel von dem, was Sexualität einst gewesen ist und bedeutet hat. War Sexualität über lange Zeiten hin und noch vor einer Generation mit den Registern Spiel, Verführung, Lust, Verschmelzung, Orgasmus dotiert und galt (neben der kreativen Extase) als die einzige naturgemäße Möglichkeit, "außer sich" zu sein, so scheinen heutige Sexteilnehmer eher "in sich" zu gehen, rational und cool sein zu wollen, Risiken und Nebenwirkungen (vorab die Zeugung) zu meiden, möglichst rasch und möglichst unaufwendig zur Sache zu kommen, möglichst wenig Emotionalität zu investieren, mithin das sexuelle Tun nicht mehr vorrangig als wechselseitige sinnliche Erfahrung, sondern als willkürlichen Zeichenaustausch zu begreifen, Sex also konsequent aus der Biosphäre in die Semiosphäre überzuführen.

Der einstmals weltbewegende Slogan "Mein Bauch gehört mir!", vor dreißig-vierzig Jahren bei Frauendemonstrationen hochgemut und trotzig als Emanzipationsdevise proklamiert, nimmt sich heute naiv aus und wirkt fast schon romantisch angesichts der jüngsten Errungenschaften der Fortpflanzungsmedizin. Die wissenschaftlich-technische Instrumentalisierung menschlicher Sexualität reicht von Samenbanken über In-vitro-Befruchtungen bis hin zu postmenstrualen Leihmüttern, sie verhilft libidoschwachen Männern mit Potenzpillen, ebensolchen Frauen mit Testosteronpflastern zum Orgasmus, sie nimmt primäre und sekundäre Geschlechtsorgane in die kosmetische Kur, unterfüttert schlaffe Brüste neu, hübscht ungefällige Schamlippen auf. Cloning und Doping sind zu Spitzentechnologien avanciert, ebenso die Roboter- und Prothesenherstellung, die plastische Chirurgie, nicht zuletzt Telematik und Informatik, die nebst globaler Partnersuche und Dirty-chatting neuerdings - im Virtualbereich des Internet - die Eigenkonstruktion eines Second Life ermöglichen, etwa die Einrichtung imaginärer Harems oder Bordelle, wo ich, ganz "man" geworden, beliebig modellierte Partnerinnen oder Partner zu Sexparties aufbieten kann und wo ich selbst - wie du oder Sie - als Sexuser, Sexteilnehmer, Sexobjekt etc. zugange bin.

Der aktuelle sexuelle Triumph - oder soll man sagen: Trumpf?! - liegt bei Onan, nicht bei Aphrodite. Die zunehmende technologische Vereinnahmung des Körpers verdrängt dessen psychophysische Bedingtheiten und Möglichkeiten (Alterung, Krankheit, Selbst- und Präsenzerfahrung) zugunsten seiner Neuinszenierung als Image (Model, Roboter, Avatar, Sexpuppe, digitaler Golem etc.), drängt ihn also ab in eine Zeichenwelt, die von der sensuell erfahrbaren Wirklichkeit weitgehend getrennt ist.

Wenn nun ein mäßig amüsantes Buch wie Charlotte Roches "Feuchtgebiete", das unter anderem die ganz gewöhnlichen Dreckeffekte sexuellen Tuns und Lassens vor Augen führt, zu einem fulminanten Publikumserfolg werden kann, ist das womöglich ein Beleg dafür, dass die von der Alltagswelt abgehobene, in den aseptischen Raum des www verwiesene Sexualität den viel niedrigeren Ansprüchen körperlichen Begehrens letztlich ebenso wenig genügen kann wie den viel höheren Ansprüchen eines ethisch oder religiös fundierten Erotismus. − In einem elegischen "Prolog mit Vierzig" hat schon vor einigen Jahren der Versdichter Armin Senser die globale Verfügbarkeit, auch die Geheimnislosigkeit und Austauschbarkeit sexueller Angebote wie folgt auf den Punkt gebracht:

2004 ist man, mit allem, was man liebt, kaum mehr allein.
Das liegt auch am Entweder-oder, das den String
und das Kopftuch für dasselbe hält.
Oder anders gesagt: geht man einander nicht an die Wäsche
oder schaut sich nicht in die Augen, ist der Grund entweder
Tabu oder Toleranz, alles andere wäre Ignoranz.


