Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.07.2002. Rudolf Scharping ist heute der Feuilletonstar. Die SZ fand ihn ideal besetzt. Die FAZ probiert seine Kleider an. Die taz bennent seine Sehnsucht, charmant zu sein. Außerdem: In der SZ spricht Paul Virilio über Fotografie und Krieg. Die FR erklärt, wie ein Aufwindkraftwerk funktioniert. Die FAZ beschreibt die Krise der amerikanischen Museen.

SZ, 19.07.2002

Aus aktuellem Anlass entwirft Willi Winkler das Bild des zeitgemäßen Verteidigungsministers, und siehe da: Es ähnelt Rudolf Scharping. Genau wie der nämlich muss der zeitgemäße Verteidigungsminister entdecken, dass der Krieg zwar der Vater aller Dinge ist, aber irgendwann im Leben eines jeden Mannes der Zeitpunkt für den Vatermord kommt. "Unser Verteidigungsminister ließ also den Krieg einen guten Mann sein und sorgte sich fortan um sich selber, verliebte sich, machte Urlaub, ging einkaufen, hörte Musik und trank Champagner am Strand. Der Mann, erstaunlich genug für einen Sozialdemokraten, hatte etwas gelernt. Der Verteidigungsminister Rudolf Scharping war der beste Verteidigungsminister, den wir je hatten."

Der französische Philosoph Paul Virilio (mehr hier) spricht im SZ-Interview über die Veränderungen unserer Wahrnehmung und der Kunstform Fotografie und über deren Verwandtschaft mit dem Krieg: "Der Krieg ist zuallererst die Organisation eines Wahrnehmungsfeldes ... zielt zunächst auf die Beherrschung des besseren Aussichtspunktes. Angesichts des ausschließlich nur vom Himmel aus mit Flugzeugen und Satelliten geführten Krieges im Kosovo begreift man schnell, in welchem Maße der Krieg ein optisches wie elektronisches Phänomen des Blicks ist."

Dass die deutsche Politik von Würsten geprägt wird, ist nichts Neues, dass unsere Lebensmittel noch nie so sicher waren wie heute, klingt dagegen eher wie Mumpitz. Rainer Erlinger behauptet's dennoch und erinnert u.a. an die Zeiten der Cholera. Dass Hormone, Nitrofen und Co. überhaupt als Skandal empfunden werden, belege vor allem das Gegenteil des öffentlichen Eindrucks. Dies allerdings sage noch nichts aus über die ernährungsphysiologische und geschmackliche Qualität unserer Lebensmittel. Die sei oft tatsächlich erbärmlich.

Weitere Artikel: Ferner dokumentiert der in Wien lebende Schriftsteller Doron Rabinovici, wie die jetzige Regierungskoaltion den Rechtsstaat Österreich Schritt für Schritt zum Rechts-Staat umfunktioniert. Fritz Göttler bedauert, dass die britische Produktionsfirma FilmFour ihre Unabhängigkeit verloren hat, und sieht ein bisschen schwarz fürs europäische Kino. "Skoh" erläutert den Fall eines Corinth-Gemäldes, das derzeit in einer Ausstellung im Kunsthaus der thüringischen Kreisstadt Apolda gezeigt wird und dass die Erben des ehemaligen Besitzers jetzt zurückfordern. Alexander Kissler berichtet, wie der Direktor der Berliner Nationalgalerie das Bonner Haus der Geschichte düpierte. Franziska Augstein besucht das Museum "Historial" im französischen Peronne, das gerade eine internationale Tagung über den Ersten Weltkrieg veranstaltete, und Gustav Seibt deutet den Skandal um die Berliner Bankgesellschafts-Gewinne als Anstoß für eine weitere Entbürgerlichung der Hauptstadt. Von wegen preußische Tugend.

Besprochen werden eine Wiederaufführung der surrealistischen Oper "Julietta" von Bohuslav Martinu bei den Bregenzer Festspielen, die russische Erstaufführung von Alban Bergs Oper "Lulu" in der Helikon-Oper in Moskau, Arnolt Bronnens frühes Stück "Recht auf Jugend" am Mannheimer Nationaltheater, ein Bildband, der auf 45 Jahre Gebrauchsgrafik zurückblickt, Gedichte des Litauers Isachar Falkensohn Behr, Jean Echenoz' Krimi "Die großen Blondinen" sowie ein Buch über das Loch-Ness-Monster "Nessie" (siehe auch unsere Bücherschau um 14 Uhr).