Man möchte, man müsste vermuten, dass die enorme Erweiterung der sexuellen Kampfzone über das Menschenmögliche hinaus in den Raum der Virtualität und Potentialität, in einen Raum somit, der als "possible world" oder "second life" einen eigenen Realitätsstatus gewonnen hat, für die erotische Dichtung zu einer produktiven Herausforderung geworden sei und deren metaphorischen Fundus ebenso bereichert habe wie ihre sprachlichen Ausdrucksformen. Weit gefehlt.

Bei zeitgenössischen, auch jungen und jüngsten Autoren scheint in eroticis alles mehr oder minder beim alten geblieben zu sein - Liebeslexik, Liebesthematik, Liebessymbolik haben sich, abgesehen von der allgemein üblichen angloamerikanischen Imprägnierung des Vokabulars ("one night stand" für "Liebesnacht"), nicht merklich über den dichterischen Status der 1970er Jahre hinaus entwickelt. Das belegt auf eher desolate Weise die Zeitschrift Das Gedicht, die zwischen 2000 und 2007 drei Sonderhefte mit erotischer Poesie herausgebracht und damit das ambivalente Genre "geiler Gedichte" weitläufig dokumentiert hat. Dass "ein gutes erotisches Gedicht geil sein und erregen sollte", wie der begleitende Essay zum ersten dieser Hefte unbedarft postuliert, ist das eine; das andere ist, dass "geile Gedichte", die den Leser, die Leserin - oder eher den Autor, die Autorin? - erregen wollen, erregen sollen, künstlerisch zumeist nichts taugen. Erotische Gedichte, auch schlichte Sexgedichte sind der Erregung nicht vor-, sondern nachgeordnet; sie sind nicht Impuls, sondern Fazit einer Erregung und bilden deren formales, sprachlich verfasstes Äquivalent. Gut ist oder wäre ein erotisches Gedicht dann, wenn es sexuelle Dinge, Vorgänge, Szenen durch verbale Dinge, Vorgänge, Szenen vergegenwärtigen könnte, statt sie bloß - wie auch immer - durch Beschreibung oder Umschreibung darzustellen. Der Dichter Francis Ponge hat dafür den ingeniösen (leider nur en francais funktionierenden) Neologismus "sexprimer" vorgeschlagen, der dartun soll, dass es über Sexualität poetisch so zu handeln gilt, wie Liebe selbst, in ihrem Vollzug, sich ausdrückt - "s'exprimer", d.h. Wörter, Sätze, Verse paaren, durchdringen, reimen, überschreiben, übersetzen sich wechselseitig, "machen Liebe" mit rein sprachlichen Mitteln, finden sich zu hamonischen Klangereignissen zusammen oder konterkarieren einander in wüster Dissonanz.

Die in Das Gedicht erschienene erotische Trilogie bietet eine ganz und gar unkritische, gerade deshalb aber durchaus repräsentative Textauslese, die Triviales und Erhabenes, Ironisches und Polemisches, Gemeines und Feines, Privates und Mythologisches zu einem bunten Strauß mehr oder minder "geiler" Gegenwartsdichtung bündelt. Das hat zumindest den Vorteil, dass so gut wie alle Facetten des Genres - vom anzüglichen Sexgedicht bis zur sublimen erotischen Gedankenlyrik - in den Heften dokumentiert sind und also verglichen werden können. Doch was sich da an zeitgenössischer erotischer Dichtung zum Vergleich anbietet, hätte mehrheitlich auch vor dreißig, vierzig Jahren geschrieben worden sein können. Der tiefgreifende Wandel, den die Sexualität in der alltagsweltlichen Praxis seitdem erfahren hat, und ihre weitreichende Expansion, darüber hinaus, in den virtuellen Raum "möglicher Welten", bleibt in den meisten der hier beigebrachten Texte unberücksichtigt. Also werden, wie eh und je, Liebesglück und Liebeselend evoziert, wird der Geliebte oder die Liebe selbst mit Du angerufen, damit dieses Du mit dem lyrischen Ich zum Wir verschmelzen kann; es wird geworben, geklagt, gewitzelt, gezetert, geblufft, gerechtfertigt, belobigt, verflucht, verführt, gebettelt, provoziert. - Je ein Sexgedicht aus männlicher und weiblicher Produktion sei hier als Beispiel eingerückt. In Raphael Urweiders "Gedichten von der Liebe und der Liederlichkeit" ist, nicht eben hinreißend, unter Dutzenden ähnlicher Lieder auch dieses zu lesen:

du spielst mit dem feuer jana
ich rauche wir schweigen die
zeit eilt nicht jana du schaust
was der rauch macht er hängt
in der küche ich asche es glüht
die spitze sonst ist es dunkel
deine augen blitzen auf wenn
dein daumen das reibrad dreht
die zeit steht still wir sitzen
jana du spielst mit dem feuer


Anderseits hält der Lyrikband "Lichtrisse" (2007) von Christine Langer unterm Titel "K. Nospe" folgendes Idyll bereit.

du schälst
meine größer werdende K.
um die Blätter einzeln zwischen
den Fingerspitzen zu zerreiben

nun ists eine Blüte
du Sklave! kniest davor
und reißt die Schenkel mir noch weiter aus
einander, Blüte!, Mann!, vergeh dich
an ihrem Hals, an mir
im dunklen roten umliegenden gekräuselten nassen Feld


Die Unhaltbarkeit allen sexuellen Begehrens und Tuns ist, zumal in unsern späten Tagen, dadurch bedingt, dass die Demarkationslinien zwischen Weiblich und Männlich (wie auch zwischen Jung und Alt oder Pathologisch und Kriminell) in sexualibus sich weitgehend aufgelöst haben;
dass Tatbestände wie Belästigung, Entführung, Vergewaltigung nicht mehr eindeutig zu bestimmen sind;
dass Telephon- oder Cybersex ebenso wie Homoerotismus, Selbstbefriedigung und Transvestitentum als normale Spielarten sexueller Alltagspraxis gelten;
dass Sexualität nicht mehr nur im Bordell vermarktet wird, sondern auch in der Werbung, in der Schönheitschirurgie, im Wellness- und Kongress-Tourismus, im Sport und - nicht zuletzt! - im Kino.

Die in "Das Gedicht" zu Hunderten versammelten exempla erotica - oszillierend zwischen biedermeierlichem Volksliedton, quasiexpressionistischer Emphase und neudeutscher Kaltschnäuzigkeit - wurden verfasst von Autorinnen, Autoren unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher dichterischer Praxis und Ausrichtung, aber auch, leicht zu erkennen, unterschiedlichen künstlerischen Vermögens. Bei aller Diversität der sprachlichen Artikulation und des poetischen Verfahrens ist den Gedichten doch gemeinsam, dass sie strikt private Liebesfälle oder Sexstands thematisieren;
dass sie Liebe zwar besprechen, nicht aber sprechen lassen;
dass ihr Einzugsbereich über jeweils punktuelle persönliche Erfahrungen nicht hinausgeht;
dass sie auch keinerlei Interesse daran erkennen lassen, das Sprechen, das Schreiben über Liebe und Sexualität im dichterischen Text selbst zu reflektieren.

Dies alles soll hier nicht als Mangel ausgewiesen, es soll lediglich als Beobachtung und selektive Bestandsaufnahme festgehalten werden: So wird heute in deutscher Spache gemeinhin Sex- und Liebeslyrik gemacht - als hätte sich seit der revolutionären Romantik der 1970er Jahre und der nachfolgenden Virtualisierung und Diversifizierung der Sexualdramaturgie nichts geändert. Die Liebe als ewiges Thema scheint sich in der Lyrik auf ewig gleiche Weise niederzuschlagen, bringt jedenfalls nur ausnahmsweise - bei Paul Wühr, bei Friederike Mayröcker - Intonationen zum Tragen, die sich als unverwechselbar behaupten können. Was als einmalig und einzigartig erlebt wird, erweist sich, in Verse gesetzt, zumeist als stereotypisch und entspricht somit eher dem kommunen Wir-Gefühl denn einem individuellen Ich-Gefühl.

Statt in Übereinstimmung − oder in der Auseinandersetzung − mit der völlig neu instrumentalisierten Sexualität auch neue dichterische Artikulationsformen zu entwickeln, ziehen sich nun manche Autorinnen, Autoren auf längst überholte Positionen zurück, um von dorther, aus nostalgischem Abseits, das alte Wahre und das gute Schöne der Liebe gegen deren massenmediale Trivialisierung aufzubieten. Und schon vernimmt man wieder lyrische Belobigungen "echter", "heiler", "intimer" Liebesbeziehungen, d.h. solcher, die in Kontinuität und wechselseitigem Vertrauen, also auch in Wiederholung, in Gewöhnung und gemeinsamem Altern gelebt werden wie zu den besten elterlichen oder großelterlichen Zeiten.

Die Restauration eines konventionellen Lebens- und Liebesmodells soll offenbar das allseits "freie", jedoch wirtschaftlich wie technologisch vereinnahmte "Love-Ding" (Monika Rinck) konterkarieren. "Und was sehen wir?" fragt sich − und sagt uns − Michael Krüger: "Wir sehen nichts Peinliches, kein Liebesrasen und keinen Liebesverrat ... Was wir sehen, ist die Kraft der Verwandlung, die der Liebe innewohnt. Der Dichter kann sich nicht satt sehen an seiner Geliebten, die die Welt für ihn erst eigentlich bewohnbar macht. Wie sie geht, wie sie schaut, wie sie banale, leblose Dinge belebt und bezaubert, wie sie durch ihre Präsenz und Aufmerksamkeit die Welt verwandelt." Wie schön; denn im Angesicht einer solchermaßen belebenden und bezaubernden Geliebten, die ihm die Liebe schlechthin vergegenwärtigt, darf sich ja wohl der Mann als ein gediegener, feinsinniger Macho ihr vorbehaltslos anvertrauen. Wenn gerade Krüger, erfolgreicher Verlagsleiter und vielfach ausgezeichneter Lyriker, dieses Signal setzt (er tut?s mit Hinweis auf die Liebesgedichte seines Kollegen Walter Helmut Fritz, "Herzschlag"), lässt dies fast schon darauf schließen, dass hier − nach der Devise "Fortschritt durch Rückschritt!" − ein entsprechender Trend eingespurt werden soll; und wir, denen die Liebe als "Himmelsmacht" leider abhanden gekommen ist, dürfen uns mit Fritz und Krüger erneut auf "Nichts sonst" verlassen:

Auch nach Jahren
sind wir uns unbekannt.
Deshalb erkennen wir uns.
Deshalb Zärtlichkeit
und ihr Wortlaut.
Deshalb voller Gedächtnis
Hände und Lippen.
Nichts sonst taugt
gegen Tod und Verderben.


Das ist konsensfähig sublimierte Hocherotik - so schön, dass man sie wahrhaben möchte; so gepflegt, als wehte sie zu uns herüber aus den 1950er Jahren; so gut und so wahr, dass sie tatsächlich auch für heutige Autoren beispielhaft sein kann. Hier wird nicht mehr der beiläufige Quickie rapportiert, sondern der gelungene Paarlauf über die Jahre hin:

Acht Jahre zwischen uns und Haut
und Haare, zusehends ergraut,
und dann und wann ein Pyjama.
Acht Jahre und kein Drama.

Acht Jahre. Eine kurze Zeit
für Schildkröten und Astronomen,
aber ein sicheres Geleit
für vergangene Omen.

Acht Jahre im Mittelpunkt,
was war es noch mal?
Irgendwie hat?s gefunkt.
Es war wohl banal.