TAZ, 19.07.2002

Die Tagesthemen weinen mit Rudolf Scharping, der doch immer nur für sein Wunschbild in der Öffentlichkeit stritt - und zwar bis zur Demütigung, wie Bettina Gaus in einem Beitrag erklärt: "Scharping sind im Laufe der Jahre viele positive Eigenschaften bescheinigt worden. Verlässlichkeit, Fleiß, die Fähigkeit zur Loyalität, Anstand, Verantwortungsgefühl. Nie aber wurde er als der Mann beschrieben, der er offensichtlich gerne hätte sein wollen: als Charismatiker nämlich, als humorvoll, als elegant, als Charmeur und als Homme a Femmes." Vor diesem Hintergrund, findet Gaus, ist es nur scheinbar eine Ironie, dass der stets als hölzern und bieder beschriebene Minister ausgerechnet über seine Verbindung zu einem PR-Berater gestolpert ist.

Im Kulturteil stellt Katrin Bettina Müller die Alvin Ailey Dance Company vor, die mit afroamerikanischem Tanztheater zwischen Neoklassik und Gospel in Berlins Staatsoper zu sehen war. Thomas Winkler lässt die Rockgiganten Robert Plant (aktuelles Album "Dreamland") und Readymade ("The Feeling Modified") gegeneinander antreten, und Thomas Burkhalter schaut sich um in Libanons Musikszene und stellt fest, dass libanesischer Pop noch standardisierter klingt als sein westliches Äquivalent: "Glaubt man den Musikern, bleiben Meinungs- und Redefreiheit und die Abschaffung der latenten Zensur eine Utopie."

Schließlich noch TOM.

FR, 19.07.2002

Zwei Interviews in der FR. Eins mit dem Bauingenieur Jörg Schlaich (hier), der auf dem demnächst in Berlin stattfindenden 21. Architektur-Weltkongress der Union Internationale des Architects (UIA) sein in Australien auf großes Interesse gestoßenes, folgendermaßen funktionierendes Aufwindkraftwerk vorstellen wird: "Wir bauen ein kreisrundes, flaches Glasdach, mit einem Durchmesser von sieben Kilometern. In dessen Mitte stellen wir einen tausend Meter hohen Turm. Die Luft unter dem Treibhausdach erwärmt sich durch die Sonne, strömt zum Kamin und jagt mit bis zu 60 Stundenkilometern nach oben. Turbinen mit einer Leistung von bis zu 200 Megawatt verwandeln diesen Aufwind in Elektrizität."

Im zweiten Interview verrrät der Hollywood-Regisseur Barry Sonnenfeld ("The Addams Family" und "Men in Black"), warum er am liebsten in der Addams Family aufgewachsen wäre: "Ich liebe Exzentrik. Ich selbst versuche immer das falsche zu sagen. Ich gehe auf die Bühne und sage zum Beispiel das Wort 'Penis', nur um die Leute nervös zu machen. Denn die Welt ist so verklemmt, so ängstlich und so sehr darauf bedacht, das richtige zu tun. Weshalb ich das Gegenteil davon tun muss und nicht in Los Angeles lebe und zu den Studios gehe."

Weitere Artikel: Kerstin Grether staunt über die Renaissance der 80er-Bands DAF und Fehlfarben, die bei den Techno-Kids durchaus ankommt. Andrea Nüsse kommentiert den Boykott des algerischen Rai-Sängers Cheb Khaleds in Jordanien und Libanon. Regina Kreide berichtet vom 15. Weltkongress für Soziologie in Brisbane. Christian Schlüter deutet die Homoehe als ein Begehren auf eine Institution, und "Times mager" schließlich stellt uns ein rotznasiges Rentier namens Rudolf vor: "ein freundliches kleines Huftier, ein bisschen tapsig vielleicht, aber gutwillig."

Besprechungen widmen sich der Ausstellung "Schwarz Rot Gold Glaube Liebe Hoffnung" über Einar Schleef, derzeit zu sehen in der Hannoverschen Kestner-Gesellschaft, sowie einer Schau über Joan Miros Frühwerk im Düsseldorfer museum kunst palast.

NZZ, 19.07.2002

Marc-Christoph Wagner berichtet, dass die liberal-konservative dänische Regierung das ambitionierte Projekt eines Neubaus für das dänische Nationalarchiv kippte, das zum Wahrzeichen von Kopenhagens Orestad werden sollte. Die Architekten Behnisch & Behnisch sollten das Projekt realisieren. "Die Entscheidung kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel und führte zu einer Welle der Kritik."

Weiteres: Joachim Güntner resümiert ein Berliner Forum zur Pisa-Studie. Sieglinde Geisel liefert Impressionen aus einem märkischen Dorf. Urs Schoettli begleitete das Zürcher Ballett nach Tokyo. Besprochen wird Bohuslav Martinus Oper "Juliette" im Bregenzer Festspielhaus.

Auf der Filmseite stellt man das Program des nächsten Festivals von Locarno vor. Andreas Maurer schreibt ein kleines Porträt des Filmemachers Larry Clark und stellt seinen neuen Film "Bully" vor. Ferner bringt man einen Text der Filmwissenschaftlerin Mariann Lewinsky über die verstorbene Filmkritikerin Frieda Grafe. Und Marli Feldvoss bespricht Jacques Rivettes neuen Film "Va Savoir".

FAZ, 19.07.2002

Edo Reents hat jenes Frankfurter Kleidungsgeschäft besucht, wo Verteidigungsminister Rudolf Scharping zu Beginn der Legislaturperiode eingekauft hat: "Im ersten Stock hängen auch jetzt, da der Sommerschlussverkauf mit sogenannten Off-Preisen vorzeitig eingeleitet ist, Sachen, die bei zahlungskräftigen Kunden in einer mit Augenmaß rasch zusammengesuchten Menge - 'Packen Sie alles ein!' - leicht jene 54 885 Mark (inkl. MwSt.) ergeben, die Scharping vor drei Jahren dort in der Tat gelassen hat. Dass der Berater Hunzinger die Rechnung beglichen hat, bestreitet Scharping. Eine andere Frage ist, ob er wohl eine dieser geräumigen Umkleidekabinen aufgesucht und jedes Mal den weißen Vorhang hinter sich zugezogen hat."

Susanne Klingenstein beschreibt die Krise der amerikanischen Kunstmuseen. Reiche Privatleute spendieren immer neue Anbauten. "Weniger begeistert sind sie von der Finanzierung der stetig wachsenden Betriebskosten der Museen, die oft zum Großteil von der öffentlichen Hand getragen werden, und die ist in den letzten Jahren sehr viel knausriger geworden. Diese Diskrepanz hat... zu einem Teufelskreis geführt, der das Wesen des Kunstmuseums grundlegend zu verändern droht. Das vom Publikumserfolg induzierte und von den Aufsichtsräten geförderte Wachstum produziert Mehrkosten, für die das Museum selbst aufkommen muss. Es werden mehr Sonderprogramme und Sonderausstellungen konzipiert, Restaurants, Cafes und Shops eingerichtet, um noch mehr Besucher anzulocken, wobei weitere Mehrkosten entstehen..."

Weiteres: Wolfgang Hilbig eröffnet die Reihe mit Schriftstellerantworten auf Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief (siehe dazu die Einführung in der gestrigen FAZ). Mark Siemons kritisiert die "Initiative Berliner Bankenskandal", die eine Liste der Namen von Fondsinhabern der Berliner Bankgesellschaft veröffentlichte, als öffentliche Bloßstellung. Bahnchef Hartmut Mehdorn antwortet auf den Schriftsteller Burkhard Spinnen, der neulich in der FAZ den Abriss des alten Lehrter Bahnhofs in Berlin bedauerte. Niklas Maak schreibt zum 75. Geburtstag der Weißenhof-Siedlung in Stuttgart. Rolf-Gunter Dienst schreibt zum Tod des Malers Bernd Berner. Jürgen Kaube resümiert das "einhundertsoundsovielte" Podium zu Pisa. Gina Thomas setzt ihre Berichterstattung über die Krise an der English National Opera fort. Robert von Lucius gratuliert dem isländischen Maler Erro zum Siebzigsten. Renate Schostak berichtet, dass die Stadt München dem Medienkunstprojekten ihrer Kulturreferentin Lydia Hartl jetzt zustimmt.

Auf der letzten Seite stellt Monika Osberghaus die deutsche Autorin Cornelia Funke vor, deren Buch "Der Herr der Diebe" in den USA ein ähnlicher Erfolg wie "Harry Potter" vorausgesagt wird. (Ein Blick in den Perlentaucher zeigt übrigens, dass die großen Zeitungen diesen Erfolg nicht erkannt zu haben scheinen: Nur ein kurzes Resümee einer wahrscheinlich sehr kurzen Kritik findet sich dort.) Andreas Rossmann schreibt zum hundertsten Jubiläum des Folkwang-Museums. Und Verena Lueken resümiert die eher maue Reaktion amerikanischer Kritiker auf die documenta 11. Auf der Medienseite erzählt Dirk Schümer erzählt, wie die im Fernsehen übertragene Exhumierung und Neubestattung des holländischen Politikers Pim Fortuyn die niederländische Öffentlichkeit spaltet. Und Marion Aberle stellt eine Sesamstraßen-Puppe vor, die einen HIV-Infizierten darstellt und im südafrikanischen Fernsehen auf die Aids-Problematik hinweisen soll.

Besprochen werden Bohuslav Martinus Oper "Julietta" bei den Bregenzer Festspielen, ein Dokumentarfilm über den New Yorker Dichter Miguel Piñero von Robert Young, ein Berliner Open-air-Konzert der Jazzsängerin Cassandra Wilson, ein Spektakel des Ailey American Dance Theater in Berlin und Bücher, darunter Anthony Levis' bisher nur auf Englisch erschienene Geschichte des europäischen Kontinents (ein historisches Meisterwerk, schwärmt Kurt Flasch) und Erich Auerbachs Dante-Buch.