Und blieb es auch bei acht Jahren,
wüchse aus der Niedergeschlagenheit
von zwei unschuldigen Ovalen
glatt eine Unendlichkeit.


(Armin Senser, "Romanze" aus dem Band "Kalte Kriege")

Das klingt zwar nicht ganz so erhaben wie bei Walter Helmut Fritz, ist aber doch von einer vergleichbaren Grundstimmung getragen, die die Dauer der Liebe ("acht Jahre") vor deren punktuellen Hochzeiten privilegiert. Dies wird bei Senser zusätzlich festgeschrieben durch die gekreuzten und gepaarten Reime (Pyjama::Drama; Niedergeschlagenheit::Unendlichkeit), die abwechselnd für Übereinstimmung oder Differenz stehen, rein lautlich also nachvollziehen, wie Liebe im richtigen Leben erfahren wird. - Man vergleiche damit ein anderes Gedicht, das die Alltäglichkeit der Liebe über eine noch größere Lebensstrecke hin ("vierzehn Jahre") belobigt und sich dadurch dezidiert absetzt von der zeitgenössischen Sexlyrik mit ihrer Fixierung auf kürzeste Akte und ephemere Sensationen.

An jedem Morgen
seit nunmehr über vierzehn Jahren,
da rascheln wir,
sobald wir wach geworden
(noch nicht ganz richtig wach,
nur halb, du weißt schon),
da rascheln wir in unserm Daunenbettversteck
ein wenig wichtig hin und her
[?]
so warm und wärmer, bis es schließlich
am Ende kaum mehr auszuhalten,
dann sind wir beide wach,
so richtig wach, du weißt schon, und
erschrocken ziehst du deine Hand
zurück -
seit nunmehr über vierzehn Jahren
jeden Morgen.

(Matthias Politycki, aus "Jeden Morgen", in "Das Gedicht", XV, 2007)

Im WWW sind zur Zeit ca. 350 Millionen Sexangebote aller Art abrufbar - nur nicht solche, die acht oder gar vierzehn Jahre trauter Zweisamkeit versprechen. Ansonsten aber ist Sex in beliebig vielen Erscheinungsformen, Aktionsarten und Signifikanten pausenlos präsent in heutigen Chatrooms, Schulzimmern, Wellnesszentren, Sportanlagen, Familienherbergen, Castingshows, Misterwahlen, Ratespielen, Werbekampagnen; und.noch nie war Pornographie für ein so breites Publikum so leicht erreichbar - einschlägige Filme, Clips oder Stills gibt es, auch Kindern problemlos zugänglich, im Internet, dazu entsprechende Kontaktmöglichkeiten und konkrete Sexangebote. Sänger wie Bushido oder Sido treten mit härtesten Pornotexten vor jubelnden Fans auf.

Nachdem die großen Liebesmythen verdampft und die kleinen romantischen Bedürfnisse obsolet geworden sind, scheint den Internetsexuser vor allem die Geschlossenheit - bei gleichzeitiger Geheimnislosigkeit - des Pornopanoptikums zu faszinieren, das heißt dessen Anspruch beziehungsweise dessen Angebot, alles zu sein und alles zu zeigen und alles anzubieten. Die deutsche Lyrik hat dafür nur ansatzweise den adäquaten sprachlichen Ausdruck gefunden. Mehrheitlich bleibt sie in Liebesdingen hinter dem Standard heutiger sexueller Normalverbraucher weit zurück, attackiert Tabus, die längst gebrochen sind, führt monologische Reden, die eher Wunschvorstellungen denn Erfahrungen rapportieren und die sprachlich - dichterisch - bei aller Offenheit zumeist im Klischee verharren. Doch eben solche Klischeehaftigkeit wird neuerdings bewusst und gern aufgeboten, um die zunehmende Medialisierung und Kommerzialisierung von Sexualität abzuweisen zugunsten schöner, wahrer, guter Liebe, die den einsamen Quickie transzendiert durch acht, durch vierzehn oder noch mehr Jahre unaufgeregter Zweisamkeit.

Felix Philipp Ingold